Urteil des BVerwG vom 08.02.2005

Politische Verfolgung, Syrien, Bundesamt, Anerkennung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 C 33.03
Verkündet
OVG 8 A 64/03.A
am 8. Februar 2005
Stoffenberger
Justizobersekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 8. Februar 2005
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r ,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. M a l l m a n n , H u n d und
R i c h t e r sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht B e c k
für Recht erkannt:
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nord-
rhein-Westfalen vom 10. September 2003 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entschei-
dung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vor-
behalten.
G r ü n d e :
I.
Die Klägerin begehrt ihre Anerkennung als Flüchtling nach § 60 Abs. 1 Aufenthalts-
gesetz (AufenthG) im Hinblick auf eine ihr in der Türkei drohende Verfolgung wegen
ihrer Religion.
Die 1983 in der Provinz Hassake in Syrien geborene Klägerin ist kurdische Volkszu-
gehörige jezidischer Religionszugehörigkeit. Sie kam im Januar 2000 in die Bundes-
republik Deutschland und beantragte Asyl. Bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt
für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge - jetzt Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge - (Bundesamt) gab sie an, sie habe in Syrien nach dem Tod ihrer Eltern
bei ihrer Schwester gelebt und zusammen mit dieser das Land verlassen, weil sie
allein dort nicht habe leben können; sie sei von arabischen Nachbarn belästigt und
unterdrückt worden. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
- jetzt Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - (Bundesamt) lehnte den Asylantrag
ab (1.), stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (2.) und Ab-
schiebungshindernisse nach § 53 AuslG hinsichtlich Syriens nicht vorliegen (3.), und
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drohte der Klägerin die Abschiebung nach Syrien oder einen anderen aufnahmever-
pflichteten oder -bereiten Staat an (4.). Es ging dabei davon aus, dass die Staatsan-
gehörigkeit der Klägerin ungeklärt sei, und prüfte und verneinte in Bezug auf Syrien
das Vorliegen politischer Verfolgung oder sonstiger Gefahren für die Klägerin.
Im Klageverfahren hat die Klägerin erstmals geltend gemacht, sie sei türkische
Staatsangehörige. Ihr Vater sei in der Türkei geboren, habe die türkische Staatsan-
gehörigkeit besessen und sei nach Syrien ausgewandert, ohne die syrische Staats-
angehörigkeit zu erwerben. In der Türkei drohe ihr wegen ihrer jezidischen Religi-
onszugehörigkeit politische Verfolgung. Das Bundesamt habe in dem Bescheid zu
Unrecht nur auf die Verhältnisse in Syrien abgestellt. Die nur noch auf Gewährung
von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG, hilfsweise nach § 53 AuslG, und
auf Aufhebung der Abschiebungsandrohung gerichtete Klage hat das Verwaltungs-
gericht abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, das Gericht habe sich nicht
von der türkischen Staatsangehörigkeit der Klägerin überzeugen können, so dass die
Feststellung eines Abschiebungshindernisses hinsichtlich der Türkei weder nach
§ 51 Abs. 1 AuslG noch nach § 53 AuslG in Betracht komme. Auch die Abschie-
bungsandrohung nach Syrien sei rechtmäßig, weil die Syrien betreffenden Feststel-
lungen in Ziffer 2 und 3 des Bescheides, dass Abschiebungshindernisse bezüglich
Syriens nicht vorlägen, bestandskräftig geworden seien.
Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom
10. September 2003 die Beklagte unter Aufhebung der Ziff. 2 bis 4 des angefochte-
nen Bescheides verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1
AuslG hinsichtlich der Türkei vorliegen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen
ausgeführt: Bei Personen, die eine Staatsangehörigkeit besäßen, sei die Feststellung
der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG - ebenso wie die Asylberechtigung -
allein danach zu beurteilen, ob ihnen im Land ihrer Staatsangehörigkeit politische
Verfolgung drohe oder nicht. Hingegen komme es nicht darauf, ob sie in einem
Drittstaat, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hätten, politische Verfolgung
befürchten müssten. Das Begehren der Klägerin auf Feststellung der Vorausset-
zungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Türkei sei auch begründet. Die Kläge-
rin besitze die türkische Staatsangehörigkeit. Nach ihrer Anhörung und der glaubhaf-
ten Zeugenaussage ihrer Schwester stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass
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ihre Eltern in der Türkei geboren und aufgewachsen seien, etwa 1965 die Türkei ver-
lassen und bis zu ihrem Tod in Syrien gelebt hätten, ohne die syrische Staatsange-
hörigkeit erworben zu haben. Aus den gesamten Umständen ergebe sich aufgrund
der einschlägigen Bestimmungen des türkischen und des syrischen Staatsangehö-
rigkeitsrechts, dass der Vater der Klägerin die türkische Staatsangehörigkeit durch
Geburt erworben und auch durch die Flucht nach Syrien nicht verloren habe. Die
Klägerin sei als im Ausland geborenes Kind eines türkischen Vaters ebenfalls türki-
sche Staatsangehörige. Anhaltspunkte dafür, dass sie die syrische Staatsangehörig-
keit erworben und die türkische Staatsangehörigkeit verloren haben könnte, bestün-
den nicht. Als ihren Glauben praktizierende Jezidin sei sie bei einer Rückkehr in die
Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung im Sinne des § 51
Abs. 1 AuslG ausgesetzt. Praktizierende Jeziden unterlägen nach den ausgewerte-
ten Erkenntnismaterialien in ihren angestammten Siedlungsgebieten in der Türkei
einer mittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung durch die muslimische Bevölke-
rungsmehrheit, ohne dass ihnen ein Ausweichen in verfolgungsfreie Gebiete inner-
halb der Türkei möglich wäre. Auf die Frage, ob die Klägerin in Syrien Schutz vor
Verfolgung gemäß § 27 AsylVfG gefunden habe, komme es nicht an, weil diese Vor-
schrift zwar einer Anerkennung als Asylberechtigter entgegenstehen könne, nicht
aber dem aus §§ 51, 53 AuslG folgenden Abschiebungsschutz. Mangels Vorliegens
der Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sei auch die Abschiebungsan-
drohung nach Syrien in Ziff. 4 des Bescheides aufzuheben.
Mit ihrer Revision trägt die Beklagte im Wesentlichen vor: Die Klägerin habe kein
Rechtsschutzinteresse an der Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach
§ 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Türkei. Da ihr lediglich die Abschiebung nach Sy-
rien angedroht worden sei, hätte sich das Berufungsgericht mit der Frage, ob die
Klägerin türkische Staatsangehörige sei und in der Türkei mit politischer Verfolgung
zu rechnen habe, nicht beschäftigen dürfen. Die Berufung hätte daher - mangels ei-
ner Gefahr politischer Verfolgung in Syrien - zurückgewiesen werden müssen. Zur
näheren Begründung verweist die Beklagte auf die Rechtsprechung des Oberverwal-
tungsgerichts Magdeburg in gleich gelagerten Fällen. Auch im Hinblick auf die voll-
ständige Aufhebung der Abschiebungsandrohung nach Syrien in Ziff. 4 des Beschei-
des beruhe das Berufungsurteil auf einer unrichtigen Anwendung materiellen Rechts.
Denn das Vorliegen von Abschiebungshindernissen und/oder Duldungsgründen nach
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§ 51 Abs. 1 und §§ 53 bis 55 AuslG stehe dem Erlass einer Abschiebungsandrohung
- zumal in einen anderen Staat - gemäß § 50 Abs. 3 Satz 1 AuslG nicht entgegen.
Etwaige sonstige Gründe für eine Aufhebung der Androhung der Abschiebung nach
Syrien habe das Berufungsgericht aber überhaupt nicht geprüft. Im Übrigen könne
das Berufungsurteil auch deshalb keinen Bestand haben, weil das Gericht unter
Verletzung von § 108 Abs. 1 VwGO und unter Verstoß gegen seine gerichtliche
Aufklärungspflicht zu dem Schluss gekommen sei, die Klägerin besitze die türkische
Staatsangehörigkeit und gehöre trotz ihres ausschließlichen Aufenthalts in Syrien zu
der von der mittelbaren Gruppenverfolgung betroffenen Gruppe glaubensgebundener
Jeziden in der Türkei.
Die Klägerin verteidigt das angegriffene Urteil.
II.
Der Senat konnte trotz Ausbleibens des beteiligten Bundesbeauftragten für Asylan-
gelegenheiten in der mündlichen Verhandlung über die Revision verhandeln und
entscheiden, weil in der Ladung darauf hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2
VwGO).
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Berufungsurteil beruht auf der Verlet-
zung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO). Allerdings ist das Berufungsgericht zu
Recht davon ausgegangen, dass die Klage der Klägerin zulässig ist. Insbesondere
fehlt ihr entgegen der Ansicht der Revision nicht das erforderliche Rechtsschutzinte-
resse für das Begehren auf Zuerkennung von Abschiebungsschutz wegen politischer
Verfolgung in der Türkei. Dieses Begehren findet nach In-Kraft-Treten des Gesetzes
zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts
und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom
30. Juli 2004 (BGBl I S. 1950) seine Rechtsgrundlage nicht mehr in § 51 Abs. 1
AuslG, sondern in § 60 Abs. 1 AufenthG (Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstä-
tigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet - Aufenthaltsgesetz
= Art. 1 Zuwanderungsgesetz). Das Berufungsgericht ist ferner ohne Verstoß gegen
Bundesrecht zu der Auffassung gelangt, dass die Klägerin die türkische Staatsange-
hörigkeit besitzt und ihr bei einer Rückkehr in die Türkei als praktizierender Jezidin
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dort wegen ihrer Religion Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG droht.
Gleichwohl hätte das Berufungsgericht die Beklagte nicht zur Gewährung von Ab-
schiebungsschutz nach dieser Bestimmung und damit zur Anerkennung der Klägerin
als politischer Flüchtling (§ 3 AsylVfG) verpflichten dürfen, ohne Feststellungen dazu
zu treffen, ob die Klägerin bereits in Syrien hinreichenden Schutz vor politischer Ver-
folgung durch die Türkei erlangt hat und ihr dieser Schutz auch weiterhin zur Verfü-
gung steht; dann könnte sie nämlich wegen der Subsidiarität des internationalen
Flüchtlingsschutzes eine Flüchtlingsanerkennung in Deutschland nicht mehr bean-
spruchen. Deshalb kann auch die Aufhebung der Abschiebungsandrohung nach Sy-
rien (Ziff. 4 des angefochtenen Bescheides) keinen Bestand haben. Da der Senat
mangels ausreichender Feststellungen des Berufungsgerichts nicht abschließend in
der Sache entscheiden kann, ist das Verfahren zur erneuten Verhandlung und Ent-
scheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Wegen der Begründung im Einzelnen wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf
die Ausführungen des Senats in dem Urteil vom heutigen Tage in der Parallelsache
BVerwG 1 C 29.03 Bezug genommen, die entsprechend auch für den Fall der Kläge-
rin gelten.
Eckertz-Höfer Dr. Mallmann Hund
Richter Beck