Urteil des BVerwG vom 11.02.2004

Politische Verfolgung, Irak, Anerkennung, Anfechtungsklage

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 C 23.02
OVG 9 LB 155/02
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
ohne mündliche Verhandlung am 11. Februar 2004
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r ,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht H u n d und R i c h t e r , die
Richterin am Bundesverwaltungsgericht B e c k und den Richter am Bundes-
verwaltungsgericht Prof. Dr. D ö r i g
für Recht erkannt:
Die Revision des Beigeladenen gegen das Urteil des
Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 21. Juni
2002 wird zurückgewiesen.
Der Beigeladene trägt auch die Kosten des Revisionsverfah-
rens.
G r ü n d e :
I.
Der Beigeladene, ein nach seinen Angaben 1984 in Kirkuk im Zentralirak geborener
irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, erstrebt die Abweisung
der Anfechtungsklage des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten (Bundesbe-
auftragter) gegen seine Anerkennung als politischer Flüchtling nach § 51 Abs. 1
AuslG.
Der Beigeladene kam im Juli 2001 nach Deutschland und beantragte Asyl mit der
Begründung, dass er einen Mitarbeiter des Geheimdienstes in Kirkuk bei einer Aus-
einandersetzung geschlagen habe und deshalb bei einer Rückkehr in sein Heimat-
land hingerichtet würde. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flücht-
linge (Bundesamt) lehnte mit Bescheid vom 11. September 2001 den Antrag auf
Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16 a GG ab, stellte jedoch gleichzeitig
fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich des Irak vorliegen.
Gegen diesen Bescheid hat der Bundesbeauftragte Anfechtungsklage erhoben, der
das Verwaltungsgericht stattgegeben hat. Das Oberverwaltungsgericht hat die dage-
gen gerichtete Berufung des Beigeladenen zurückgewiesen und hierzu ausgeführt,
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dem Beigeladenen stehe asylrechtlicher Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1
AuslG nicht zu. Wegen der von ihm geschilderten tätlichen Auseinandersetzung mit
einem Mitarbeiter des irakischen Sicherheitsdienstes drohe ihm keine politische Ver-
folgung. Er müsse zwar wegen der Stellung eines Asylantrags und seines Aufent-
halts in Deutschland bei der Rückkehr in den Irak mit Verfolgungsmaßnahmen rech-
nen. Für ihn stelle sich der Nordirak aber im Ergebnis als eine inländische Fluchtal-
ternative dar. Er sei dort vor politischer Verfolgung sicher und habe auf Dauer auch
kein Leben unterhalb des Existenzminimums zu erwarten, d.h. ein Leben, das zu
Hunger, Verelendung und schließlich zum Tode führe. Die Gesamtbewertung der
Verhältnisse in den Flüchtlingslagern im Nordirak führe zwar zu dem Ergebnis, dass
eine inländische Fluchtalternative für Zentraliraker, die über kein Beziehungsgeflecht
vor Ort verfügten, nicht generell bestehe. Anders sei dies aber für ledige, arbeitsfähi-
ge männliche Kurden wie den Beigeladenen. Diesem Personenkreis stehe neben der
Versorgung mit Grundnahrungsmitteln über Hilfsprogramme der Vereinten Nationen
die Möglichkeit offen, einen "Job" zu finden und dadurch die Lebenssituation zu
verbessern.
Der Beigeladene macht mit der Revision geltend, entgegen der Auffassung des
Oberverwaltungsgerichts sei nach dem Ergebnis der Anhörung der Sachverständi-
gen in der Berufungsverhandlung nicht davon auszugehen, dass ein lediger, arbeits-
fähiger männlicher Kurde generell die Möglichkeit besitze, nach seiner Übersiedlung
in den Nordirak dort eine Arbeit zu finden. Diese Möglichkeit bestehe nur für Perso-
nen, die im Nordirak über entsprechende Verbindungen verfügten, welche er nicht
habe.
Die Beklagte vertritt die Auffassung, dass sich durch die allgemeinkundigen Ereig-
nisse seit dem Einmarsch der amerikanischen und britischen Truppen im Irak und
der Bildung eines provisorischen Verwaltungsrats der Rechtsstreit nicht erledigt hat.
Vielmehr sei das Ziel der Anfechtungsklage des Bundesbeauftragten nach den
grundlegenden Änderungen der Verhältnisse im Irak erst recht erreichbar. Auf der
Grundlage der vom Berufungsgericht getroffenen Tatsachenfeststellungen verletze
das Urteil Bundesrecht nicht.
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Auch der Bundesbeauftragte ist der Ansicht, dass die Aufhebung des Anerken-
nungsbescheids nunmehr erst recht gerechtfertigt ist.
II.
Der Senat kann mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung
entscheiden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die Revision ist nicht begründet. Das Berufungsurteil verletzt Bundesrecht nicht. Das
Oberverwaltungsgericht hat vielmehr die Berufung des Beigeladenen zu Recht zu-
rückgewiesen, weil der Beigeladene keinen Anspruch auf seine Anerkennung als
politischer Flüchtling nach § 51 Abs. 1 AuslG hat.
Das ergibt sich bereits daraus, dass nach den während des Revisionsverfahrens
eingetretenen allgemeinkundigen Ereignissen im Irak das Regime von Saddam
Hussein durch die amerikanischen und britischen Truppen beseitigt worden ist. Der
Beigeladene hat danach bei einer Rückkehr in den Irak offenkundig nicht mehr mit
der vom Oberverwaltungsgericht allein angenommenen Verfolgung wegen der Stel-
lung eines Asylantrags und längeren Aufenthalts in Deutschland zu rechnen. Diese
Entwicklung kann der Senat nach Anhörung der Beteiligten hierzu im Revisionsver-
fahren berücksichtigen (vgl. zuletzt etwa Urteil des Senats vom 20. Februar 2001
- BVerwG 9 C 20.00 - BVerwGE 114, 16 <25 f.> m.w.N.). Andere Gründe, aus denen
der Beigeladene bei einer Rückkehr in sein Heimatland politischen Verfolgungsmaß-
nahmen ausgesetzt sein könnte, sind auf der Grundlage der Feststellungen des
Oberverwaltungsgerichts auch nicht ersichtlich. Im Übrigen bliebe es dem Beigela-
denen unbenommen, etwaige während des Verfahrens vor dem Senat neu entstan-
dene Verfolgungsgründe mit einem Folgeantrag nach § 71 AsylVfG, § 51 VwVfG gel-
tend zu machen.
Außerdem hat das Oberverwaltungsgericht aber auch nach der Sach- und Rechtsla-
ge im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch des Beigelade-
nen nach § 51 Abs. 1 AuslG ohne Verstoß gegen Bundesrecht verneint. Es hat seine
Entscheidung letztlich auf die Erwägung gestützt, der Beigeladene könne im Nordirak
eine inländische Fluchtalternative finden. Dazu hat es tatrichterlich festgestellt, ledige
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und arbeitsfähige jüngere Männer wie er hätten die Möglichkeit, einen "Job" zu
bekommen und dadurch dem Alltag im Flüchtlingslager und der mangelhaften
Versorgung sowie der Hoffnungslosigkeit allgemein zu entkommen bzw. ihre Le-
benssituation zu verbessern (UA S. 16 f.). Auf dieser nicht mit Verfahrensrügen an-
gegriffenen und für das Bundesverwaltungsgericht bindenden Tatsachengrundlage
(vgl. § 137 Abs. 2 VwGO) ist das Berufungsgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass
dem Beigeladenen eine interne Fluchtalternative in den autonomen Kurdenprovinzen
im Nordirak zur Verfügung steht. Das ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Auf
die Erwägungen des Berufungsgerichts dazu, dass die Lebensumstände in den
Flüchtlingslagern im Nordirak allgemein nicht das zu einem menschenwürdigen Le-
ben erforderliche wirtschaftliche Existenzminimum gewährleisten, kommt es danach
nicht an. Diese Ausführungen sind für die Entscheidung ebenso wenig tragend wie
die Bemerkungen zu den Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern im Nordirak
im Vergleich zu denjenigen im Zentralirak. Sie betreffen außerdem in erster Linie die
dem Tatsachengericht vorbehaltene Feststellung und Würdigung des Sachverhalts
sowie die Subsumtion im jeweiligen Einzelfall und wären auch deshalb einer revisi-
onsrichterlichen Überprüfung nicht zugänglich.
Die vom Oberverwaltungsgericht für die Zulassung der Revision bezeichnete Frage,
ob sich die autonomen Kurdenprovinzen für ledige männliche Kurden als inländische
Fluchtalternative darstellen, sofern diese dort Arbeit aufnehmen und dadurch das in
den Flüchtlingslagern nicht gewährleistete Existenzminimum erreichen können, führt
auch sonst nicht auf eine bisher noch nicht entschiedene, erneut oder ergänzend
klärungsbedürftige Frage des revisiblen Rechts im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1
VwGO. Insbesondere hat das Oberverwaltungsgericht den Maßstab für die Prüfung
einer inländischen Fluchtalternative selbst zutreffend der ständigen höchstrichterli-
chen Rechtsprechung entnommen (seit BVerfGE 80, 315 <343 f.> und BVerwG, Ur-
teil vom 15. Mai 1990 - BVerwG 9 C 17.89 - BVerwGE 85, 139 <140, 146>; vgl. auch
BVerfG, Kammer-Beschluss vom 24. März 1997 - 2 BvR 1024/95 - InfAuslR 1997,
273 und zuletzt BVerwG, Beschluss vom 21. Mai 2003 - BVerwG 1 B 298.02 -
) und ihn angewandt, ohne hierzu in rechtlicher Hinsicht neue Zweifelsfragen
zu formulieren und aufzuzeigen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Kosten werden gemäß
§ 83 b Abs. 1 AsylVfG nicht erhoben; der Gegenstandswert ergibt sich aus § 83 b
Abs. 2 AsylVfG.
Eckertz-Höfer
Hund
Richter
Beck
Prof. Dr. Dörig