Urteil des BVerwG vom 22.03.2012

Befristung, Aufenthalt, Öffentliche Sicherheit, Bezirk

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 C 5.11
VG 20 K 73.10
Verkündet
am 22. März 2012
Werner
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 22. März 2012
durch den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Fleuß
für Recht erkannt:
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Verwal-
tungsgerichts Berlin vom 27. Januar 2011 wird zurückge-
wiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Die in der Türkei lebende Klägerin erstrebt die Befristung der Wirkungen ihrer
Abschiebungen aus den Jahren 1988 und 2005, um anschließend ein Visum
zum Familiennachzug zu ihrem in Berlin lebenden Sohn zu erlangen.
Die 1934 geborene Klägerin ist türkische Staatsangehörige. Sie reiste im Okto-
ber 1984 erstmals in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte Asyl.
Im Rahmen des Asylverfahrens wurde sie im Januar 1985 der Stadt S. im
Hochsauerlandkreis (Nordrhein-Westfalen) zugewiesen und nahm dort ihren
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Wohnsitz. Nach Ablehnung ihres Asylantrags wurde sie zur Ausreise aufgefor-
dert, befolgte die Aufforderung jedoch nicht. Daraufhin erhielt sie mehrfach ver-
längerte förmliche Duldungen. Am 30. April 1988 wurde sie auf Veranlassung
des Landrats des beigeladenen Hochsauerlandkreises abgeschoben.
Die Klägerin reiste nach eigenen Angaben im Januar 2005 erneut nach
Deutschland ein und stellte einen weiteren Asylantrag. Am 22. Januar 2005
wurde gegen sie auf Antrag des Beigeladenen, in dessen Bezirk sie sich auf-
hielt, Abschiebungshaft angeordnet. Nachdem der Asylfolgeantrag der Klägerin
abgelehnt worden war, wurde sie auf Betreiben des Landrats des Hochsauer-
landkreises am 13. April 2005 erneut in die Türkei abgeschoben.
Im Februar 2006 beantragte die Klägerin beim Landrat des Hochsauerlandkrei-
ses, die Wirkung ihrer Abschiebungen von 1988 und 2005 mit sofortiger Wir-
kung zu befristen. Sie führte dazu aus, sie leide an altersbedingten Krankheiten
und vertraue darauf, die notwendige Lebenshilfe bei ihrem in Berlin lebenden
Sohn erlangen zu können. Mit der Aufhebung der Sperrwirkung solle eine der
Voraussetzung dafür geschaffen werden, dass ein Visum zum Familiennachzug
erwirkt werden könne.
Der Landrat des Hochsauerlandkreises befristete die Wirkung der Abschiebun-
gen mit Bescheid vom 3. April 2006 auf den 30. April 2010. Der Widerspruch
der Klägerin wurde zurückgewiesen. Die dagegen vor dem Verwaltungsgericht
Arnsberg erhobene Klage wurde im April 2008 im Wesentlichen mit der Be-
gründung abgewiesen, der Landrat des Hochsauerlandkreises sei im Hinblick
auf die begehrte Befristungsentscheidung nicht passiv legitimiert. Nach § 4
Abs. 1 des Ordnungsbehördengesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen (OBG
NRW) sei diejenige Ausländerbehörde örtlich zuständig, in deren Bezirk die zu
schützenden Interessen verletzt oder gefährdet werden. Dies sei dort der Fall,
wo der Ausländer sich aufhalte beziehungsweise aufhalten wolle. Im Fall der
Klägerin sei daher das Land Berlin zuständig, da sie hinreichend konkret beab-
sichtige, ihren künftigen Aufenthalt bei ihrem Sohn in Berlin zu nehmen. Im
Rahmen des Verfahrens auf Zulassung der Berufung wurde auf Vorschlag des
Oberverwaltungsgerichts Münster der Befristungsbescheid vom 3. April 2006
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aufgehoben. Daraufhin erklärten die Beteiligten den Rechtsstreit in der Haupt-
sache für erledigt. In dem Einstellungsbeschluss erlegte das Oberverwaltungs-
gericht der Klägerin die Kosten des Verfahrens auf und bezog sich zur Begrün-
dung u.a. auf seine Rechtsprechung, wonach für die Befristungsentscheidung
die Ausländerbehörde örtlich zuständig sei, in deren Bezirk sich der Ausländer
nach seiner Einreise begeben wolle (Beschluss vom 11. März 2008 - 18 B
210/08 - InfAuslR 2008, 250).
Die Klägerin beantragte daraufhin im Dezember 2009 bei der Ausländerbehör-
de des beklagten Landes Berlin, die Wirkungen der Abschiebungen von 1998
und 2005 mit sofortiger Wirkung zu befristen. Dabei gab sie an, dass sie beab-
sichtige, nach der Befristungsentscheidung ein Visum für den Nachzug zu ih-
rem in Berlin lebenden Sohn zu beantragen. Die Ausländerbehörde des Beklag-
ten teilte der Klägerin mit, dass sie sich für die Bescheidung des Befristungsbe-
gehrens als nicht zuständig ansehe und den Antrag daher an die zuständige
Ausländerbehörde des Hochsauerlandkreises abgegeben habe. Der Landrat
des Hochsauerlandkreises setzte die Ausländerbehörde des Beklagten im Fe-
bruar 2010 darüber in Kenntnis, dass nach seiner Auffassung nicht er, sondern
der Beklagte für die Befristungsentscheidung zuständig sei, und erteilte zu-
gleich sein Einvernehmen mit einer Entscheidung des Beklagten.
Im März 2010 hat die Klägerin Untätigkeitsklage beim Verwaltungsgericht Berlin
erhoben, mit der sie die Verpflichtung des Beklagten zur sofortigen Befristung
der Wirkungen der Abschiebungen von 1988 und 2005 begehrt. Das Verwal-
tungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 27. Januar 2011 abgewiesen. Es hat
seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet: Die Klägerin habe
keinen Befristungsanspruch gegen den Beklagten, weil dieser nicht sachent-
scheidungsbefugt sei. Das Land Nordrhein-Westfalen dürfe Regelungen nur zur
landesinternen örtlichen Zuständigkeit treffen, nicht aber die Zuständigkeit der
Behörde eines anderen Bundeslandes anordnen. Enthalte das Bundesrecht,
wie hier, keine ausdrückliche Regelung zu der Frage, welche Behörde in wel-
chem Bundesland zuständig sei, müsse diese Frage aus dem materiellen Bun-
desrecht beantwortet werden. Aus den insofern maßgeblichen Regelungen des
Aufenthaltsgesetzes ergebe sich, dass für die Entscheidung über die Befristung
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der Wirkungen einer Abschiebung regelmäßig - und so auch hier - allein dieje-
nige Behörde sachentscheidungsbefugt sei, die die Abschiebung veranlasst
habe. Denn diese habe durch die Veranlassung der Abschiebung die alleinige
Regelungsbefugnis in Bezug auf die Wirkungen der Abschiebung erlangt. § 11
Abs. 1 AufenthG regele als grundsätzliche Wirkung jeder Abschiebung, dass sie
die Einreise des abgeschobenen Ausländers dauerhaft verhindere. Die Befris-
tung stelle eine Beschränkung der Wirkungen der Abschiebung dar. Diese Be-
schränkung habe stets durch die Behörde zu erfolgen, die die Abschiebung
veranlasst habe. Werde eine Beschränkung nachträglich verfügt, handele es
sich materiell um eine teilweise Aufhebung (Rücknahme, Widerruf) der ur-
sprünglichen Abschiebungsentscheidung. Für Rücknahme und Widerruf gelte
der bundesrechtliche Grundsatz, dass sie nur diejenige Behörde verfügen dür-
fe, die die zurückzunehmende oder zu widerrufende Entscheidung erlassen
habe. Dies sei nur anders, wenn Bundesrecht ausdrücklich die Sachentschei-
dungskompetenz einer anderen Behörde zuweise, was im Falle der nachträgli-
chen Befristung der Ausweisung nicht der Fall sei.
Das Verwaltungsgericht hat die Sprungrevision gegen sein Urteil zugelassen,
die von der Klägerin mit Zustimmung des Beklagten eingelegt worden ist. Die
Revision beruft sich darauf, dass der Bund keine verbindliche Regelung der
Zuständigkeit treffen könne. Eine hierfür früher bestehende Kompetenz sei
durch das Zuwanderungsgesetz entfallen. Aus Regelungen des Verwaltungs-
verfahrensgesetzes könne eine Zuständigkeit der die Abschiebung verfügenden
Behörde ebenfalls nicht abgeleitet werden. Dass für die nachträgliche Befris-
tung die Zuständigkeit einer anderen Behörde begründet sein könne, folge auch
aus § 72 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, wonach die Ausgangsbehörde bei einer Ent-
scheidung der infolge Ortswechsels nunmehr zuständigen Ausländerbehörde
zu beteiligen sei. Eine Zuständigkeit des Beklagten ergebe sich aus dem für
den Bereich der Gefahrenabwehr geltenden Grundsatz, dass die Behörde zu-
ständig sei, in deren Bereich sich die dem Ausländer zugeschriebene Gefahr
potentiell realisiere. Das sei im Fall der angestrebten Einreise aus dem Ausland
das Land Berlin, da die Klägerin dort ihren Wohnsitz nehmen wolle.
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Der Beklagte verteidigt das angegriffene Urteil. Im Übrigen vertritt er die Auffas-
sung, dass sich die örtliche Zuständigkeit nach den in § 3 VwVfG festgelegten
Grundsätzen bestimme. Danach sei gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 3a VwVfG der Hoch-
sauerlandkreis örtlich zuständig, weil die Klägerin in dessen Bezirk ihren letzten
gewöhnlichen Aufenthalt gehabt habe. Der Vertreter des Bundesinteresses
beim Bundesverwaltungsgericht hat sich an dem Verfahren beteiligt und
schließt sich im Wesentlichen der Rechtsauffassung des Beklagten an.
II
Der Senat konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Klägerin, des Beigela-
denen und des Vertreters des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsge-
richt verhandeln und entscheiden, da diese in der Ladung darauf hingewiesen
worden sind (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die Revision der Klägerin ist zulässig, aber nicht begründet. Das Verwaltungs-
gericht hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass die Klägerin ihren Anspruch
auf die Befristung der Wirkungen der in den Jahren 1988 und 2005 verfügten
Abschiebungen nicht gegenüber dem beklagten Land Berlin geltend machen
kann, weil dieses für die Befristungsentscheidung nicht zuständig ist.
Maßgebend für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei aufenthalts-
rechtlichen Verpflichtungsklagen grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündli-
chen Verhandlung oder der Entscheidung in der Tatsacheninstanz (hier:
27. Januar 2011). Rechtsänderungen während des Revisionsverfahrens sind
nach der Rechtsprechung des Senats allerdings zu beachten, wenn das Tatsa-
chengericht - entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - sie zu
berücksichtigen hätte (stRspr, vgl. Urteil vom 11. Januar 2011 - BVerwG 1 C
1.10 - BVerwGE 138, 371 Rn. 10 m.w.N.). Maßgebliche Rechtsgrundlage für
die erstrebte Befristung der Wirkungen der Abschiebungen von 1988 und 2005
ist daher das Aufenthaltsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom
25. Februar 2008 (BGBl I S. 162), zuletzt geändert durch Gesetz vom
20. Dezember 2011 (BGBl I S. 2854). Damit sind insbesondere auch die Ände-
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rungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der
Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den
EU-Visakodex vom 22. November 2011 (BGBl I S. 2258) - im Folgenden: Richt-
linienumsetzungsgesetz 2011 - zu beachten.
Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG haben die 1988 und 2005 durchgeführten
Abschiebungen der Klägerin zur Folge, dass sie nicht erneut in das Bundesge-
biet einreisen und sich hier aufhalten darf. Ihr darf nach Satz 2 der Vorschrift
auch kein Aufenthaltstitel erteilt werden. Nach Satz 3 sind die Wirkungen der
Abschiebungen aber auf Antrag, wie er hier gestellt wurde, zu befristen. Die
Frist ist nach Satz 4 unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls fest-
zusetzen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund
einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm
eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung aus-
geht. Da die Klägerin nicht aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausge-
wiesen wurde und Anhaltspunkte für eine von der Klägerin ausgehende
schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung weder vor-
getragen noch ersichtlich sind, dürften nach dem mittlerweile erfolgten Ablauf
der Fünfjahresfrist die materiellen Voraussetzungen für die Befristung der Wir-
kungen der Abschiebungen vorliegen. Allerdings ist das Verwaltungsgericht
zutreffend zu dem Ergebnis gekommen, dass die Entscheidung über das Befris-
tungsbegehren nicht in der Kompetenz des beklagten Landes Berlin liegt.
1. Dass der Beklagte für die erstrebte Befristung nach § 11 Abs. 1 Satz 3
AufenthG nicht zuständig ist, ergibt sich allerdings nicht aus dem vom Verwal-
tungsgericht angenommenen Grundsatz, dass die Behörde, die die Abschie-
bung verfügt hat, stets auch für die Befristung ihrer Wirkungen zuständig sei.
Ein solcher Grundsatz lässt sich weder dem Aufenthaltsgesetz noch dem all-
gemeinen Verwaltungsverfahrensrecht entnehmen.
Das Aufenthaltsgesetz trifft in § 71 AufenthG nur eine Regelung über die sachli-
che Zuständigkeit. Danach sind die Ausländerbehörden für aufenthaltsrechtli-
che Entscheidungen nach diesem Gesetz - und somit auch für die Befristung
nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG - zuständig. Anders als das Ausländergesetz
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1965 regelt das Aufenthaltsgesetz jedoch - von wenigen Einzelfällen abgese-
hen (vgl. etwa § 51 Abs. 2 Satz 3 AufenthG) - nicht die örtliche Zuständigkeit
der zur Entscheidung berufenen Ausländerbehörde. Damit besteht für die nach-
trägliche Befristung der Wirkungen einer Ausweisung oder Abschiebung sowie
deren nachträgliche Änderung auch nicht mehr die noch in § 15 Abs. 1 Satz 3
AuslG 1965 geregelte Annexkompetenz der Behörde, die den Ausländer aus-
gewiesen oder abgeschoben hat. Vielmehr berücksichtigt das Aufenthaltsge-
setz - wie zuvor schon das Ausländergesetz 1990 - mit Rücksicht auf die Kom-
petenz der Länder zur eigenverantwortlichen Ausführung von Bundesgesetzen
nach Art. 83 GG den Grundsatz, dass die Regelung der örtlichen Zuständigkeit
der Ausländerbehörden grundsätzlich Sache der Länder ist (Art. 84 Abs. 1
Satz 1 GG; vgl. die Gesetzesbegründung zu § 63 AuslG 1990, der Vorläufer-
vorschrift von § 71 AufenthG, in BTDrucks 11/6321 S. 78). Eine Annexkompe-
tenz ist im Aufenthaltsgesetz aufgrund ausdrücklicher Regelung nur aus-
nahmsweise für die Zurückschiebungen an der Grenze durch die Grenzschutz-
behörden vorgesehen (§ 71 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG).
Entgegen der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts ergibt sich eine An-
nexkompetenz der den Bescheid erlassenden Ausgangsbehörde für nachträgli-
che Befristungsentscheidungen auch nicht aus einem angeblich dem Verwal-
tungsverfahrensgesetz zu entnehmenden Grundsatz, demzufolge für nachträg-
liche Beschränkungen eines Verwaltungsaktes - wie etwa Rücknahme und Wi-
derruf - grundsätzlich die Ausgangsbehörde zuständig bleibe. Zum einen ist für
Rücknahme und Widerruf nach den Verwaltungsverfahrensgesetzen des Bun-
des und der Länder gerade nicht die Ausgangsbehörde, sondern die nach § 3
VwVfG zu bestimmende Behörde zuständig, auch wenn der aufzuhebende
Verwaltungsakt von einer anderen Behörde erlassen worden ist (vgl. § 48
Abs. 5 und § 49 Abs. 5 VwVfG). Zum anderen ist die Befristung der gesetzli-
chen Wirkungen einer Abschiebung gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG nicht
mit der (Teil-)Aufhebung eines Verwaltungsakts vergleichbar. Ebenso wenig
kann sie, wie das Verwaltungsgericht meint, als Nebenbestimmung der Ab-
schiebung angesehen und den Regeln des § 36 VwVfG unterworfen werden.
Schließlich spricht die Beteiligungsregelung des § 72 Abs. 3 AufenthG gegen
eine Annexkompetenz. Nach § 72 Abs. 3 Satz 1 AufenthG dürfen u.a. Befris-
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tungen nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG von einer anderen Behörde nur im
Einvernehmen mit der Behörde geändert oder aufgehoben werden, die die
Maßnahme angeordnet hat. Diese Regelung bezieht sich nicht nur auf die Än-
derung einer bereits verfügten Befristung, sondern erfasst nach ihrem Sinn und
Zweck auch die erstmalige Befristungsentscheidung nach § 11 Abs. 1 Satz 3
AufenthG (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand August 2008, § 72 AufenthG
Rn. 11; zur Vorgängervorschrift des § 64 Abs. 2 AuslG 1990 auch VGH Kassel,
Urteil vom 28. Oktober 1996 - 12 UE 628/96 - DVBl 1997, 913). Das Aufent-
haltsgesetz geht demzufolge davon aus, dass die Zuständigkeit für die Verfü-
gung der Ausweisung oder Abschiebung und für die Befristung ihrer Wirkungen
nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG auseinanderfallen kann, und sieht für diese
Fälle ein Einvernehmenserfordernis vor.
2. Dass im vorliegenden Fall die Ausländerbehörde der Beklagten für die be-
gehrte Befristungsentscheidung nicht zuständig ist, ergibt sich vielmehr aus fol-
genden Erwägungen. Die für das Befristungsbegehren zuständige Behörde ist
in zwei Schritten zu bestimmen. In einem ersten Schritt ist festzustellen, wel-
ches Bundesland die Verbandskompetenz zur Sachentscheidung besitzt. Diese
Frage ist - wenn keine speziellen koordinierten landesrechtlichen Kompetenz-
regelungen vorliegen - durch entsprechende Anwendung der mit § 3 VwVfG
übereinstimmenden Regelungen über die örtliche Zuständigkeit in den Verwal-
tungsverfahrensgesetzen der Länder zu beantworten. In einem zweiten Schritt
ist auf der Grundlage des Landesrechts des zur Sachentscheidung befugten
Bundeslandes zu ermitteln, welche Behörde innerhalb des Landes örtlich zu-
ständig ist.
§ 3 Abs. 1 VwVfG regelt ebenso wie die gleichlautenden Bestimmungen in den
Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder die örtliche Zuständigkeit der Be-
hörden, soweit diese im Bereich des öffentlichen Rechts zur Erfüllung öffentli-
cher Aufgaben tätig werden (§ 1 VwVfG). Während die örtliche Zuständigkeit
die Frage betrifft, welche von mehreren sachlich zuständigen Behörden dessel-
ben Verwaltungsträgers ein Verfahren durchzuführen hat, dient die Verbands-
kompetenz der Zuweisung von Aufgaben an einen bestimmten Verwaltungsträ-
ger sowie der Aufgabenabgrenzung zwischen verschiedenen selbstständigen
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Verwaltungsträgern und damit der Sicherung der Verwaltungshoheit des Bun-
des, der Länder, der Kommunen sowie sonstiger juristischer Personen des öf-
fentlichen Rechts (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 12. Aufl. 2011, § 3 Rn. 6;
Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht II, 7. Aufl. 2010, § 82 Rn. 80 ff.;
Oldiges, DÖV 1989, 873 ff.; zur Verbandskompetenz im Ausländerecht vgl. im
Übrigen auch Urteil vom 10. Dezember 1996 - BVerwG 1 C 19.94 - Buchholz
402.240 § 5 AuslG 1990 Nr. 1 S. 2 f.). Führen die Länder Bundesgesetze als
eigene Angelegenheit aus, wie das beim Vollzug des Aufenthaltsgesetzes der
Fall ist, so regeln sie gemäß Art. 84 Abs. 1 Satz 1 GG grundsätzlich die Einrich-
tung der Behörden, d.h. den Ländern in ihrer Gesamtheit obliegt die Bestim-
mung der Verbandskompetenz und dem einzelnen Bundesland im Rahmen sei-
ner Kompetenz die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit. Allerdings verlangt
Bundesrecht, dass durch eine koordinierte Regelung der Länder, hilfsweise
durch eine Regelung des Bundes, bestimmt ist, welches Land zur Ausführung
der konkreten Aufgabe - hier: Befristung der Wirkungen einer Abschiebung -
berechtigt und verpflichtet ist. Das gebietet zum einen das Rechtsstaatsprinzip,
da der von einer gesetzlichen Regelung Betroffene seine Rechte nicht verfolgen
kann, wenn nicht feststeht, an welche Behörde er sich hierfür zu wenden hat.
Das erfordert aber auch die grundgesetzliche Verteilung der Verwaltungskom-
petenzen innerhalb des föderal gegliederten Staatsverbandes der Bundesrepu-
blik Deutschland. Danach sind die Verbandskompetenzen der Länder nach dem
Territorialprinzip voneinander abgegrenzt und die Hoheitsbefugnisse der ein-
zelnen Bundesländer grundsätzlich auf das Gebiet innerhalb ihrer jeweiligen
Landesgrenzen beschränkt (vgl. Oldiges, DÖV 1989, 873 <877 f.>). Zugleich
ergibt sich aus Art. 84 Abs. 1 GG die Verpflichtung des Landes, dem die Ver-
bandskompetenz zur Ausführung eines Bundesgesetzes für einen bestimmten
Personenkreis zugewiesen wurde, diese Aufgabe auch tatsächlich wahrzuneh-
men.
Fehlen - wie hier - spezielle koordinierte landesrechtliche Zuweisungsregelun-
gen zur Verwaltungskompetenz, ergibt sich ein aufeinander abgestimmtes Sys-
tem im Wege der entsprechenden Anwendung der zur örtlichen Zuständigkeit
getroffenen Regelungen in den Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder, die
insoweit inhaltsgleich sind und - sei es durch Verweisung auf das Verwaltungs-
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verfahrensgesetz des Bundes (wie in § 1 Abs. 1 LVwVfG Berlin), sei es durch
gleichlautende Formulierungen jeweils in § 3 LVwVfG bzw. § 31 LVwVfG
Schleswig Holstein - mit § 3 VwVfG übereinstimmen. Diese Regelungen finden
daher entsprechende Anwendung, wenn das für die Ausführung einer bundes-
rechtlich begründeten Aufgabe zuständige Land auf andere Weise nicht zu er-
mitteln ist. Nicht maßgeblich für die Bestimmung der Verbandskompetenz sind
hingegen landesrechtliche Vorschriften, die der koordinierten Regelung aller
Länder in Gestalt der genannten übereinstimmenden Bestimmungen zur örtli-
chen Zuständigkeit nicht entsprechen. Entgegen der Rechtsauffassung des
Verwaltungsgerichts Arnsberg in seinem gegen die Klägerin ergangenen Urteil
vom 15. April 2008 und des Oberverwaltungsgerichts Münster in seinem Be-
schluss vom 11. März 2008 (18 B 210/08 - InfAuslR 2008, 250) kann daher aus
§ 4 Abs. 1 OBG NRW eine länderübergreifende Zuständigkeitsregelung nicht
abgeleitet werden. Für eine einseitige länderübergreifende abdrängende Zu-
ständigkeitsregelung (hier: zu Lasten des Landes Berlin) fehlt dem Land Nord-
rhein-Westfalen die Verbandskompetenz (vgl. Oldiges, a.a.O. S. 878; zur Mög-
lichkeit der Verletzung der Verbandskompetenz durch Übergriff in einen frem-
den Zuständigkeitsbereich bei der Ausführung von Bundesgesetzen vgl. auch
OVG Münster, Urteil vom 3. Oktober 1978 - XV A 1927/75 - NJW 1979, 1057,
1058).
Aus der entsprechenden Anwendung der mit § 3 Abs. 1 Nr. 3a VwVfG des
Bundes übereinstimmenden Regelungen in den Verwaltungsverfahrensgeset-
zen der Länder ergibt sich, dass die Ausländerbehörden des Landes Nordrhein-
Westfalen für die Bescheidung des Befristungsbegehrens der Klägerin zustän-
dig sind. Nach dieser Vorschrift ist in Angelegenheiten, die eine natürliche Per-
son betreffen, die Behörde zuständig, in deren Bezirk die natürliche Person ih-
ren gewöhnlichen Aufenthalt hat oder zuletzt hatte. Die Klägerin, die derzeit in
der Türkei lebt, hatte ihren letzten gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland im
Zuständigkeitsbereich des beigeladenen Hochsauerlandkreises in Nordrhein-
Westfalen. Sie hat dort vor ihrer Abschiebung im Jahr 1988 seit 1985 gewohnt
und damit ihren gewöhnlichen Aufenthalt gehabt. Durch ihre rund dreimonatige
Anwesenheit in Deutschland im Jahr 2005 hat die Klägerin keinen erneuten
gewöhnlichen Aufenthalt begründet, da sie diese Zeit überwiegend in Abschie-
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bungshaft verbrachte. Durch die Abschiebungshaft wird aber kein gewöhnlicher
Aufenthalt begründet, da diese
nach Zweck und gesetzlicher Ausgestaltung vo-
rübergehender Natur ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. Juli 2011 - 2 BvR
742/10 - NVwZ 2011, 1254 <1256>).
Der aus dem letzten gewöhnlichen Aufenthalt der Klägerin folgenden Zustän-
digkeit des Landes Nordrhein-Westfalen steht nicht entgegen, dass die Klägerin
inzwischen ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Türkei hat. Denn der Rechts-
gedanke, der der Regelung des § 3 Abs. 1 Nr. 3a VwVfG mit der Anknüpfung
der Zuständigkeit an den letzten gewöhnlichen Aufenthalt zugrunde liegt,
kommt auch in diesen Fällen zum Tragen. Anders als bei der Verlagerung des
gewöhnlichen Aufenthalts innerhalb des Bundesgebiets führt die Verlagerung
des gewöhnlichen Aufenthalts in das Ausland nicht zur Zuständigkeit einer an-
deren, nunmehr sachnäheren Ausländerbehörde. Es sind keine Gründe dafür
ersichtlich, warum die Zuständigkeit der Behörde des letzten gewöhnlichen
Aufenthalts nach § 3 Abs. 1 Nr. 3a VwVfG mit der - möglicherweise nur schwer
zu ermittelnden - Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts im Ausland ent-
fallen sollte. Die Zuständigkeit nach dem letzten gewöhnlichen Aufenthalt (im
Bundesgebiet) besteht daher auch dann fort, wenn der Ausländer seinen ge-
wöhnlichen Aufenthalt nunmehr im Ausland genommen hat. Ein Rückgriff auf
die Auffangzuständigkeit nach § 3 Abs. 1 Nr. 4 VwVfG, der voraussetzt, dass
sich die Zuständigkeit nicht aus den Nummern 1 bis 3 ergibt, kommt deshalb
nur in Betracht, wenn der Ausländer über einen gewöhnlichen Aufenthalt im
Inland weder derzeit verfügt noch in der Vergangenheit verfügt hat (so auch
Dienelt, in: Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl. 2011, § 71 AufenthG Rn. 5;
Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG 7. Aufl. 2008, § 3 Rn. 25; a.A. Kopp/Ramsauer,
VwVfG 12. Aufl. 2011, § 3 Rn. 28). Nur ergänzend weist der Senat darauf hin,
dass sich in Fällen, in denen der Ausländer keinen gewöhnlichen Aufenthalt im
Bundesgebiet hatte, die Zuständigkeit der die Abschiebung veranlassenden
Behörde für die nachträgliche Befristung ihrer Wirkungen aus § 3 Abs. 1 Nr. 4
VwVfG ergeben dürfte, da der Anlass für das Befristungsbegehren in der von
dieser Behörde verfügten Abschiebung liegt.
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Ergibt sich aus einer entsprechenden Anwendung der mit § 3 Abs. 1 Nr. 3a
VwVfG übereinstimmenden Regelungen in den Verwaltungsverfahrensgesetzen
der Länder, dass die Behörden des Landes Nordrhein-Westfalen für die Be-
scheidung des Befristungsbegehrens der Klägerin zuständig sind, hat das Ver-
waltungsgericht im Ergebnis zu Recht eine Sachentscheidungsbefugnis der
Ausländerbehörde des Landes Berlin verneint.
Der Senat weist allerdings darauf hin, dass sich die Frage, welche Behörde in-
nerhalb des Landes Nordrhein-Westfalen für die Bescheidung des Befristungs-
begehrens im vorliegenden Fall örtlich zuständig ist, allein nach dem Recht des
Landes Nordrhein-Westfalen bestimmt. Wenn keine landesrechtliche Spezial-
vorschrift eingreift, wäre nach der in § 3 Abs. 1 Nr. 3a LVwVfG Nordrhein-
Westfalen (GV NRW 1999, 602) getroffenen Regelung, die einer Auslegung
durch das Bundesverwaltungsgericht zugänglich ist (§ 137 Abs. 1 Nr. 2 VwGO),
der Landrat des Hochsauerlandkreises zuständig.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Der Beigeladene hat
seine außergerichtlichen Kosten selbst zu tragen (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Prof. Dr. Dörig
Beck
Prof. Dr. Kraft
Fricke
Dr. Fleuß
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 5 000 €
festgesetzt (§ 47 Abs. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG).
Prof. Dr. Dörig
Beck
Prof. Dr. Kraft
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Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
Ausländerrecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquellen:
AufenthG
§ 11 Abs. 1, § 71 Abs. 1, § 72 Abs. 3
AuslG 1965
§ 15
GG
Art. 83, 84 Abs. 1
VwVfG
§ 3 Abs. 1 Nr. 3a, Nr. 4, §§ 36, 48 Abs. 5, § 49 Abs. 5
OBG NRW
§ 4 Abs. 1
Stichworte:
Sperrwirkung der Abschiebung; nachträgliche Befristung der Sperrwirkung; Ver-
bandskompetenz; örtliche Zuständigkeit; Annexzuständigkeit; Ausführung von
Bundesrecht durch die Länder; gewöhnlicher Aufenthalt; Aufenthalt des Aus-
länders im Ausland.
Leitsätze:
1. Eine Annexzuständigkeit der eine Abschiebung anordnenden Ausländerbe-
hörde für eine spätere Entscheidung über die Befristung ihrer Wirkungen nach
§ 11 Abs. 1 AufenthG besteht nicht.
2. Für die Entscheidung über einen Antrag auf Befristung der Wirkungen einer
Abschiebung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG sind grundsätzlich die Auslän-
derbehörden des Bundeslandes zuständig, in dem der Ausländer seinen ge-
wöhnlichen Aufenthalt hat oder zuletzt hatte (entsprechende Anwendung der
mit § 3 Abs. 1 Nr. 3a VwVfG des Bundes übereinstimmenden Regelungen in
den Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder). Die Zuständigkeit nach dem
letzten gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet besteht auch dann fort, wenn
der Ausländer seinen gewöhnlichen Aufenthalt nunmehr im Ausland genommen
hat.
Urteil des 1. Senats vom 22. März 2012 - BVerwG 1 C 5.11
I. VG Berlin vom 27.01.2011 - Az.: VG 20 K 73.10 -