Urteil des BVerwG vom 19.08.2014

Genfer Flüchtlingskonvention, Bewegungsfreiheit, Politische Rechte, Gerichtshof für Menschenrechte

Sachgebiet:
Ausländerrecht
Rechtsquelle/n:
AEUV Art. 20, 45, 78, 267
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3, § 12 Abs. 2, § 25 Abs. 2
und 3, § 60 Abs. 2
GFK Art. 23, 26
GR-Charta Art. 18
Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte -
IBPR Art. 12
Protokoll Nr. 4 zur EMRK Art. 2
Richtlinie 2011/95/EU Art. 2 Buchst. d und g, Art. 18, Art. 20
Abs. 1 und 2, Art. 29, 33
Titelzeile:
Vorlage an den EuGH
BVerwGE: nein
Fachpresse: nein
Stichwort/e:
Aufenthalt; Ausländergleichbehandlung; Bewegungsfreiheit; fiskalisches
Interesse; Flüchtling; Fortsetzungsfeststellungsklage; Inländergleichbehandlung;
migrationspolitisches Interesse; Person mit subsidiärem Schutzstatus; Sozialhilfe;
subsidiär Schutzberechtigter; Vorabentscheidung; Wohnsitzauflage.
Leitsatz/-sätze:
Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zur
Klärung der Frage, ob Wohnsitzauflagen für subsidiär Schutzberechtigte mit
Art. 33 und/oder Art. 29 der Richtlinie 2011/95/EU vereinbar sind
(Parallelentscheidung zum Beschluss vom 19. August 2014 - BVerwG 1 C 1.14).
Beschluss des 1. Senats vom 19. August 2014 - BVerwG 1 C 3.14
I. VG Hannover vom 9. April 2013
Az: VG 2 A 4072/12
II. OVG Lüneburg vom 11. Dezember 2013
Az: OVG 2 LC 222/13
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 C 3.14
OVG 2 LC 222/13
Verkündet
am 19. August 2014
Wahl
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 19. August 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig, Prof. Dr. Kraft
und Dr. Fleuß sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rudolph
beschlossen:
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung
des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgenden
Fragen eingeholt:
1) Stellt die Auflage, den Wohnsitz in einem räumlich be-
grenzten Bereich (Gemeinde, Landkreis, Region) des Mit-
gliedstaats zu nehmen, eine Einschränkung der Bewe-
gungsfreiheit im Sinne von Art. 33 der Richtlinie
2011/95/EU dar, wenn der Ausländer sich ansonsten im
Staatsgebiet des Mitgliedstaats frei bewegen und aufhal-
ten kann?
2) Ist eine Wohnsitzauflage gegenüber Personen mit sub-
sidiärem Schutzstatus mit Art. 33 und/oder Art. 29 der
Richtlinie 2011/95/EU vereinbar, wenn sie darauf gestützt
wird, eine angemessene Verteilung öffentlicher Sozialhilfe-
lasten auf deren jeweilige Träger innerhalb des Staatsge-
biets zu erreichen?
3) Ist eine Wohnsitzauflage gegenüber Personen mit sub-
sidiärem Schutzstatus mit Art. 33 und/oder Art. 29 der
Richtlinie 2011/95/EU vereinbar, wenn sie auf migrations-
oder integrationspolitische Gründe gestützt wird, etwa um
soziale Brennpunkte durch die gehäufte Ansiedlung von
Ausländern in bestimmten Gemeinden oder Landkreisen
zu verhindern? Reichen insoweit abstrakte migrations-
oder integrationspolitische Gründe aus oder müssen sol-
che Gründe konkret festgestellt werden?
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G r ü n d e :
I
Die Klägerin erstrebt die Aufhebung der Wohnsitzauflage, die ihrer Aufenthalts-
erlaubnis vom 5. April 2012 beigefügt worden ist.
Die Klägerin stammt nach ihren eigenen Angaben aus Syrien. Sie reiste im April
2001 zusammen mit ihrer Mutter und Geschwistern nach Deutschland ein und
führte hier erfolglos ein Asylverfahren durch. In der Folgezeit wurde sie zu-
nächst geduldet. Von Anbeginn des Asylverfahrens bis heute bezog die Kläge-
rin Leistungen der sozialen Sicherung.
Auf erneuten Antrag stellte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bun-
desamt) mit bestandskräftigem Bescheid vom 30. März 2012 fest, dass bei ihr
ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG hinsichtlich Syriens vor-
liegt. Am 5. April 2012 erteilte ihr die Beklagte eine auf zwei Jahre befristete
Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG, in die mit Zusatzblatt vom 16.
Mai 2012 die bereits in der vorangehenden Fiktionsbescheinigung .enthaltene
Nebenbestimmung übernommen wurde: „Beschäftigung gestattet, Wohnsitz ist
in der Region H. mit Ausnahme der Landeshauptstadt zu nehmen“. Die Beklag-
te hat sich bei ihrer Entscheidung von den Ziffern 12.2.5.2.1 und 12.2.5.2.2 der
Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz leiten lassen. Derzeit
besitzt die Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG, gültig
vom 6. März 2014 bis zum 5. März 2015, die weiterhin mit einer entsprechen-
den Wohnsitzauflage versehen ist.
Die Klägerin hat im Juli 2012 Anfechtungsklage erhoben, mit der sie die Aufhe-
bung der Wohnsitzauflage begehrt hat. Mit Urteil vom 9. April 2013 hat das
Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Mit Urteil vom 11. Dezember 2013
hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht die Berufung der Klägerin
zurückgewiesen. Es hat seine Entscheidung im Wesentlichen damit begründet,
dass die aufgrund von § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG verfügte Wohnsitzauflage
keine Ermessensfehler erkennen lasse. Sie entspreche der Erlasslage wegen
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des Bezugs öffentlicher Leistungen und verstoße weder gegen Völker- noch
gegen Unionsrecht. Zwar gehe die Richtlinie 2011/95/EU in Art. 20 ff. vom
Grundsatz der Gleichbehandlung von Flüchtlingen und subsidiär Schutzberech-
tigten aus. Art. 33 der Richtlinie bleibe jedoch hinter den Gewährleistungen des
Art. 26 GFK zurück, denn in der Genfer Flüchtlingskonvention werde ausdrück-
lich zwischen dem Recht der Wahl des Aufenthaltsorts und der Bewegungsfrei-
heit unterschieden. Da die Richtlinie diese Formulierungen nicht übernommen
habe, sei davon auszugehen, dass man bewusst sprachlich differenziert habe.
Zudem hätten etliche Staaten schon gegen die in Art. 26 GFK eröffnete freie
Wahl des Wohnsitzes Vorbehalte angemeldet. Unabhängig davon ermögliche
Art. 33 der Richtlinie 2011/95/EU generell Einschränkungen, die auch für ande-
re rechtmäßig im Aufnahmestaat lebende Drittstaatsangehörige gälten. Der in
Art. 23 GFK niedergelegte Grundsatz fürsorgerechtlicher Gleichbehandlung für
Flüchtlinge sei nicht in vergleichbarem Maße in Art. 29 der Richtlinie
2011/95/EU übernommen worden.
Mit ihrer Revision trägt die Klägerin vor, dass die Richtlinie 2011/95/EU nicht
hinter den Anforderungen der Genfer Flüchtlingskonvention zurückbleibe. Die
freie Wahl des Wohnsitzes für Flüchtlinge gelte über Art. 33 der Richtlinie
2011/95/EU auch für subsidiär Schutzberechtigte. Die in Art. 29 Abs. 2 der
Richtlinie verwendete Formulierung „im gleichen Umfang und unter denselben
Voraussetzungen wie für eigene Staatsangehörige“ sei weit zu verstehen, so
dass in vergleichbaren Situationen mit subsidiär Schutzberechtigten nicht an-
ders umgegangen werden dürfe als mit eigenen Staatsangehörigen. Für Deut-
sche gebe es aber keine „sozialhilferechtliche Residenzpflicht“.
Die Beklagte verteidigt die Berufungsentscheidung. Der Richtliniengeber habe
das aus der Genfer Flüchtlingskonvention abzuleitende Verbot, Flüchtlingen zur
angemessenen Verteilung öffentlicher Sozialhilfelasten Wohnsitzauflagen zu
erteilen, nicht in die Richtlinie übernommen und jedenfalls nicht auf Personen
mit subsidiärem Schutzstatus erstreckt.
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Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt
sich an dem Verfahren und teilt im Wesentlichen die Rechtsauffassung der be-
klagten Region.
II
Der Rechtsstreit ist auszusetzen. Es ist eine Vorabentscheidung des Gerichts-
hofs der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) zu den im Beschluss-
tenor formulierten Fragen einzuholen (Art. 267 AEUV). Die Fragen betreffen die
Auslegung der Art. 33 und 29 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Par-
laments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerken-
nung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch
auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für
Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewäh-
renden Schutzes (ABl EU Nr. L 337 vom 20. Dezember 2011 S. 9 - CELEX:
32011L0095). Da es um die Auslegung von Unionsrecht geht, ist der Gerichts-
hof zuständig. Es wird darauf hingewiesen, dass die Fragen Gegenstand von
zwei weiteren - gleichlautenden - Vorabentscheidungsersuchen sind (vgl. Be-
schlüsse vom 19. August 2014 - BVerwG 1 C 1.14 und BVerwG 1 C 7.14).
1. Für die rechtliche Beurteilung des Anfechtungsantrags gegen die im April
2012 erteilte Wohnsitzauflage als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung ist grund-
sätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in
der Tatsacheninstanz maßgeblich (Urteil vom 15. Januar 2013 - BVerwG 1 C
7.12 - BVerwGE 145, 305 = Buchholz 402.242 § 23 AufenthG Nr. 5, jeweils
Rn. 9). Zu diesem Zeitpunkt (Urteil vom 11. Dezember 2013) galt bereits das
Aufenthaltsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008
(BGBl I S. 162), zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes vom 6. September
2013 (BGBl I S. 3556). Des Weiteren waren die hier maßgeblichen Art. 29
und 33 der Richtlinie 2011/95/EU gemäß Art. 41 der Richtlinie in Kraft getreten,
und die Umsetzungsfrist für sie war gemäß Art. 39 Abs. 1 der Richtlinie
2011/95/EU abgelaufen. Die Richtlinie wurde durch das Gesetz vom 28. August
2013 (BGBl I S. 3474) in nationales Recht umgesetzt. Danach bilden folgende
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nationale Vorschriften, die - soweit hier einschlägig - auch derzeit noch unver-
ändert gelten, den rechtlichen Rahmen dieses Rechtsstreits:
§ 5 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3, § 12 Abs. 1 und 2 sowie § 25 Abs. 2 Satz 1 des
Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) vom 30. Juli 2004 (BGBl I S. 1950) in der Fas-
sung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162), zuletzt ge-
ändert durch Gesetz vom 28. August 2013 (BGBl I S. 3474), lauten:
§ 5 Allgemeine Erteilungsvoraussetzungen
(1) Die Erteilung eines Aufenthaltstitels setzt in der Regel
voraus, dass
1. der Lebensunterhalt gesichert ist.
(3) In den Fällen der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach
[…] § 25 Abs. 1 bis 3 […] ist von der Anwendung der Ab-
sätze 1 und 2 […] abzusehen.
§ 12 Geltungsbereich; Nebenbestimmungen
(1) Der Aufenthaltstitel wird für das Bundesgebiet erteilt.
Seine Gültigkeit nach den Vorschriften des Schengener
Durchführungsübereinkommens für den Aufenthalt im Ho-
heitsgebiet der Vertragsparteien bleibt unberührt.
(2) Das Visum und die Aufenthaltserlaubnis können mit
Bedingungen erteilt und verlängert werden. Sie können,
auch nachträglich, mit Auflagen, insbesondere einer räum-
lichen Beschränkung, verbunden werden.
§ 25 Aufenthalt aus humanitären Gründen
(2) Einem Ausländer ist eine Aufenthaltserlaubnis zu ertei-
len, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
die Flüchtlingseigenschaft […] oder subsidiären Schutz
[…] zuerkannt hat.
Auf der Grundlage des Aufenthaltsgesetzes hat der Bundesminister des Innern
mit Zustimmung des Bundesrates eine Verwaltungsvorschrift erlassen, die die
Ausländerbehörden bei der Anwendung des Gesetzes zu beachten haben (All-
gemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 26. Oktober 2009
- GMBl 2009, 878). Danach ist eine Aufenthaltserlaubnis, die aus völkerrechtli-
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chen, humanitären oder politischen Gründen nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des
Aufenthaltsgesetzes erteilt wird, in dem Fall, in dem der Begünstigte Leistungen
der sozialen Sicherung bezieht, mit einer wohnsitzbeschränkenden Auflage zu
verbinden. Die einschlägigen Nummern der Verwaltungsvorschrift lauten wie
folgt:
12.2.5.2.1 Die wohnsitzbeschränkende Auflage stellt ins-
besondere ein geeignetes Mittel dar, um mittels einer re-
gionalen Bindung die überproportionale fiskalische Belas-
tung einzelner Länder und Kommunen durch ausländische
Empfänger sozialer Leistungen zu verhindern. Entspre-
chende Auflagen können auch dazu beitragen, einer Kon-
zentrierung sozialhilfeabhängiger Ausländer in bestimmten
Gebieten und der damit einhergehenden Entstehung von
sozialen Brennpunkten mit ihren negativen Auswirkungen
auf die Integration von Ausländern vorzubeugen. Entspre-
chende Maßnahmen sind auch gerechtfertigt, um Auslän-
der mit einem besonderen Integrationsbedarf an einen be-
stimmten Wohnort zu binden, damit sie dort von den Inte-
grationsangeboten Gebrauch machen können.
12.2.5.2.2 Vor diesem Hintergrund werden wohnsitzbe-
schränkende Auflagen erteilt und aufrechterhalten bei In-
habern von Aufenthaltserlaubnissen nach Kapitel 2 Ab-
schnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes bzw. Niederlassungser-
laubnissen nach § 23 Absatz 2, soweit und solange sie
Leistungen nach dem SGB II oder XII oder dem AsylbLG
beziehen. Hierzu zählen auch Aufenthaltserlaubnisse
nach §§ 104a und 104b.
2. Die Vorlagefragen sind entscheidungserheblich und bedürfen einer Klärung
durch den Gerichtshof.
a) Die Klägerin ist Inhaberin des subsidiären Schutzstatus im Sinne von Art. 2
Buchst. g und Art. 18 der Richtlinie 2011/95/EU; dieser beruht auf der Anerken-
nungsentscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt)
vom 30. März 2012. Ihr Aufenthalt war jedoch mit der Auflage verbunden,
den
Wohnsitz in einer Region zu nehmen. Eine entsprechende Auflage war auch in
ihrer Aufenthaltserlaubnis vom 5. April 2012 beigefügt, deren Rechtswidrigkeit
sie mit der streitgegenständlichen Klage feststellen lassen will, und auch ihre
derzeit gültige Aufenthaltserlaubnis vom 6. März 2014 ist mit einer gleichlauten-
den Auflage verbunden. Die Klägerin hat daher ein berechtigtes Interesse an
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einer gerichtlichen Feststellung, ob die ihr auferlegte Beschränkung ihres
Wohnsitzes rechtmäßig ist.
b) Nach § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG kann ein Aufenthaltstitel, der in der Regel
für das gesamte Bundesgebiet erteilt wird (§ 12 Abs. 1 AufenthG), mit Auflagen,
insbesondere einer räumlichen Beschränkung, verbunden werden. Die Ertei-
lung einer Wohnsitzauflage ist grundsätzlich zulässig, weil sie gegenüber der in
§ 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ausdrücklich genannten räumlichen Beschränkung
der Aufenthaltserlaubnis einen geringeren Eingriff darstellt (vgl. Urteil vom
15. Januar 2008 - BVerwG 1 C 17.07 - BVerwGE 130, 148 = Buchholz 402.22
Art. 26 GK Nr. 3, jeweils Rn. 13). Sie ordnet zwar eine Pflicht zur Wohnungs-
nahme und -nutzung an diesem Ort an, schränkt die Möglichkeit, sich im Bun-
desgebiet im Übrigen frei zu bewegen und aufzuhalten, aber nicht ein. Die Ent-
scheidung, ob eine Aufenthaltserlaubnis mit einer Auflage verbunden wird, steht
im Ermessen der zuständigen Behörde. Ihre Entscheidung ist daher nur darauf
überprüfbar, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten wurden
oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entspre-
chenden Weise Gebrauch gemacht wurde. Die Beklagte hat sich - wie das
Oberverwaltungsgericht festgestellt hat (UA S. 8 f.) - bei ihrer Ermessensaus-
übung von den Ziffern 12.2.5.2.1 und 12.2.5.2.2 der Allgemeinen Verwaltungs-
vorschrift des Bundesministerium des Innern zum Aufenthaltsgesetz vom
26. Oktober 2009 (GMBl 2009, 878 <960>) leiten lassen, wonach Inhabern von
Aufenthaltstiteln aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen
(vgl. Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes), soweit und solange sie
Leistungen der sozialen Sicherung beziehen, zum Zweck der angemessenen
Verteilung öffentlicher Sozialleistungslasten wohnsitzbeschränkende Auflagen
erteilt werden sollen. Eine Bindung der Ermessensentscheidung der einzelnen
Ausländerbehörden durch einheitliche Verwaltungsvorschriften ist nach nationa-
lem Recht zulässig.
Rechtmäßig ist es nach nationalem Recht auch - sofern keine Sonderregelun-
gen wie die der Art. 26 und 23 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) grei-
fen -, gegenüber Ausländern die Aufenthaltserlaubnis mit Wohnsitzauflagen
zum Zweck der angemessenen Verteilung der Sozialhilfelasten zu verbinden.
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Das hat das Bundesverwaltungsgericht für die Aufnahme größerer Gruppen von
Ausländern - z.B. Bürgerkriegsflüchtlinge oder jüdische Zuwanderer aus der
ehemaligen Sowjetunion - entschieden. Denn es dient einem gewichtigen öf-
fentlichen Interesse, innerhalb der föderal strukturierten Bundesrepublik
Deutschland einer Überlastung einzelner Bundesländer und Kommunen durch
ein Verteilungsverfahren und entsprechende Wohnsitzbeschränkungen beim
Bezug von Leistungen der sozialen Sicherung entgegenzuwirken (Urteile vom
15. Januar 2013 - BVerwG 1 C 7.12 - BVerwGE 145, 305 = Buchholz 402.242
§ 23 AufenthG Nr. 5, jeweils Rn. 16 und vom 19. März 1996 - BVerwG 1 C
34.93 - BVerwGE 100, 335 <342> = Buchholz 402.240 § 12 AuslG 1990 Nr. 9
S. 40). Abweichendes ergibt sich nach der Rechtsprechung des vorlegenden
Senats für anerkannte Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention, weil
diese in Art. 23 GFK bei der Gewährung von Sozialhilfeleistungen für Flüchtlin-
ge die „gleiche Behandlung“ vorsieht wie für eigene Staatsangehörige, für die
entsprechende Wohnsitzauflagen aus fiskalischen Gründen nicht vorgesehen
sind. Daher darf anerkannten Flüchtlingen - anders als Staatenlosen, Kontin-
gentflüchtlingen und sonstigen Inhabern von Aufenthaltserlaubnissen aus völ-
kerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen - die Wahl des Wohnsit-
zes nicht zum Zweck der angemessenen Verteilung der Sozialhilfelasten einge-
schränkt werden (vgl. Urteil vom 15. Januar 2008 a.a.O., jeweils Rn. 18 ff.). Es
ist also entscheidungserheblich, ob Wohnsitzbeschränkungen gegenüber sub-
sidiär Schutzberechtigten zum Zweck der angemessenen Verteilung von So-
zialhilfelasten verhängt werden dürfen.
c) Die gegenüber der Klägerin angeordnete Beschränkung des Wohnsitzes ver-
stößt nicht gegen die völkerrechtlichen Regelungen in Art. 2 des Protokolls
Nr. 4 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
(EMRK) vom 16. September 1963 (BGBl 1968 II S. 423, 1109) und in Art. 12
des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) vom
19. Dezember 1966 (BGBl 1973 II S. 1533, 1976 II S. 1068).
Nach Art. 2 Abs. 1 des Protokolls Nr. 4 zur EMRK hat nur derjenige, der sich
„rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Staates aufhält“, das Recht, sich dort frei zu
bewegen und seinen Wohnsitz frei zu wählen. Nur soweit der Aufenthalt recht-
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mäßig ist, gelten die in Absatz 3 der Vorschrift normierten Grenzen für eine Be-
schränkung der in Absatz 1 gewährten Freiheit. Wurde der Aufenthalt von An-
fang an nur - wie hier - mit der verfügten Wohnsitzbeschränkung gestattet, ist er
auch nur in diesem Umfang rechtmäßig; die aufschiebende Wirkung des gegen
die Wohnsitzauflage eingelegten Rechtsbehelfs verhindert lediglich deren Voll-
ziehung, berührt aber nicht die Wirksamkeit der Wohnsitzauflage. Dass die
räumliche Beschränkung die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts bestimmt, ent-
spricht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrech-
te (vgl. Entscheidung vom 20. November 2007 - Nr. 44294/04 - Omwenyeke/
Deutschland - m.w.N. - ergangen zur räumlichen Beschränkung eines Asylbe-
werbers auf das Gebiet der Stadt Wolfsburg), des vorlegenden Gerichts (vgl.
Urteil vom 19. März 1996 a.a.O. <346> bzw. S. 44) und der Kommentarliteratur
(vgl. Grabenwarter, European Convention on Human Rights - Commentary -
2014, S. 412 Rn. 3). Die Wohnsitzbeschränkung ist dann nicht am Maßstab
einer Einschränkung nach Absatz 3 von Art. 2 des Protokolls Nr. 4 zu messen,
weil sie bereits für den rechtmäßigen Aufenthalt im Sinne von Absatz 1 konstitu-
tiv ist. Das Gleiche gilt für die Auslegung von Art. 12 IPBPR. Denn der Aufent-
halt ist von vornherein nur mit der Wohnsitzauflage rechtmäßig gewesen im
Sinne von Art. 12 Abs. 1 IPBPR. Die Auflage ist daher nicht am Maßstab von
Art. 12 Abs. 3 IPBPR zu messen. Die von den Klägern der Verfahren BVerwG
1 C 1.14 und BVerwG 1 C 7.14 dagegen zitierte Kommentierung zu Art. 12
IPBPR (UN Human Rights Committee (HRC), CCPR General Comment No. 27:
Article 12 (Freedom of Movement), 2 November 1999, CCPR/C/21/Rev.1/Add.9
- marginal 12) bezieht sich auf Art. 12 Abs. 3 IPBPR und nicht auf den hier
maßgeblichen Art. 12 Abs. 1 IPBPR.
Ist die angefochtene Wohnsitzauflage nach nationalem Recht und nach völker-
rechtlichen Normen rechtmäßig, kommt es entscheidungserheblich darauf an,
ob ihr Art. 33 und/oder Art. 29 der Richtlinie 2011/95/EU entgegensteht. Im Ein-
zelnen stellen sich in diesem Zusammenhang die folgenden Vorlagefragen 1
bis 3. Sie bedürfen einer Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen
Union, da er zur Entscheidung auslegungsbedürftiger Fragen der hier maßgeb-
lichen Richtlinie 2011/95/EU berufen ist.
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1. Vorlagefrage:
Geht es im vorliegenden Fall um die Frage, ob die gegenüber einer Person mit
subsidiärem Schutzstatus verfügte Wohnsitzauflage mit Art. 33 der Richtlinie
2011/95/EU vereinbar ist, ist zunächst zu klären, ob eine solche Wohnsitzaufla-
ge überhaupt eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit im Sinne von Art. 33
der Richtlinie 2011/95/EU darstellt, wenn der betroffene Ausländer ansonsten
Freizügigkeit im Mitgliedstaat genießt. In seiner zu Wohnsitzauflagen für Flücht-
linge (Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU) ergangenen Entscheidung
stellte sich diese Frage für das vorlegende Gericht nicht, weil Art. 26 GFK die
freie Wohnsitzwahl ausdrücklich gewährleistet.
a) Der hiervon abweichende Wortlaut des Art. 33 der Richtlinie 2011/95/EU
schließt eine Auslegung nicht aus, wonach unter den Begriff der Bewegungs-
freiheit auch die Freiheit der Wohnsitznahme fällt. Wenig Aussagekraft hat in-
soweit indes die in der deutschen Sprachfassung gewählte Überschrift „Freizü-
gigkeit innerhalb eines Mitgliedstaats“, die für eine weite Auslegung der Bewe-
gungsfreiheit spricht, denn in anderen Sprachfassungen ist nur von „Freedom of
Movement“ oder „Liberté de circulation“ die Rede.
Gegen eine Auslegung, die die Freiheit der Wohnsitzwahl von der Bewegungs-
freiheit erfasst ansieht, könnte streiten, dass in anderen Normen des Unions-
rechts und des Völkerrechts die Wohnsitzwahl und das Recht zum Aufenthalt
gesondert neben der Bewegungsfreiheit garantiert werden. So wird nicht nur in
Art. 26 GFK, sondern auch in Art. 2 des Protokolls Nr. 4 zur EMRK und in
Art. 12 IPBPR die freie Wohnsitzwahl gesondert neben der Bewegungsfreiheit
genannt. Auch andere Regelungen führen die Bewegungsfreiheit und das
Recht zum Aufenthalt nebeneinander auf, wobei das Recht zum Aufenthalt die
Wahl des Wohnsitzes umfasst (Art. 20 und 45 AEUV). Aus der Gesamtschau
der Regelungen ist für das vorlegende Gericht aber offen, ob die Wohnsitzwahl
notwendigerweise ein aliud oder ein Mehr gegenüber der Bewegungsfreiheit
darstellt.
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b) In seiner Rechtsprechung zu Art. 2 des Protokolls Nr. 4 zur EMRK sieht der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Beschränkungen der
Wohnsitzwahl als Einschränkung der Bewegungsfreiheit an. Der EGMR ordnet
Wohnsitzauflagen und andere Einschränkungen der Bewegungsfreiheit einheit-
lich dem Begriff der Bewegungsfreiheit („restrictions à la liberté de circuler“) im
Sinne von Art. 2 des Protokolls zu, obwohl in der Vorschrift das Recht geschützt
wird, sich „frei zu bewegen“ und den „Wohnsitz zu nehmen“ (Urteil vom 20. April
2010 - Nr. 19675/06 - Villa/Italien - Rn. 41 bis 43;
Gegenstand des Urteils ist
auch eine Wohnsitzauflage). Der EGMR sieht sogar zwischen dem Entzug der
Freiheit im Sinne von Art. 5 EMRK und ihrer Einschränkung im Sinne von Art. 2
des Protokolls keinen Wesensunterschied, sondern nur einen graduellen Unter-
schied (différence de degré ou d'intensité - Rn. 41). Auch in seinem Urteil vom
22. Februar 2007 (Nr. 1509/02 - Tatishvili/Russland - Rn. 46) betreffend die
Verweigerung einer Wohnsitzregistrierung gegenüber einem ethnischen Geor-
gier durch Russland („Propiska“) misst der EGMR die Beschränkungen syn-
onym an der „Bewegungsfreiheit“ wie an der „freien Wahl des Wohnsitzes“.
c) Von erheblichem Gewicht für die Auslegung von Art. 33 der Richtlinie
2011/95/EU sind Sinn und Zweck der Regelung. Diese sieht keine unterschied-
liche Behandlung von anerkannten Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtig-
ten vor. Wenn aber Art. 33 der Richtlinie die Bewegungsfreiheit für Flüchtlinge
in gleicher Weise wie für subsidiär Schutzberechtigte regelt und Flüchtlingen
nach Art. 26 GFK die Bewegungsfreiheit und die Freiheit der Wohnsitzwahl ga-
rantiert wird, könnte dies dafür sprechen, dass die durch Art. 33 Richtlinie ge-
schützte Bewegungsfreiheit in ihrem Schutzumfang nicht hinter der des Art. 26
Zielsetzung der Richtlinie 2011/95/EU ist ein gemeinsames europäisches Asyl-
system, dessen Schutzstandards mit den Regelungen der Genfer Flüchtlings-
konvention im Einklang stehen. Das ergibt sich aus der Ermächtigungsgrundla-
ge für den Erlass der Richtlinie, aus ihren Erwägungsgründen und möglicher-
weise auch aus Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie. Diese ist auf Art. 78 Abs. 1 und 2
Buchst. a und b AEUV gestützt. Diese Vorschrift lautet wie folgt (Unterstrei-
chungen durch das vorlegende Gericht):
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Artikel 78
(1) Die Union entwickelt eine gemeinsame Politik im Be-
reich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender
Schutz, mit der jedem Drittstaatsangehörigen, der interna-
tionalen Schutz benötigt, ein angemessener Status ange-
boten und die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-
Zurückweisung gewährleistet werden soll. Diese Politik
muss mit dem Genfer Abkommen vom 28. Juli 1951 und
dem Protokoll vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstel-
lung der Flüchtlinge sowie den anderen einschlägigen
Verträgen im Einklang stehen.
(2) Für die Zwecke des Absatzes 1 erlassen das Europäi-
sche Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Ge-
setzgebungsverfahren Maßnahmen in Bezug auf ein ge-
meinsames europäisches Asylsystem, das Folgendes um-
fasst:
a) einen in der ganzen Union gültigen einheitlichen Asyl-
status für Drittstaatsangehörige;
b) einen einheitlichen subsidiären Schutzstatus für Dritt-
staatsangehörige, die keinen europäischen Asylstatus er-
halten, aber internationalen Schutz benötigen.
Daraus ergibt sich, dass die Richtlinie einen „Asylstatus“ für Drittstaatsangehö-
rige schaffen will (und nicht nur Anerkennungsvoraussetzungen), der „im Ein-
klang steht“ mit der Genfer Flüchtlingskonvention. Das Ziel der vollständigen
Beachtung der Genfer Flüchtlingskonvention kommt auch in Erwägungsgrund
16 der Richtlinie zum Ausdruck. Dieser ergänzt den Erwägungsgrund 10 der
Vorgänger-Richtlinie 2004/83/EG um das Ziel, „die Anwendung der Artikel 1, ...
18, ... der Charta zu fördern“. Nach Art. 18 GR-Charta soll aber das Asylrecht
„nach Maßgabe des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 …“ gewährleistet
werden.
Die Begründung der Kommission für die heutige Richtlinie 2011/95/EU vom
21. Oktober 2009 (KOM(2009)551 endgültig, S. 6 f.) lautet (Unterstreichungen
durch das vorlegende Gericht):
„Mit dem Vorschlag soll vor allem Folgendes erreicht wer-
den:
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- Höhere Schutzstandards bei den Schutzgründen und
dem Inhalt des zu gewährenden Schutzes im Einklang mit
internationalen Normen, insbesondere zur Gewährleistung
der uneingeschränkten und umfassenden Anwendung des
Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechts-
stellung der Flüchtlinge in der Fassung des New Yorker
Protokolls vom 31. Januar 1967 („Genfer Flüchtlingskon-
vention“) und der uneingeschränkten Achtung der EMRK
und der EU-Charta der Grundrechte („EU-Charta“).
Das könnte dafür sprechen, dass auch der Inhalt des durch die Richtlinie zu
gewährenden Schutzes (Art. 20 bis 35) die „uneingeschränkte und umfassende“
Anwendung der GFK sicherstellen soll. Das ist in den Beratungen zur Richtlinie
zu keinem Zeitpunkt in Zweifel gezogen worden.
Bei dieser Auslegung, die sich an den Gewährleistungen der Genfer Flücht-
lingskonvention orientiert, umfasst der Schutz der Bewegungsfreiheit im Sinne
von Art. 33 der Richtlinie 2011/95/EU auch die Freiheit der Wohnsitzwahl und
bleibt insoweit im Schutzniveau nicht hinter Art. 26 GFK zurück. Die Garantie
der Bewegungsfreiheit im Sinne von Art. 33 der Richtlinie gälte dann gemäß
Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie auch in gleicher Weise für anerkannte Flüchtlinge
wie für Personen mit subsidiärem Schutzstatus.
d) Allerdings darf man auch nicht aus dem Blick verlieren, dass der im Kapitel
VII der Richtlinie 2011/95/EU (Art. 20 bis 35) geregelte „Inhalt des internationa-
len Schutzes“ thematisch nicht in vollem Umfang die Gewährleistungen der
Art. 12 bis 34 GFK abdeckt. Darüber hinaus fällt auf, dass nicht nur die Rechte
in Art. 33 der Richtlinie 2011/95/EU (Bewegungsfreiheit) und Art. 26 GFK („Auf-
enthalt zu wählen und sich frei zu bewegen“) unterschiedlich formuliert sind,
sondern auch deren Schranken: Während Art. 33 der Richtlinie als Vergleichs-
gruppe ganz allgemein andere Drittstaatsangehörige heranzieht, die sich
rechtmäßig im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats aufhalten, stellt Art. 26 GFK
insoweit auf die Bestimmungen ab, die allgemein für Ausländer unter den glei-
chen Umständen (vgl. Art. 6 GFK) gelten. Diese Befunde sprechen dagegen,
dass die Richtlinie 2011/95/EU auch die Rechte der Flüchtlinge ohne Notwen-
digkeit eines Rückgriffs auf die Genfer Flüchtlingskonvention selbständig und
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abschließend regeln will. Wenn und soweit die Richtlinie hinter der Genfer
Flüchtlingskonvention zurückbliebe, genössen anerkannte Flüchtlinge weiterhin
deren in nationales Recht transformierten Rechte, da gemäß Art. 20 Abs. 1 der
Richtlinie 2011/95/EU die Bestimmungen dieses Kapitels nicht die in der Genfer
Flüchtlingskonvention verankerten Rechte berühren.
2. Vorlagefrage:
Für den Fall, dass Frage 1 zu bejahen ist, stellt sich die Frage, ob Wohnsitzauf-
lagen nach Art. 33 der Richtlinie 2011/95/EU gegenüber Personen mit subsidiä-
rem Schutzstatus unter den gleichen Bedingungen und Einschränkungen erteilt
werden dürfen wie sie allgemein für Drittstaatsangehörige gelten, die sich
rechtmäßig im Hoheitsgebiet des Aufnahmestaates aufhalten, oder ob insoweit
für Personen mit subsidiärem Schutzstatus dieselben Ausnahmen für räumliche
Beschränkungen gelten, die das Bundesverwaltungsgericht für anerkannte
Flüchtlinge aus Art. 26 GFK hergeleitet hat.
a) Nach Art. 33 der Richtlinie gestatten die Mitgliedstaaten die Bewegungsfrei-
heit „unter den gleichen Bedingungen und Einschränkungen“ wie für andere
Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten.
Maßstab für die Rechtmäßigkeit von Wohnsitzbeschränkungen ist daher, ob sie
auch für andere sich im Bundesgebiet rechtmäßig aufhaltende Drittstaatsange-
hörige angeordnet werden dürfen.
Nach deutschem Aufenthaltsrecht dürfen Wohnsitzauflagen Drittstaatsangehö-
rigen allgemein und ohne Beschränkung auf bestimmte Gruppen auferlegt wer-
den (§ 12 Abs. 2 AufenthG). Nach der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift des
Bundesministeriums des Innern zum Aufenthaltsgesetz vom 26. Oktober 2009
werden sie grundsätzlich gegenüber Inhabern eines Aufenthaltstitels, der aus
völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen erteilt wird, verfügt,
wenn der Begünstigte Leistungen der sozialen Sicherung bezieht. Eine derarti-
ge Einschränkung auf Drittstaatsangehörige, deren Aufenthalt aus völkerrechtli-
chen, humanitären oder politischen Gründen gestattet wird, beruht auf dem im
deutschen Aufenthaltsrecht verankerten Trennungsprinzip. Dieses besagt, dass
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sich die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts und dessen Beschränkungen nach
dem Zweck des Aufenthalts bestimmen, an den der Gesetzgeber in den einzel-
nen Abschnitten des Aufenthaltsgesetzes in unterschiedlicher Weise ausdiffe-
renzierte Regelungen knüpft. Der Aufenthalt zum Zweck der Erwerbstätigkeit
oder zum Zweck der Ausbildung unterliegt deshalb anderen Voraussetzungen
und Beschränkungen als der Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären
oder politischen Gründen. Insbesondere hinsichtlich des Erfordernisses, dass
die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraussetzt, dass der Lebens-
unterhalt gesichert ist, d.h. ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestritten
werden kann (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 Satz 1 und 2 AufenthG), wer-
den Ausländer aus der zuletzt genannten Gruppe im Aufenthaltsgesetz privi-
legiert. So ist gemäß § 5 Abs. 3 Satz 1 AufenthG u.a. bei anerkannten Flücht-
lingen und subsidiär Schutzberechtigten von dem Erfordernis der Lebensunter-
haltssicherung abzusehen. Das macht deutlich, warum die Allgemeine Verwal-
tungsvorschrift bei der Auferlegung von Wohnsitzbeschränkungen wegen des
Bezugs von Leistungen der sozialen Sicherung aus Sicht des vorlegenden Ge-
richts ohne Rechtsverstoß auf Drittstaatsangehörige mit einem Aufenthaltstitel
aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen abstellt und nicht
auf alle Drittstaatsangehörigen ungeachtet des Zwecks ihres Aufenthalts. Denn
bei den übrigen Drittstaatsangehörigen geht der Gesetzgeber prinzipiell davon
aus, dass diese ihren Lebensunterhalt selbst sichern können, so dass kein An-
lass für eine entsprechende Regelung in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift
bestand.
b) Mit Art. 33 der Richtlinie 2011/95/EU könnte es aber unvereinbar sein, Per-
sonen mit subsidiärem Schutzstatus bei der Anordnung von Wohnsitzauflagen
auch dann wie andere Drittstaatsangehörige zu behandeln, wenn und weil an-
erkannte Flüchtlinge insoweit nach der Genfer Flüchtlingskonvention einen
stärkeren Schutz genießen. Denn gegenüber anerkannten Flüchtlingen dürfen
nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Wohnsitzauflagen
nicht allein zum Zweck der angemessenen Verteilung öffentlicher Sozialhilfelas-
ten verfügt werden (Urteil vom 15. Januar 2008 - BVerwG 1 C 17.07 - BVerwGE
130, 148 = Buchholz 402.22 Art. 26 GK Nr. 3, jeweils Rn. 18 ff.). Dies ergibt
sich aus Art. 23 GFK, wonach anerkannte Flüchtlinge bei der Gewährung von
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Leistungen der öffentlichen Fürsorge „die gleiche Behandlung“ erhalten müssen
wie die Staatsangehörigen des Aufnahmestaates. Nach der Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts ist die „gleiche Behandlung“ im Sinne von
Art. 23 GFK ein weit gefasster Ausdruck, der nicht nur die gleichen Leistungen
nach Art und Höhe einschließt, sondern auch voraussetzt, dass in vergleichba-
ren Situationen mit Flüchtlingen nicht anders umgegangen wird als mit den
eigenen Staatsangehörigen.
Eine entsprechende Regelung findet sich in der Richtlinie 2011/95/EU jedoch
nicht. Art. 29 der Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, international schutz-
berechtigten Personen die „notwendige Sozialhilfe“ wie eigenen Staatsangehö-
rigen zu gewähren, fordert jedoch nicht, sie auch hinsichtlich der Modalitäten
der Zahlung gleichzubehandeln, wie das in Art. 23 GFK geregelt ist. Insofern
sieht das vorlegende Gericht einen Unterschied zwischen der allgemein für
international Schutzberechtigte geltenden Regelung des Art. 29 der Richtlinie
2011/95/EU und der auf anerkannte Flüchtlinge beschränkten Regelung des
Art. 23 GFK. Daraus folgt aber nicht notwendigerweise, dass eine unterschiedli-
che Behandlung von anerkannten Flüchtlingen und Personen mit subsidiärem
Schutzstatus bei der Anordnung von Wohnsitzauflagen im Fall des Bezugs öf-
fentlicher Sozialleistungen nach Art. 33 der Richtlinie 2011/95/EU gerechtfertigt
ist. Hierzu bedarf es vielmehr einer Klärung durch den Gerichtshof.
3. Vorlagefrage:
Es bedarf des Weiteren der Klärung, ob eine Wohnsitzauflage gegenüber Per-
sonen mit subsidiärem Schutzstatus mit der Richtlinie 2011/95/EU vereinbar ist,
wenn sie auf migrations- oder integrationspolitische Gründe gestützt wird.
a) Die Allgemeine Verwaltungsvorschrift des Bundesministeriums des Innern
zum Aufenthaltsgesetz vom 26. Oktober 2009 sieht die Verfügung einer Wohn-
sitzauflage gegenüber Ausländern, denen der Aufenthalt aus völkerrechtlichen,
humanitären oder politischen Gründen gestattet wird, im Fall des Bezugs sozia-
ler Leistungen auch dann vor, wenn dies aus migrations- oder integrationspoliti-
schen Gründen geboten erscheint. Erforderlich ist, dass entsprechende Aufla-
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gen dazu beitragen, einer Konzentrierung sozialhilfeabhängiger Ausländer in
bestimmten Gebieten und der damit einhergehenden Entstehung von sozialen
Brennpunkten mit ihren negativen Auswirkungen auf die Integration von Aus-
ländern vorzubeugen. Entsprechende Maßnahmen sind aber auch gerechtfer-
tigt, um Ausländer mit einem besonderen Integrationsbedarf an einen bestimm-
ten Wohnort zu binden, damit sie dort von den Integrationsangeboten Gebrauch
machen können. Auch auf diesen Zweck hat sich die Beklagte bei der Verhän-
gung der im vorliegenden Verfahren streitgegenständlichen Wohnsitzauflage
gegen die Klägerin berufen.
Das vorlegende Gericht hält Wohnsitzauflagen aus den in der Allgemeinen
Verwaltungsvorschrift genannten migrations- und integrationspolitischen Grün-
den auch gegenüber anerkannten Flüchtlingen und Personen mit subsidiärem
Schutzstatus für prinzipiell gerechtfertigt. Für die Rechtmäßigkeit derartiger
Wohnsitzbeschränkungen gegenüber Flüchtlingen spricht unter anderem, dass
bereits die Verfasser der Genfer Flüchtlingskonvention das Bedürfnis für zeitli-
che und räumliche Beschränkungen des Aufenthalts von Flüchtlingen aus mi-
grationspolitischen Gründen für notwendig hielten. Im Rahmen der Beratungen
zum späteren Art. 26 GFK (damals Art. 21 des Entwurfs) im Ad-Hoc-Committee
vom 27. Januar 1950 wiesen Delegierte mehrerer Staaten auf die Notwendig-
keit hin, eine Konzentration von Flüchtlingen in Grenzregionen zum Herkunfts-
staat zu verhindern (Takkenberg/Tahbaz, Travaux Préparatoires, Vol. I,
S. 251 ff. Rn. 74, 76 und 86 f.). Dies wurde unter anderem damit begründet, die
Zahl der in Grenzregionen schon vorhandenen Minderheiten nicht weiter an-
steigen zu lassen und der Gefahr zu begegnen, dass sich die Flüchtlinge an
Bestrebungen beteiligen, die gegen die nationale Einheit gerichtet sind (Rn. 87).
Das Komitee einigte sich schließlich auf die in Art. 26 GFK aufgenommene Re-
gelung, wonach rechtmäßig im Land befindlichen Flüchtlingen nur solche zeitli-
chen und räumlichen Beschränkungen auferlegt werden sollen, die allgemein
für Ausländer gelten (Rn. 93 und 119).
b) Nach der Rechtsprechung des vorlegenden Gerichts, die zur Rechtmäßigkeit
von Wohnsitzauflagen nach der Genfer Flüchtlingskonvention ergangen ist,
reicht jedoch eine bloß abstrakte Möglichkeit migrations- und integrationspoliti-
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scher Gründe nicht aus. Erforderlich ist vielmehr, dass von den zuständigen Be-
hörden die migrations- oder integrationspolitischen Gründe beschrieben, z.B.
mögliche soziale Brennpunkte benannt und die Eignung von Wohnsitzauflagen,
einen Beitrag zur Lösung der Probleme zu leisten, jedenfalls in Umrissen ange-
geben werden, ohne dass die dabei anzuerkennende generelle Einschätzungs-
prärogative der Verwaltung von dieser Darlegungsverpflichtung berührt wird
(vgl. Urteil vom 15. Januar 2008 a.a.O. Rn. 23). Ob diese Grundsätze auch im
Rahmen von Art. 33 der Richtlinie 2011/95/EU gelten, und zwar für Personen
mit subsidiärem Schutzstatus, bedarf einer Entscheidung des Gerichtshofs.
Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Dörig
Prof. Dr. Kraft
Dr. Fleuß
Ri’inBVerwG Dr. Rudolph
ist wegen Urlaubs verhindert
zu unterschreiben.
Prof. Dr. Berlit