Urteil des BVerwG vom 21.11.2006

Bundesamt, Asylverfahren, Geburt, Verzicht

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
Verkündet
BVerwG 1 C 5.06
am 21. November 2006
OVG 3 B 35.05
von Förster
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 21. November 2006
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann, Hund, Richter und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des
Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom
1. Februar 2006 und des Verwaltungsgerichts Berlin vom
21. Juni 2005 geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens in allen
Rechtszügen.
G r ü n d e :
I
Die Klägerin und der Kläger sind die in den Jahren 2000 und 2001 in Berlin ge-
borenen Kinder eines Libanesen und einer Palästinenserin ungeklärter Staats-
angehörigkeit aus dem Libanon. Sie wenden sich gegen die behördliche Einlei-
tung eines Asylverfahrens nach § 14a Abs. 2 AsylVfG und begehren die Aufhe-
bung des danach ergangenen negativen Bescheids des Bundesamts für Migra-
tion und Flüchtlinge (Bundesamt).
Die Eltern der Kläger sind ehemalige Asylbewerber, die erfolglos Asylverfahren
betrieben haben. Der Asylantrag des Vaters wurde mit bestandskräftigem Be-
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scheid des Bundesamts vom 26. August 1992 abgelehnt. Ein Folgeantrag des
Vaters wurde mit Bescheid vom 26. August 1993 als unbeachtlich abgelehnt.
Der Vater nahm seine hiergegen erhobene Klage im Jahr 2001 zurück. Den
Asylantrag der Mutter lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 12. September
1994 als offensichtlich unbegründet ab. Die hiergegen erhobene Klage wurde
gleichfalls im Jahr 2001 zurückgenommen. Die Eltern der Kläger sind wegen
Passlosigkeit geduldet.
Mit Schreiben vom 10. Januar 2005 zeigte die Ausländerbehörde dem Bundes-
amt die Geburt der Kläger gemäß § 14a Abs. 2 AsylVfG an. Das Bundesamt
leitete daraufhin ein Asylverfahren ein. Mit dem angegriffenen Bescheid vom
8. April 2005 lehnte es die nach § 14a Abs. 2 AsylVfG als gestellt geltenden An-
träge auf Anerkennung als Asylberechtigte ab (Nr. 1). Gleichzeitig stellte es
fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (Nr. 2) und Abschie-
bungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 3). Außer-
dem drohte das Bundesamt den Klägern für den Fall der nicht fristgerechten
Ausreise innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung die Ab-
schiebung in den Libanon an (Nr. 4).
Hiergegen haben die Kläger Klage erhoben. Sie haben u.a. vorgetragen, dass
sie Asylgründe oder Abschiebungshindernisse nicht geltend machen wollen. Es
gehe ihnen vielmehr darum, nicht gegen ihren Willen in ein Asylverfahren ge-
zwungen zu werden. Das Verwaltungsgericht hat der Klage stattgegeben. Mit
Urteil vom 1. Februar 2006 hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
die Berufung des Bundesamts gegen dieses Urteil zurückgewiesen. Zur Be-
gründung hat es ausgeführt, der angegriffene Bescheid sei mangels einer recht-
lich beachtlichen Asylantragstellung durch die Kläger rechtswidrig. Auch die
Voraussetzungen für eine Antragsfiktion gemäß § 14a Abs. 2 AsylVfG lägen
nicht vor, da diese Vorschrift auf die vor ihrem Inkrafttreten am 1. Januar 2005
geborenen Kläger nicht anwendbar sei. Maßgeblich hierfür sei der Wortlaut der
Norm. Die durchgängige Verwendung von Präsensformulierungen in § 14a
Abs. 2 AsylVfG spreche zwar für sich allein betrachtet nicht gegen eine vom
Gesetzgeber beabsichtigte Rückanknüpfung an Anzeigetatbestände, die bereits
vor dem Inkrafttreten des Gesetzes eingetreten seien. Die Präsensform
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gewinne aber Bedeutung im Hinblick auf die vom Gesetzgeber statuierte
Rechtsfolge der Vorschrift, nämlich die Verpflichtung, Geburt oder Einreise dem
Bundesamt „unverzüglich“ anzuzeigen. Damit werde ein enger zeitlicher Zu-
sammenhang zwischen dem Eintritt des tatbestandlichen Ereignisses Geburt
oder Einreise einerseits und der Erfüllung der daraus erwachsenden Verpflich-
tung zur Anzeige des Ereignisses beim Bundesamt andererseits hergestellt.
Dieser Zusammenhang sei nicht gewahrt, wenn § 14a Abs. 2 AsylVfG auf alle
vor dem Inkrafttreten der Norm erfolgten Einreisen oder Geburten, die - wie im
Fall der Kläger - schon Jahre zurückliegen könnten, Anwendung fände. Die
Unanwendbarkeit der Vorschrift in derartigen Fällen widerspreche nicht der ge-
setzgeberischen Intention. Danach solle durch die Fiktion der Asylantragstel-
lung für ledige Kinder bis zum vollendeten 16. Lebensjahr verhindert werden,
dass durch sukzessive Asylantragstellung überlange Aufenthaltszeiten in
Deutschland ohne aufenthaltsrechtliche Perspektive für die Betroffenen ent-
stünden. Diese Absicht würde auch durch die Anwendung des § 14a Abs. 2
AsylVfG auf gegenwärtige Fallkonstellationen verwirklicht. Für nach dem
1. Januar 2005 geborene oder eingereiste Kinder sei eine spätere Asylantrag-
stellung mit der Zielsetzung, für die Gesamtfamilie eine Verlängerung der Auf-
enthaltszeit zu erreichen, ausgeschlossen. Die rückwirkende Anwendung des
§ 14a Abs. 2 AsylVfG würde der Norm zwar einen weitergehenden Anwen-
dungsbereich eröffnen. Die davon erfassten Fälle ließen sich aber über § 30
Abs. 3 Nr. 7 AsylVfG lösen.
Zur Begründung ihrer gegen das Berufungsurteil gerichteten Revision macht die
Beklagte geltend, § 14a Abs. 2 AsylVfG sei auch auf vor dem 1. Januar 2005 in
Deutschland geborene Kinder anwendbar. Der Wortlaut der Vorschrift stehe
dem nicht entgegen.
Die Kläger verteidigen das angefochtene Urteil.
Die Vertreterin des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht weist
darauf hin, dass inzwischen beabsichtigt sei, in das derzeit geplante Ände-
rungsgesetz eine Regelung einzufügen, die klarstellt, dass § 14a Abs. 2
AsylVfG auch für Altfälle gilt.
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II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Berufungsurteil verletzt Bundes-
recht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).
Wie in der Revisionsverhandlung erörtert, begehren die Kläger die Aufhebung
des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt)
ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Unanwendbarkeit des § 14a Abs. 2
AsylVfG in ihrem Falle. Das Rechtsschutzbegehren wird - unter bewusstem
Verzicht auf eine weitergehende gerichtliche Sachprüfung der Ablehnung von
Asyl und Abschiebungsschutz sowie einer Abschiebungsandrohung und der
damit verbundenen nachteiligen Folgen - mit dem isolierten Anfechtungsantrag
geltend gemacht. (Hilfs-)Anträge auf Verpflichtung (zur Anerkennung als Asyl-
berechtigte und als Flüchtlinge nach § 60 Abs. 1 AufenthG sowie auf Feststel-
lung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG) werden
nicht gestellt. Dabei geht auch der Prozessbevollmächtigte davon aus, dass der
angefochtene Bescheid bei Abweisung der isolierten Anfechtungsklage ohne
materielle Prüfung der Asyl- und Abschiebungsschutzanträge unanfechtbar und
bestandskräftig wird.
Die isolierte Anfechtung des Bundesamtsbescheids ist statthaft. Nach der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - insbesondere auch zu Asyl-
verfahren - ist zwar grundsätzlich von einem Vorrang der Verpflichtungsklage
auszugehen mit der Folge, dass Rechtsschutz gegen die Ablehnung eines be-
günstigenden Verwaltungsaktes grundsätzlich (nur) durch eine Verpflichtungs-
klage („Versagungsgegenklage“) zu erstreiten ist, welche die Aufhebung des
Versagungsbescheids umfasst, soweit er entgegensteht. Die Rechtsprechung
erkennt aber an, dass allein die Aufhebung des Versagungsbescheids aus-
nahmsweise ein zulässiges - gegenüber der Verpflichtungsklage für den Kläger
vorteilhafteres - Rechtsschutzziel sein kann, wenn eine mit diesem Bescheid
verbundene Beschwer nur so oder besser abgewendet werden kann.
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Die isolierte Anfechtung - wie sie die Kläger hier betreiben - bietet gegenüber
einem Verzicht auf die Durchführung eines Asylverfahrens nach § 14a Abs. 3
AsylVfG den Vorteil, dass dessen nachteilige Folgen, die denjenigen einer be-
standskräftigen Ablehnung entsprechen (§ 71 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG), bei ei-
nem Erfolg der Klage nicht eintreten, weil der negative Bescheid des Bundes-
amts ersatzlos aufgehoben wird. Dies legitimiert auch die Zulassung der isolier-
ten Anfechtung als alleiniges Ziel einer Klage wie hier, die sich nur dagegen
wendet, dass der angefochtene Bescheid des Bundesamts wegen Verstoß ge-
gen § 14a Abs. 2 AsylVfG rechtswidrig ist. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf
das Urteil des Senats vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 1 C 10.06 (zur
Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung des Bundesverwaltungs-
gerichts vorgesehen) Bezug genommen.
Das Berufungsgericht hat aber die Klage zu Unrecht als begründet angesehen.
Der angefochtene Bescheid ist nicht mangels eines beachtlichen Asylantrags
der Kläger rechtswidrig.
§ 14a Abs. 2 AsylVfG gilt auch für vor dem 1. Januar 2005 in Deutschland ge-
borene Kinder (vgl. ebenso OVG Lüneburg, Urteil vom 15. März 2006 - 10 LB
7/06 - juris; VGH Mannheim, Urteil vom 21. Juni 2006 - A 3 S 258/03 - InfAuslR
2006, 429 <431 f.>; OVG Koblenz, Urteil vom 25. April 2006 - 6 A 10211/06,
AuAS 2006, 153). Die Vorschrift enthält zwar keine ausdrückliche Regelung
ihres zeitlichen Anwendungsbereichs, auch fehlt eine Übergangsvorschrift im
Zuwanderungsgesetz. Für eine Anwendbarkeit auf „Altfälle“ sprechen aber die
Entstehungsgeschichte sowie vor allem Sinn und Zweck der Vorschrift. Sie soll
vermeiden, dass durch sukzessive Antragstellung überlange Aufenthaltszeiten
in Deutschland ohne aufenthaltsrechtliche Perspektive für die Betroffenen ent-
stehen (vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs BTDrucks 15/420,
S. 108). Dem Willen des Gesetzgebers entspricht es, die von ihm als Miss-
brauch und Umgehung angesehene Vorgehensweise, bei drohender Abschie-
bung sukzessiv Asylanträge für minderjährige Kinder zu stellen, möglichst
rasch, umfassend und effektiv zu unterbinden. Das ist nur zu erreichen, wenn
§ 14a Abs. 2 AsylVfG auch auf „Altfälle“ angewendet wird (vgl. im Einzelnen
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das erwähnte Urteil des Senats vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 1 C
10.06).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten wer-
den gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben; der Gegenstandswert ergibt sich aus
§ 30 RVG.
Eckertz-Höfer Dr. Mallmann Hund
Richter Beck
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