Urteil des BVerwG vom 16.08.2011

Eigene Mittel, Aufenthaltserlaubnis, Ausweisungsgrund, Sozialhilfe

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 C 4.10
VGH 9 A 1733/09
Verkündet
am 16. August 2011
Werner
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 16. August 2011
durch die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des
Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 14. Dezember
2009 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entschei-
dung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Der Kläger begehrt die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis aus humanitä-
ren Gründen.
Der 1969 in Äthiopien geborene Kläger reiste im Jahre 1990 in das Bundesge-
biet ein. Nach erfolgloser Durchführung eines Asylverfahrens wurde sein weite-
rer Aufenthalt seit Mai 1995 zunächst geduldet. Am 13. März 2002 erhielt er
erstmals eine Aufenthaltsbefugnis aus humanitären Gründen gemäß § 30
Abs. 3 AuslG 1990. Diese wurde in der Folgezeit als Aufenthaltserlaubnis nach
§ 25 Abs. 5 AufenthG bis zum 29. April 2006 verlängert.
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Am 31. August 2005 beantragte der Kläger, der mit seiner Lebensgefährtin und
seinen drei 1999, 2001 und 2003 geborenen Kindern in häuslicher Gemein-
schaft lebte, die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4
AufenthG. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 4. Dezember
2007 ab, da es an der nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG erforderlichen
Sicherung des Lebensunterhalts fehle. Dem durchschnittlichen monatlichen
Nettoeinkommen des Klägers von 1 349 € stehe ein monatlicher Gesamtbedarf
der Bedarfsgemeinschaft von 1 583 € gegenüber. Auch bei Erteilung der Nie-
derlassungserlaubnis sei nicht nur auf die Sicherung des Lebensunterhalts des
jeweiligen Antragstellers, sondern auf die Bedarfsgemeinschaft abzustellen, in
der der Ausländer lebe. Die Notwendigkeit einer Gesamtbetrachtung ergebe
sich auch aus den einschlägigen Bestimmungen des Zweiten und des Zwölften
Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB II und XII).
Mit seiner Klage hat der Kläger geltend gemacht, die für eine Niederlassungser-
laubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG erforderliche Sicherung des Lebensunter-
halts sei nur auf den antragstellenden Ausländer selbst zu beziehen und könne
nicht auf seine Familienangehörigen ausgedehnt werden.
Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 16. Oktober 2008 den Ablehnungs-
bescheid aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, den Antrag des Klägers auf
Erteilung einer Niederlassungserlaubnis erneut zu bescheiden. Zur Begründung
hat es ausgeführt, nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG sei es ausreichend,
wenn der Kläger selbst seinen Lebensunterhalt durch eigenen Verdienst si-
chern könne. Das sei durch die vorgelegten Verdienstbescheinigungen eindeu-
tig belegt. Die Beklagte habe zu Unrecht auch den Bedarf der minderjährigen
Kinder des Klägers in die Berechnung einbezogen. Der Umstand, dass der Klä-
ger für seine drei Kinder Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz
erhalte, stehe der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nicht entgegen. Auch
wenn der Kläger damit möglicherweise tatbestandlich einen Ausweisungsgrund
nach § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG erfüllt habe, sei dies im Rahmen von § 9
Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG nicht als so schwerwiegend anzusehen, dass ihm
der Titel der Niederlassungserlaubnis zu versagen wäre. Der Antrag des Klä-
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gers sei daher nach Maßgabe dieser Rechtsauffassung von der Beklagten er-
neut zu bescheiden. Ein Verpflichtungsausspruch komme allerdings nicht in
Betracht, weil noch die weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen des § 9
AufenthG zu prüfen seien. Insoweit hat das Verwaltungsgericht die Klage ab-
gewiesen.
Die gegen die Verpflichtung zur Neubescheidung gerichtete Berufung der Be-
klagten hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof mit Urteil vom 14. Dezember
2009 zurückgewiesen. Er hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, die
tatbestandlichen Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG seien er-
füllt. Der Kläger besitze seit mehr als sieben Jahren ein Aufenthaltsrecht aus
humanitären Gründen. Bei der Frage, ob der Lebensunterhalt des Klägers ge-
mäß § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG gesichert sei, sei entgegen der Ansicht
der Beklagten ausschließlich auf den Kläger selbst abzustellen, nicht aber auf
etwaige unterhaltsberechtigte Personen. Zwar sei in Fällen des Familiennach-
zugs nach überwiegender Meinung angesichts der konkretisierenden Bestim-
mung des § 2 Abs. 3 Satz 4 AufenthG auch der Bedarf von Familienangehöri-
gen, mit denen der Ausländer in einer Bedarfsgemeinschaft lebe, mit einzube-
ziehen. Dies gelte dagegen, wie der Wortlaut der § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und
§ 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG zeige, nicht für die Erteilung einer Niederlassungs-
erlaubnis aus humanitären Gründen. Der Vergleich mit verschiedenen anderen
Regelungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Aufenthaltsgesetz und im
Staatsangehörigkeitsgesetz zeige, dass der Gesetzgeber bewusst unterschied-
lich lautende Formulierungen gewählt habe, wenn es um die Frage gehe, in
welcher Form bzw. hinsichtlich welches Personenkreises der Lebensunterhalt
gesichert sein müsse. Damit lasse bereits der Wortlaut des § 9 Abs. 2 Satz 1
Nr. 2 AufenthG nur den Schluss zu, dass bei der Sicherung des Lebensunter-
halts hier nur auf den Ausländer selbst abgestellt werden könne. Auf die Frage,
ob diese Auslegung mit der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des Nichtvor-
liegen eines Ausweisungsgrundes nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 6
AufenthG vereinbar sei, komme es nicht an. Denn die Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz, welche die Kinder des Klägers erhielten, seien
nach § 23 Abs. 2 SGB XII nicht als Sozialhilfe im Sinne dieses Ausweisungstat-
bestandes einzustufen.
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Mit der vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Revision macht die Beklagte
im Wesentlichen geltend, der Lebensunterhalt eines in einer Bedarfsgemein-
schaft lebenden Menschen könne nicht isoliert berechnet werden. Handele es
sich bei den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft um Familienangehörige, min-
dere deren Bedürftigkeit das dem Antragsteller zur Verfügung stehende Ein-
kommen. Sollte man bei der Berechnung des Lebensunterhalts nicht die Be-
darfsgemeinschaft zugrunde legen, wären Unterhaltsansprüche gleichwohl ein-
kommensmindernd in Ansatz zu bringen. Auch die allgemeine Verwaltungsvor-
schrift zum Aufenthaltsgesetz vom 27. Juli 2009 gehe davon aus, dass die Si-
cherung des Lebensunterhalts der unterhaltsberechtigten Familienangehörigen
Bestandteil der eigenen Lebensunterhaltssicherung sei (Nr. 2.3.2.3). Im Übrigen
stellten die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, die die Familie
des Klägers erhalte, eine Leistung der Sozialhilfe im Sinne des Ausweisungs-
tatbestandes nach § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG dar. Denn es handele sich dabei
nur um eine im Verhältnis zur Sozialhilfe gekürzte Leistung.
Der Kläger hält die Revision u.a. schon mangels ausreichender Revisionsbe-
gründung für unzulässig. Im Übrigen verteidigt er in der Sache das angegriffene
Berufungsurteil und weist darauf hin, dass zu seiner Familie inzwischen drei
weitere Kinder gehörten, nämlich ein 2008 geborener Sohn und zwei 2010 ge-
borene Zwillinge, die ebenfalls Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsge-
setz erhielten.
Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht ist mit der
Beklagten der Auffassung, dass bei der Frage der Sicherung des Lebensunter-
halts nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nicht allein auf den Kläger, sondern
auf die Bedarfsgemeinschaft insgesamt abzustellen sei, die er zusammen mit
seinen Familienangehörigen bilde.
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A. Die Revision der Beklagten ist zulässig. Entgegen der Ansicht des Klägers
sind die Revisionsschrift und die Revisionsbegründungsschrift von einer nach
§ 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO vertretungsberechtigten Person, nämlich von einer
Beschäftigten der Beklagten mit Befähigung zum Richteramt, unterzeichnet
worden. Ferner genügt die Revisionsbegründungsschrift den Anforderungen
des § 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO. Sie enthält insbesondere einen bestimmten
Antrag und bezeichnet mit den Ausführungen zur Sicherung des Lebensunter-
halts nach § 9 Abs. 2 und § 2 Abs. 3 AufenthG die aus Sicht der Beklagten ver-
letzte Rechtsnorm.
B. Die Revision ist auch begründet. Das Berufungsgericht hat das Vorliegen der
tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungser-
laubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG mit einer Begründung bejaht, die mit Bun-
desrecht nicht vereinbar ist. Es hat zu Unrecht angenommen, dass der Lebens-
unterhalt des Klägers im Sinne von § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 2 Abs. 3
AufenthG schon dann gesichert ist, wenn der Kläger mit seinem Einkommen
seinen eigenen Bedarf decken kann, und es nicht darauf ankommt, ob die mit
ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Mitglieder der Kernfamilie hilfebe-
dürftig sind. Mangels ausreichender Feststellungen im Berufungsurteil kann der
Senat allerdings in der Sache nicht abschließend entscheiden. Das Verfahren
ist daher an den Verwaltungsgerichtshof zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
1. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens sind die Be-
stimmungen des Aufenthaltsgesetzes in der im Zeitpunkt der Entscheidung des
Berufungsgerichts geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar
2008 (BGBl I S. 162), die - soweit hier einschlägig - auch derzeit noch unverän-
dert gelten. Nach § 26 Abs. 4 AufenthG kann einem Ausländer, der seit sieben
Jahren eine Aufenthaltserlaubnis nach diesem Abschnitt besitzt, eine Nieder-
lassungserlaubnis erteilt werden, wenn die in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 9
AufenthG bezeichneten Voraussetzungen vorliegen. Dabei ist im Fall des Klä-
gers die Besonderheit zu beachten, dass er vor dem 1. Januar 2005 im Besitz
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einer Aufenthaltsbefugnis war und deshalb nach der Übergangsregelung in
§ 104 Abs. 2 Satz 1 und 2 AufenthG die Bestimmungen in § 9 Abs. 2 Satz 1
Nr. 3 (Leistung von Pflichtbeiträgen oder freiwilligen Beiträgen zur gesetzlichen
Rentenversicherung für mindestens 60 Monate) und Nr. 8 AufenthG (Grund-
kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse
im Bundesgebiet) nicht anwendbar sind und auch beim Spracherfordernis nach
§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG geringere Anforderungen zu stellen sind.
a) Das Berufungsgericht ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass der
Kläger die zeitlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungser-
laubnis nach § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erfüllt. Diese Voraussetzungen müs-
sen grundsätzlich im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Ent-
scheidung der Tatsacheninstanz vorliegen (Urteil vom 10. November 2009
- BVerwG 1 C 24.08 - BVerwGE 135, 225 Rn. 13). Das ist hier der Fall, weil der
Kläger im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung (14. Dezember 2009) im Besitz
einer humanitären Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG war und er
diesen Aufenthaltstitel - oder eine gleichwertige Rechtsposition - ununterbro-
chen seit sieben Jahren besaß. Dabei sind die Zeiten des Besitzes der Aufent-
haltsbefugnis nach § 30 Abs. 3 AuslG 1990 vom März 2002 bis Ende Dezember
2004 gemäß § 102 Abs. 2 AufenthG auf den Siebenjahreszeitraum anzurech-
nen. Ab 1. Januar 2005 war der Kläger im Besitz einer humanitären Aufent-
haltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG oder hatte auf seinen rechtzeitig ge-
stellten Verlängerungsantrag hin, der in dem Antrag auf Erteilung einer Nieder-
lassungserlaubnis sinngemäß enthalten war, zumindest einen Anspruch auf
Verlängerung dieser Aufenthaltserlaubnis. Dementsprechend hat die Beklagte
ausweislich der Ausländerakte ihm letztlich auch am 17. Dezember 2007 seine
Aufenthaltserlaubnis für weitere zwei Jahre verlängert. Insoweit besteht zwi-
schen den Beteiligten auch kein Streit.
b) Zu Unrecht ist das Berufungsgericht dagegen bei der Prüfung der Vorausset-
zung der Sicherung des Lebensunterhalts nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 i.V.m.
§ 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG davon ausgegangen, dass es genügt, wenn der
Kläger mit seinem Erwerbseinkommen seinen eigenen Bedarf decken könnte
und es auf die Sicherung des Lebensunterhalts der mit ihm in einer Bedarfsge-
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meinschaft lebenden Mitglieder der Kernfamilie unter keinen Umständen an-
kommt. Diese Auffassung ist mit der inzwischen durch Urteil des Senats vom
16. November 2010 (BVerwG 1 C 21.09 - zur Veröffentlichung in der Entschei-
dungssammlung BVerwGE vorgesehen, Rn. 14 ff., InfAuslR 2011, 182) vorge-
nommenen Auslegung dieser Erteilungsvoraussetzung nicht vereinbar. Wie der
Senat in diesem Urteil im Einzelnen ausgeführt hat, verlangt die gesetzliche
Definition der Sicherung des Lebensunterhalts in § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG,
auf die sich § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ebenso wie § 5 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG beziehen, dass der Ausländer seinen Lebensunterhalt ohne Inan-
spruchnahme öffentlicher Leistungen - sofern sie nicht nach § 2 Abs. 3 Satz 2
AufenthG unschädlich sind - bestreiten kann. Ob ein Anspruch auf öffentliche
Leistungen für den Lebensunterhalt besteht, bestimmt sich bei erwerbsfähigen
Ausländern deshalb im Grundsatz nach den entsprechenden Bestimmungen
des Zweiten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB II). Lebt der erwerbsfähige
Ausländer mit seiner Familie zusammen, so richtet sich die Berechnung seines
Anspruchs auf öffentliche Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach
dem SGB II grundsätzlich nach den Regeln über die Bedarfsgemeinschaft nach
§ 9 Abs. 1 und 2 i.V.m. § 7 Abs. 3 SGB II. Danach gilt in einer Bedarfsgemein-
schaft, wenn deren gesamter Bedarf nicht aus eigenen Kräften und Mitteln ge-
deckt werden kann, jede Person im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Ge-
samtbedarf als hilfebedürftig (§ 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II). Im Regelfall hat danach
jedes Mitglied der Bedarfsgemeinschaft einen Leistungsanspruch in Höhe die-
ses Anteils. Das führt nach der Rechtsprechung des Senats - jedenfalls soweit
die Bedarfsgemeinschaft aus Mitgliedern der Kernfamilie besteht - regelmäßig
dazu, dass der Lebensunterhalt des Ausländers dann nicht im Sinne von § 9
Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG gesichert ist, wenn der Gesamtbedarf der Be-
darfsgemeinschaft nicht durch eigene Mittel bestritten werden kann (wegen der
Begründung im Einzelnen vgl. Urteil vom 16. November 2010 a.a.O. Rn. 15 ff.).
Soweit der Kläger demgegenüber geltend macht, in seinem Fall könne nicht an
das SGB II angeknüpft werden, weil er ebenso wie seine Kinder als Leistungs-
berechtigter nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nicht dem SGB II unterfal-
le, er selbst keine Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehe
und es in diesem Gesetz keine dem § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II vergleichbare
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Vorschrift gebe, greift dieser Einwand nicht durch. Denn für die Frage der Si-
cherung des Lebensunterhalts bei Erteilung der Niederlassungserlaubnis ist
nicht maßgeblich, welche Leistungen gegenwärtig tatsächlich bezogen werden.
Entscheidend ist vielmehr, ob künftig voraussichtlich ein Anspruch auf öffentli-
che Leistungen im Sinne von § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG besteht (Urteil vom
26. August 2008 - BVerwG 1 C 32.07 - BVerwGE 131, 370 Rn. 21). Würde dem
Kläger aber eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG erteilt,
fiele er nicht mehr unter die Vorschriften des Asylbewerberleistungsgesetzes
(vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 und 3 AsylbLG). Damit wäre er nach § 7 Abs. 1
Satz 2 Nr. 3 SGB II nicht mehr von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlos-
sen. Da er erwerbsfähig ist und auch die übrigen Voraussetzungen für die Leis-
tungsberechtigung nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II erfüllt, stünden ihm nach Er-
teilung der Niederlassungserlaubnis im Falle der Hilfebedürftigkeit Leistungen
nach dem SGB II zu. Bei Ermittlung des künftigen Hilfebedarfs ist deshalb auch
im Fall des Klägers auf die Vorschriften des SGB II abzustellen. Mit seiner hier-
von abweichenden Auffassung beruht das Berufungsurteil auf der Verletzung
von Bundesrecht.
2. Der Senat kann aufgrund der bisherigen Feststellungen des Berufungsge-
richts nicht selbst abschließend entscheiden, ob die Erteilung einer Niederlas-
sungserlaubnis an dem Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts schei-
tert. Denn das Berufungsgericht hat schon keine genauen Feststellungen über
die im maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsentscheidung zu erwartende Höhe
des durchschnittlichen monatlichen Erwerbseinkommens des Klägers und sons-
tige für die Ermittlung seines Bedarfs nach dem SGB II wesentliche Umstände
- etwa die Höhe der Kosten für Unterkunft und Heizung - getroffen. Darüber
hinaus lassen sich dem Berufungsurteil - nach der dort vertretenen Rechtsauf-
fassung folgerichtig - auch keinerlei Feststellungen hinsichtlich der zur Bedarfs-
gemeinschaft des Klägers im Sinne von § 7 Abs. 3 SGB II zu rechnenden Per-
sonen entnehmen. Auf dieser Grundlage lässt sich nicht beurteilen, ob der Klä-
ger nach Erteilung der Niederlassungserlaubnis mit Rücksicht auf seine Be-
darfsgemeinschaft Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem
SGB II beanspruchen könnte. Die Sache ist deshalb zur weiteren Klärung der
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gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis
nach § 26 Abs. 4 AufenthG an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
3. Bei der erneuten Befassung wird der Verwaltungsgerichtshof prüfen müssen,
ob dem Kläger nach den Bestimmungen des SGB II in der nunmehr geltenden
Bekanntmachung der Neufassung vom 13. Mai 2011 (BGBl I S. 850) nach Er-
teilung der Niederlassungserlaubnis voraussichtlich ein Anspruch auf Leistun-
gen zur Sicherung des Lebensunterhalts zustehen würde. Dabei wird es alle
hierfür erheblichen Umstände sowohl hinsichtlich des Klägers als auch hinsicht-
lich der Mitglieder seiner Bedarfsgemeinschaft ermitteln müssen. Dabei kann
für die Berechnung des Anspruchs auch die Frage von Bedeutung sein, ob ein
Mitglied der Bedarfsgemeinschaft voraussichtlich (weiterhin) nach dem Asylbe-
werberleistungsgesetz leistungsberechtigt und damit von Leistungen nach dem
SGB II ausgeschlossen wäre (vgl. zur Berechnung bei sog. gemischten Be-
darfsgemeinschaften: BSG, Urteil vom 15. April 2008 - B14/7b AS 58/06 - FEVS
60, 259). Sollte sich bei der Berechnung ein Leistungsanspruch des Klägers
nach dem SGB II ergeben, bliebe weiter zu prüfen, ob der Kläger durch Bean-
tragung des - nach § 2 Abs. 3 Satz 2 AufenthG unschädlichen - Kinderzu-
schlags für seine - inzwischen sechs - Kinder nach § 6a BKGG, von dem er
bisher als Leistungsberechtigter nach dem Asylbewerberleistungsgesetz aus-
geschlossen war, künftig eine Hilfebedürftigkeit der Bedarfsgemeinschaft insge-
samt und damit auch den eigenen Bezug von Leistungen nach dem SGB II
vermeiden könnte (vgl. zu dieser Möglichkeit auch Urteil vom 16. November
2010 a.a.O. Rn. 22). Bei der Prognose, ob der Kläger den antragsabhängigen
Kinderzuschlag anstelle der Leistungen nach dem SGB II gegebenenfalls tat-
sächlich auch beantragen würde, ist zu berücksichtigen, dass nach § 12a
SGB II eine Pflicht zur Inanspruchnahme des Kinderzuschlags nach dem Bun-
deskindergeldgesetz besteht, es sei denn, dass dadurch nicht die Hilfebedürf-
tigkeit aller Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft für einen zusammenhängenden
Zeitraum von mehr als drei Monaten beseitigt würde (§ 12a Satz 2 Nr. 2 SGB
II). Wegen der Komplexität der Berechnung und der Anwendung der einschlä-
gigen sozialrechtlichen Vorschriften dürfte es in der Praxis sachdienlich sein,
Auskünfte des für die Leistungen nach dem SGB II zuständigen Sozialleistungs-
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trägers und gegebenenfalls der für den Kinderzuschlag zuständigen Familien-
kasse einzuholen.
Da mangels ausreichender tatrichterlicher Feststellungen derzeit nicht absehbar
ist, ob ein Angehöriger der Bedarfsgemeinschaft des Klägers auch nach Ertei-
lung einer Niederlassungserlaubnis noch längerfristig Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz in Anspruch nehmen müsste, braucht der Senat
die noch nicht höchstrichterlich geklärte Frage, ob damit der Ausweisungsgrund
nach § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG („wenn der Ausländer für sich, seine Familien-
angehörigen oder für sonstige Haushaltsangehörige Sozialhilfe in Anspruch
nimmt“) erfüllt sein könnte oder ob dieser nur Leistungen nach dem SGB XII
erfasst, im Rahmen dieser Hinweise nicht zu entscheiden. Offenbleiben kann
auch, ob überhaupt ein Rückgriff auf den Ausweisungsgrund zulässig ist oder
insoweit § 9 AufenthG eine abschließende Regelung trifft. Wenn der gegenwär-
tige Bezug von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nach der
vom Berufungsgericht zu treffenden Prognose nach Erteilung der Niederlas-
sungserlaubnis voraussichtlich enden wird, würde dieser Ausweisungsgrund
jedenfalls schon deshalb nicht mehr als möglicher Versagungsgrund für die
Niederlassungserlaubnis nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 5 Abs. 3 Satz 2
AufenthG eingreifen, weil er nach seinem Sinn und Zweck nicht darauf angelegt
ist, eine Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen in der Vergangenheit zu
sanktionieren, sondern der fortdauernden künftigen Inanspruchnahme solcher
Leistungen entgegenwirken soll.
Eckertz-Höfer
Prof. Dr. Dörig
Beck
Prof. Dr. Kraft
Ri’inBVerwG Fricke
ist wegen Urlaubs verhindert
zu unterschreiben.
Eckertz-Höfer
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B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 5 000 €
festgesetzt (§ 47 Abs. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG).
Eckertz-Höfer
Beck
Prof. Dr. Kraft
Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Ausländerrecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquellen:
AufenthG
§ 2 Abs. 3, § 5 Abs. 1 Nr. 1 und 2 und Abs. 3, § 9 Abs. 2,
§ 26 Abs. 4, § 55 Abs. 2 Nr. 6, § 102 Abs. 2, § 104 Abs. 2
BKGG
§ 6a
SGB II
§ 7 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3, § 9 Abs. 2, § 12a
AsylbLG
§ 1 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 und 3
Stichworte:
Niederlassungserlaubnis; Sicherung des Lebensunterhalts; Erwerbseinkom-
men; Unterhaltsbedarf; Bedarfsgemeinschaft; Hilfebedürftigkeit; unterhaltsbe-
rechtigte Familienangehörige; Kernfamilie; Leistungen nach dem AsylbLG; Leis-
tungen nach dem SGB II; Sozialhilfebezug; Kinderzuschlag; Ausweisungs-
grund.
Leitsatz:
Bei der Beurteilung, ob der Lebensunterhalt eines erwerbsfähigen Ausländers
im Sinne von § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG gesichert ist, ist darauf abzustel-
len, ob der Ausländer nach Erteilung der Niederlassungserlaubnis seinen Le-
bensunterhalt voraussichtlich ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel im Sin-
ne von § 2 Abs. 3 AufenthG, d.h. insbesondere ohne Inanspruchnahme von
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, bestreiten
kann. Für die Berechnung, ob er voraussichtlich einen Anspruch auf derartige
Leistungen hat, gelten grundsätzlich die sozialrechtlichen Regelungen über die
Bedarfsgemeinschaft (im Anschluss an Urteil vom 16. November 2010
- BVerwG 1 C 21.09).
Urteil des 1. Senats vom 16. August 2011 - BVerwG 1 C 4.10
I. VG Frankfurt am Main vom 16.10.2008 - Az.: VG 10 K 68/08.F(3) -
II. VGH Kassel vom 14.12.2009 - Az.: VGH 9 A 1733/09 -