Urteil des BVerwG vom 08.02.2005

Politische Verfolgung, Syrien, Abschiebung, Anerkennung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 C 32.03
Verkündet
OVG 8 A 4224/02.A
am 8. Februar 2005
Stoffenberger
Justizobersekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 8. Februar 2005
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r ,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. M a l l m a n n , H u n d und
R i c h t e r sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht B e c k
für Recht erkannt:
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nord-
rhein-Westfalen vom 10. September 2003 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entschei-
dung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vor-
behalten.
G r ü n d e :
I.
Die Klägerin begehrt ihre Anerkennung als Flüchtling nach § 60 Abs. 1 Aufenthalts-
gesetz (AufenthG) im Hinblick auf eine ihr in der Türkei drohende Verfolgung wegen
ihrer Religion.
Die 1985 in Drejik/Khataniye in Syrien geborene Klägerin ist kurdische Volkszugehö-
rige jezidischer Religionszugehörigkeit. Sie kam im März 2001 in die Bundesrepublik
Deutschland und beantragte Asyl. Zur Begründung gab sie an, sie sei türkische
Staatsangehörige, könne aber nicht in der Türkei leben, weil ihr wegen ihrer Religi-
onszugehörigkeit dort politische Verfolgung drohe. Ihr Vater sei türkischer Staatsan-
gehöriger, der in der Türkei geboren und später nach Syrien geflüchtet sei. Sie und
ihre Familie seien in Syrien als Staatenlose behandelt und von den Arabern unter-
drückt worden. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge - jetzt
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - (Bundesamt) lehnte den Asylantrag ab
(1.), stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (2.) und Abschie-
bungshindernisse nach § 53 AuslG hinsichtlich Syriens nicht vorliegen (3.), und droh-
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te der Klägerin die Abschiebung nach Syrien oder einen anderen aufnahmeverpflich-
teten oder -bereiten Staat an (4.). Es ging dabei davon aus, dass die Staatsangehö-
rigkeit der Klägerin ungeklärt sei, und prüfte und verneinte in Bezug auf Syrien das
Vorliegen politischer Verfolgung oder sonstiger Gefahren für die Klägerin.
Die dagegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Zur Begrün-
dung hat es ausgeführt, in Syrien werde die Klägerin weder wegen ihrer Zugehörig-
keit zur Glaubensgemeinschaft der Jeziden noch aus sonstigen individuellen Grün-
den verfolgt. Das Gericht habe sich auch nicht von der türkischen Staatsangehörig-
keit der Klägerin überzeugen können. Selbst wenn man unterstelle, dass die Klägerin
türkische Staatsangehörige sei, könne die Klage keinen Erfolg haben. Zwar drohe
Jeziden wegen ihrer Religionszugehörigkeit in der Türkei politische Verfolgung. Die
Klägerin sei aber in Syrien vor dieser Verfolgung sicher gewesen. Sie habe auch kein
Rechtsschutzinteresse an der Feststellung von Abschiebungshindernissen bezüglich
anderer Staaten als Syrien. Sofern eine Abschiebung in die Türkei konkret ins Auge
gefasst werden sollte, habe sie immer noch Gelegenheit, etwaige Abschie-
bungshindernisse bezüglich der Türkei geltend zu machen und Rechtsschutz in An-
spruch zu nehmen. Dieses Urteil ist hinsichtlich des Asylanspruchs rechtskräftig ge-
worden.
Auf die im Übrigen eingelegte Berufung der Klägerin hat das Oberverwaltungsgericht
mit Urteil vom 10. September 2003 die Beklagte unter Aufhebung der Ziff. 2 bis 4 des
angefochtenen Bescheides verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des
§ 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Türkei vorliegen. Zur Begründung hat es im We-
sentlichen ausgeführt: Bei Personen, die eine Staatsangehörigkeit besäßen, sei die
Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG - ebenso wie die Asyl-
berechtigung - allein danach zu beurteilen, ob ihnen im Land ihrer Staatsangehörig-
keit politische Verfolgung drohe oder nicht. Hingegen komme es nicht darauf, ob sie
in einem Drittstaat, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hätten, politische Ver-
folgung befürchten müssten. Das Begehren der Klägerin auf Feststellung der
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Türkei sei auch begründet.
Die Klägerin besitze die türkische Staatsangehörigkeit. Nach ihrer Anhörung und
Vernehmung der Zeugen stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass ihr Vater in
der Türkei geboren und aufgewachsen sei. Während oder kurz nach dem Zweiten
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Weltkrieg habe er die Türkei verlassen und lebe seitdem in Syrien, ohne die syrische
Staatsangehörigkeit erworben zu haben. Aus den gesamten Umständen ergebe sich
aufgrund der einschlägigen Bestimmungen des türkischen und des syrischen
Staatsangehörigkeitsrechts, dass der Vater der Klägerin die türkische Staatsangehö-
rigkeit durch Geburt erworben und auch durch die Flucht nach Syrien nicht verloren
habe. Die Klägerin sei als im Ausland geborenes Kind eines türkischen Vaters eben-
falls türkische Staatsangehörige. Anhaltspunkte dafür, dass sie die syrische Staats-
angehörigkeit erworben und die türkische Staatsangehörigkeit verloren haben könn-
te, bestünden nicht. Als ihren Glauben praktizierende Jezidin sei sie bei einer Rück-
kehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung im Sinne
des § 51 Abs. 1 AuslG ausgesetzt. Praktizierende Jeziden unterlägen nach den aus-
gewerteten Erkenntnismaterialien in ihren angestammten Siedlungsgebieten in der
Türkei einer mittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung durch die muslimische Be-
völkerungsmehrheit, ohne dass ihnen ein Ausweichen in verfolgungsfreie Gebiete
innerhalb der Türkei möglich wäre. Auf die Frage, ob die Klägerin in Syrien Schutz
vor Verfolgung gemäß § 27 AsylVfG gefunden habe, komme es nicht an, weil diese
Vorschrift zwar einer Anerkennung als Asylberechtigter entgegenstehen könne, nicht
aber dem aus §§ 51, 53 AuslG folgenden Abschiebungsschutz. Mangels Vorliegens
der Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sei auch die Abschiebungsan-
drohung nach Syrien in Ziff. 4 des Bescheides aufzuheben.
Mit ihrer Revision trägt die Beklagte im Wesentlichen vor: Die Klägerin habe kein
Rechtsschutzinteresse an der Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach
§ 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Türkei. Da ihr lediglich die Abschiebung nach Sy-
rien angedroht worden sei, hätte sich das Berufungsgericht mit der Frage, ob die
Klägerin türkische Staatsangehörige sei und in der Türkei mit politischer Verfolgung
zu rechnen habe, nicht beschäftigen dürfen. Die Berufung hätte daher - mangels ei-
ner Gefahr politischer Verfolgung in Syrien - zurückgewiesen werden müssen. Zur
näheren Begründung verweist die Beklagte auf die Rechtsprechung des Oberverwal-
tungsgerichts Magdeburg in gleich gelagerten Fällen. Auch im Hinblick auf die voll-
ständige Aufhebung der Abschiebungsandrohung nach Syrien in Ziff. 4 des Beschei-
des beruhe das Berufungsurteil auf einer unrichtigen Anwendung materiellen Rechts.
Denn das Vorliegen von Abschiebungshindernissen und/oder Duldungsgründen nach
§ 51 Abs. 1 und §§ 53 bis 55 AuslG stehe dem Erlass einer Abschiebungsandrohung
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- zumal in einen anderen Staat - gemäß § 50 Abs. 3 Satz 1 AuslG nicht entgegen.
Etwaige sonstige Gründe für eine Aufhebung der Androhung der Abschiebung nach
Syrien habe das Berufungsgericht aber überhaupt nicht geprüft. Im Übrigen könne
das Berufungsurteil auch deshalb keinen Bestand haben, weil das Gericht unter
Verletzung von § 108 Abs. 1 VwGO und unter Verstoß gegen seine gerichtliche
Aufklärungspflicht zu dem Schluss gekommen sei, die Klägerin besitze die türkische
Staatsangehörigkeit und gehöre trotz ihres ausschließlichen Aufenthalts in Syrien zu
der von der mittelbaren Gruppenverfolgung betroffenen Gruppe glaubensgebundener
Jeziden in der Türkei.
Die Klägerin verteidigt das angegriffene Urteil.
II.
Der Senat konnte trotz Ausbleibens des beteiligten Bundesbeauftragten für Asylan-
gelegenheiten in der mündlichen Verhandlung über die Revision verhandeln und
entscheiden, weil in der Ladung darauf hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2
VwGO).
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Berufungsurteil beruht auf der Verlet-
zung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO). Allerdings ist das Berufungsgericht zu
Recht davon ausgegangen, dass die Klage der Klägerin zulässig ist. Insbesondere
fehlt ihr entgegen der Ansicht der Revision nicht das erforderliche Rechtsschutzinte-
resse für das Begehren auf Zuerkennung von Abschiebungsschutz wegen politischer
Verfolgung in der Türkei. Dieses Begehren findet nach In-Kraft-Treten des Gesetzes
zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts
und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom
30. Juli 2004 (BGBl I S. 1950) seine Rechtsgrundlage nicht mehr in § 51 Abs. 1
AuslG, sondern in § 60 Abs. 1 AufenthG (Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstä-
tigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet - Aufenthaltsgesetz
= Art. 1 Zuwanderungsgesetz). Das Berufungsgericht ist ferner ohne Verstoß gegen
Bundesrecht zu der Auffassung gelangt, dass die Klägerin die türkische Staatsange-
hörigkeit besitzt und ihr bei einer Rückkehr in die Türkei als praktizierender Jezidin
dort wegen ihrer Religion Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG droht.
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Gleichwohl hätte das Berufungsgericht die Beklagte nicht zur Gewährung von Ab-
schiebungsschutz nach dieser Bestimmung und damit zur Anerkennung der Klägerin
als politischer Flüchtling (§ 3 AsylVfG) verpflichten dürfen, ohne Feststellungen dazu
zu treffen, ob die Klägerin bereits in Syrien hinreichenden Schutz vor politischer Ver-
folgung durch die Türkei erlangt hat und ihr dieser Schutz auch weiterhin zur Verfü-
gung steht; dann könnte sie nämlich wegen der Subsidiarität des internationalen
Flüchtlingsschutzes eine Flüchtlingsanerkennung in Deutschland nicht mehr bean-
spruchen. Deshalb kann auch die Aufhebung der Abschiebungsandrohung nach Sy-
rien (Ziff. 4 des angefochtenen Bescheides) keinen Bestand haben. Da der Senat
mangels ausreichender Feststellungen des Berufungsgerichts nicht abschließend in
der Sache entscheiden kann, ist das Verfahren zur erneuten Verhandlung und Ent-
scheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Wegen der Begründung im Einzelnen wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf
die Ausführungen des Senats in dem Urteil vom heutigen Tage in der Parallelsache
BVerwG 1 C 29.03 Bezug genommen, die entsprechend auch für den Fall der Kläge-
rin gelten.
Eckertz-Höfer Dr. Mallmann Hund
Richter Beck