Urteil des BVerwG vom 28.04.2015

Öffentliche Sicherheit, Ausweisung, Befristung, Abschiebung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 C 20.14
VGH 11 S 244/14
Verkündet
am 28. April 2015
...
Justizhauptsekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 28. April 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Prof. Dr. Kraft
sowie die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Fricke und Dr. Rudolph
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Ver-
waltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 30. April
2014 geändert, soweit es sich auf die Befristungsent-
scheidung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom
14. Oktober 2013 bezieht. Die Berufung des Klägers ge-
gen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom
7. Januar 2014 - 6 K 4400/13 - wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens und
des Verfahrens erster Instanz (6 K 4400/13); von den Kos-
ten des Berufungsverfahrens tragen der Kläger und der
Beklagte jeweils die Hälfte.
G r ü n d e :
I
Der Kläger, ein italienischer Staatsangehöriger, begehrt die Befristung der Wir-
kungen einer vor Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes gegen ihn verfügten
Ausweisung.
Der 1968 geborene Kläger kam 1981 im Wege des Familiennachzugs nach
Deutschland. Er ist Vater einer inzwischen volljährigen Tochter und lebt seit
1997 mit einer italienischen Staatsangehörigen zusammen. Während seines
Aufenthalts im Bundesgebiet ist er mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getre-
ten, u.a. wurde er 1999 wegen schweren Raubes sowie Führens einer halbau-
tomatischen Selbstladewaffe mit einer Länge von nicht mehr als 60 cm zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Mit bestandskräftigem Be-
scheid vom 21. Oktober 1999 wies das Regierungspräsidium Stuttgart den Klä-
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ger unbefristet aus dem Bundesgebiet aus. Noch in der Strafhaft beging der
Kläger eine vorsätzliche Körperverletzung, wegen der er 2001 zu einer Frei-
heitsstrafe von sechs Monaten verurteilt wurde. Am 1. Februar 2002 wurde er
aus der Haft nach Italien abgeschoben. Zu einem nicht bekannten Zeitpunkt
reiste er in das Bundesgebiet ein und beging im April 2011 gemeinsam mit dem
Sohn seiner Lebensgefährtin eine gefährliche Körperverletzung und im Mai
2012 eine versuchte räuberische Erpressung. Mit Urteil des Landgerichts Stutt-
gart vom 30. Januar 2013 wurde er wegen dieser beiden Taten zu einer Ge-
samtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten verurteilt.
Im Juli 2011 beantragte der Kläger beim Regierungspräsidium Stuttgart, die
Wirkungen seiner Ausweisung auf den 12. Juli 2011 zu befristen. Das Regie-
rungspräsidium Karlsruhe drohte dem Kläger mit Bescheid vom 29. Juli 2013
die Abschiebung nach Italien an; das Regierungspräsidium Stuttgart befristete
mit Bescheid vom 14. Oktober 2013 die Wirkungen der Ausweisung auf den
31. Dezember 2016 (Ziff. 1) und die Wirkungen der Abschiebung auf den Tag
nach erneuter Abschiebung (Ziff. 2).
Mit Urteilen vom 7. Januar 2014 hat das Verwaltungsgericht Stuttgart die auf
Aufhebung der Abschiebungsandrohung und Verpflichtung des Beklagten zur
Befristung der Wirkungen der Ausweisung auf den 31. Januar 2012 gerichteten
Klagen abgewiesen. Auf die Berufungen des Klägers hat der Verwaltungsge-
richtshof Baden-Württemberg mit Urteil vom 30. April 2014 den Bescheid vom
29. Juli 2013 aufgehoben und das beklagte Land unter Aufhebung des Be-
scheids vom 14. Oktober 2013 verpflichtet, die Wirkungen der Ausweisung auf
den 31. Januar 2012 zu befristen. Die Entscheidung wurde hinsichtlich der Be-
fristung damit begründet, dass die gesetzlichen Wirkungen der Ausweisung
weder mit dem Freizügigkeitsgesetz/EU noch durch die Rückführungsrichtlinie
entfallen seien. Letztere sei auch über das unionsrechtliche Diskriminierungs-
verbot auf den Kläger nicht anwendbar, weil eine Ausweisung keine Rückkehr-
entscheidung darstelle. Im Übrigen gehe von ihm eine schwerwiegende Gefahr
für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus, so dass auch nach den für Dritt-
staatsangehörige im Falle einer Rückkehrentscheidung geltenden Maßstäben
ein Einreiseverbot von mehr als fünf Jahren zulässig wäre. Der Kläger habe
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aber nach § 7 Abs. 2 Satz 4 FreizügG/EU Anspruch auf eine Befristung der
Wirkungen der Ausweisung zum 31. Januar 2012. Bei der Bestimmung der Frist
stehe der Behörde kein Ermessen zu. Da über einen Antrag spätestens nach
Ablauf von sechs Monaten zu entscheiden sei, dürften spätere Veränderungen
der tatsächlichen Verhältnisse nicht zu Lasten des Betroffenen berücksichtigt
werden. Außerdem dürften Unionsbürger nicht schlechter gestellt werden als
Drittstaatsangehörige. Auch bei ihnen gelte daher regelmäßig eine Höchstfrist
von zehn Jahren ab Ausreise. Diese Frist könne zwar nachträglich verkürzt
werden; sie werde aber weder durch weitere Straftaten oder unerlaubte Einrei-
sen gehemmt noch bestehe die Möglichkeit einer nachträglichen Verlängerung.
Eine Befristung auf Ende 2016 sei auch unter Verhältnismäßigkeitsgesichts-
punkten nicht gerechtfertigt.
Der Beklagte wendet sich mit seiner Revision gegen seine Verpflichtung zur
(weiteren) Befristung der Wirkungen der Ausweisung und rügt insbesondere
eine Verletzung des § 7 Abs. 2 Satz 4 FreizügG/EU (a.F.). Bei der Sechsmo-
natsfrist handele es sich um eine Bearbeitungsfrist; selbst eine festgesetzte
Frist könne bei einer Änderung der für die Festsetzung maßgeblichen Umstän-
de zu Lasten des Unionsbürgers verändert werden. Zudem gelte keine regel-
mäßige Höchstfrist von zehn Jahren nach erstmaliger Ausreise; der Rechtspre-
chung des Bundesverwaltungsgerichts zu Befristungen nach § 11 Abs. 1
AufenthG sei lediglich zu entnehmen, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung
über eine Befristung nur ein Zeitraum von zehn Jahren prognostisch betrachtet
werden könne.
Der Kläger verteidigt die angegriffene Entscheidung.
II
Die Revision des Beklagten, mit der dieser sich nur gegen die Verpflichtung zur
Befristung der Wirkungen der Ausweisung auf den 31. Januar 2012 wendet, hat
Erfolg. Das Berufungsgericht hat der Festsetzung der Frist für das an die Aus-
weisung des Klägers geknüpfte Einreise- und Aufenthaltsverbot einen Maßstab
zugrunde gelegt, der Bundesrecht verletzt (§ 137 Abs. 1 VwGO). Die maßgebli-
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chen Rechtsfragen hat der Senat in seinem - den Beteiligten bekannten - Urteil
vom 25. März 2015 (- 1 C 18.14 - zur Veröffentlichung in der Entscheidungs-
sammlung BVerwGE vorgesehen) geklärt. Bei Zugrundelegung dieser Grund-
sätze hat der Kläger keinen Anspruch darauf, dass der Beklagte die Wirkungen
der Ausweisung aus dem Jahre 1999 über das im Bescheid vom 14. Oktober
2013 festgesetzte Datum hinaus befristet.
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der begehrten Befristung ist grund-
handlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts, hier also des Berufungs-
gerichts am 30. April 2014 (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 6. März 2014
- 1 C 2.13 - Buchholz 402.242 § 25 AufenthG Nr. 20 Rn. 6). Rechtsänderungen
während des Revisionsverfahrens sind allerdings zu beachten, wenn das Beru-
fungsgericht - entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - sie zu
berücksichtigen hätte (BVerwG, Urteil vom 6. März 2014 - 1 C 2.13 - Buchholz
402.242 § 25 AufenthG Nr. 20 Rn. 6). Als Anspruchsgrundlage für das Befris-
tungsbegehren ist daher nunmehr § 7 Abs. 2 FreizügG/EU i.d.F. des am 9. De-
zember 2014 in Kraft getretenen Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsge-
setzes/EU und weiterer Vorschriften vom 2. Dezember 2014 (BGBl. I S. 1922)
heranzuziehen (BVerwG, Urteil vom 25. März 2015 - 1 C 18.14 - Rn. 10).
1. Die Verpflichtungsklage ist zulässig, insbesondere hat der Kläger ein Rechts-
schutzbedürfnis für sein Begehren.
1.1 Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die gesetzli-
chen Wirkungen der Ausweisung weiterhin andauern und dem Kläger entge-
gengehalten werden können.
a) Die 1999 auf der Grundlage des § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG 1990 i.V.m. § 12
AufenthG/EWG verfügte Ausweisung hatte nach § 8 Abs. 2 Satz 1 AuslG 1990
ein gesetzliches Verbot der Wiedereinreise und des erneuten Aufenthalts im
Bundesgebiet zur Folge. Dieses Verbot erstreckte sich auch auf die aufenthalts-
rechtliche Stellung von EG-Bürgern nach dem Aufenthaltsgesetz/EWG. Dem
gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsrecht war dadurch Rechnung getragen,
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dass der Ausländer spätestens bei Fortfall der die Einschränkung der Freizü-
gigkeit rechtfertigenden Gründe die Befristung der Ausweisungswirkungen ver-
b) Das an die Ausweisung des Klägers geknüpfte Einreise- und Aufenthaltsver-
bot ist nicht durch das Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes/EU am
1. Januar 2005 erloschen. Seitdem können Unionsbürger zwar nicht mehr aus-
gewiesen werden. § 7 Abs. 2 Satz 1 AufenthG sieht im Anschluss an eine Ver-
lustfeststellung, die bei Unionsbürgern an die Stelle der Ausweisung getreten
ist, aber ebenfalls ein Einreise- und Aufenthaltsverbot vor. Der Senat hat bereits
entschieden, dass nach der Übergangsregelung in § 102 Abs. 1 Satz 1
AufenthG und der Rückverweisung in § 11 Abs. 2 FreizügG/EU die Wirkungen
der „Altausweisung“ eines Unionsbürgers grundsätzlich auch nach dem Inkraft-
treten des Freizügigkeitsgesetzes/EU fortbestehen (BVerwG, Urteil vom
4. September 2007 - 1 C 21.07 - BVerwGE 129, 243 Rn. 14 f.).
Nichts anderes ergibt sich aus der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 (Unionsbürgerrichtlinie), an der
auf Unionsebene die fortgeltenden gesetzlichen Rechtswirkungen der Altaus-
weisung zu messen sind. Insbesondere genügt die Befristungsregelung in § 7
Abs. 2 FreizügG/EU, die in sinngemäßer Anwendung auch die fortwirkenden
Rechtsfolgen einer Altausweisung erfasst, den Vorgaben in Art. 32 der Unions-
bürgerrichtlinie hinsichtlich der zeitlichen Wirkungen eines Aufenthaltsverbots
chen Einreise- und Aufenthaltsverbots hat auch die Richtlinie 2008/115/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 (Rückfüh-
rungsrichtlinie) nichts geändert. Diese Richtlinie und ihre nationale Umsetzung
in § 11 Abs. 1 AufenthG finden auf den Kläger als Unionsbürger keine Anwen-
dung (aa). Der Kläger hat - entgegen der Rechtsauffassung des Berufungsge-
richts - auch keinen Anspruch, aufenthaltsrechtlich nicht schlechter behandelt
zu werden als ein Drittstaatsangehöriger in einer vergleichbaren Situation (bb).
Dessen ungeachtet erfüllt er nicht die Voraussetzungen, unter denen einem
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ausgewiesenen Drittstaatsangehörigen das gesetzliche Einreise- und Aufent-
haltsverbot unabhängig von einer Befristung nicht mehr entgegengehalten wer-
den dürfte (cc).
aa) Der personale Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie erfasst nach
Art. 2 Abs. 1 nur Drittstaatsangehörige; auf Unionsbürger ist sie nicht anwend-
bar. Gleiches gilt für die nationale Umsetzung der Rückführungsrichtlinie in § 11
Abs. 1 AufenthG (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG i.V.m. § 1 FreizügG/EU). Diese
Bestimmung findet für nicht (mehr) freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger we-
der über die Rückverweisung in § 11 Abs. 2 FreizügG/EU noch über das Güns-
tigkeitsprinzip des § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU Anwendung (BVerwG, Ur-
teil vom 25. März 2015 - 1 C 18.14 - Rn. 16).
bb) Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, als Unionsbürger nicht schlechter
behandelt zu werden als Drittstaatsangehörige in einer vergleichbaren Situati-
on. Der Senat hat bereits entschieden, dass eine Anwendung der für Dritt-
staatsangehörige geltenden Bestimmungen nicht zur Vermeidung einer unzu-
lässigen Diskriminierung geboten ist. Ein derartiger Anspruch ergibt sich weder
aus Art. 18 Abs. 1 AEUV noch aus Art. 24 Abs. 1 Unionsbürgerrichtlinie, Art. 3
Abs. 1 GG oder Art. 14 EMRK (BVerwG, Urteil vom 25. März 2015 - 1 C 18.14 -
Rn. 17).
cc) Dessen ungeachtet wären selbst bei Anwendung der für Drittstaatangehöri-
ge geltenden Bestimmungen die Wirkungen der gegen den Kläger verfügten
Ausweisung nicht automatisch nach Ablauf von fünf Jahren ab Ausreise erlo-
schen. Insoweit ist das Berufungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass
die Voraussetzungen des § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG i.V.m. Art. 11 Abs. 2 der
Rückführungsrichtlinie für ein über fünf Jahre dauerndes Einreise- und Aufent-
haltsverbot vorliegen. Art. 11 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie verbietet zwar
grundsätzlich die Aufrechterhaltung der Wirkungen unbefristeter Einreiseverbo-
te, die - wie hier - vor dem Zeitpunkt der Anwendbarkeit der Richtlinie verhängt
wurden, soweit sie über die in dieser Bestimmung vorgesehene Höchstdauer
von fünf Jahren hinausgehen. Dies gilt aber nicht, wenn diese Verbote gegen
Drittstaatsangehörige verhängt wurden, die eine schwerwiegende Gefahr für die
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öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit dar-
stellen (EuGH, Urteil vom 19. September 2013 - C-297/12
[ECLI:EU:C:2013:569], Filev und Osmani - Rn. 44). Das ist hier der Fall.
Die Ausweisung des Klägers war damit begründet worden, dass bei ihm die
konkrete Gefahr der Begehung weiterer schwerwiegender Straftaten bestand.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts ging vom Kläger
im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt „weiterhin“ eine schwerwiegende Ge-
fahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus (UA S. 19). Diese nicht nä-
her dargelegte Annahme ist auf der Grundlage des - zwischen den Beteiligten
nicht streitigen - strafbaren Verhaltens des Klägers ohne weiteres nachvollzieh-
bar. Denn der Kläger ist nach Art und Umfang wiederholt und mit erheblicher
Intensität im Bereich der mittleren bis schweren Kriminalität strafrechtlich in Er-
scheinung getreten und hat auch während seiner Inhaftierung und selbst nach
Abschiebung und unerlaubter Wiedereinreise weitere Straftaten begangen, so
dass keine Anhaltspunkte für eine nachhaltige Verhaltensänderung erkennbar
waren.
1.2 Es fehlt auch nicht am Rechtsschutzbedürfnis, weil der Kläger 2002 abge-
schoben worden ist, was nach § 8 Abs. 2 Satz 1 AuslG 1990 ebenfalls zu einem
Einreise- und Aufenthaltsverbot führte. Diese gesetzliche Wirkung ist mit Inkraft-
treten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 entfallen. Seitdem führt
bei Unionsbürgern - wie sich aus § 7 Abs. 2 FreizügG/EU ergibt - nur eine Ver-
lustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU oder in Fällen, in denen das
Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts festgestellt worden ist, inzwischen auch
eine ausdrückliche Untersagung nach § 7 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU, nicht je-
doch allein die Abschiebung zu einem Einreise- und Aufenthaltsverbot
(BVerwG, Urteil vom 25. März 2015 - 1 C 18.14 - Rn. 20). Hat die Abschiebung
des Klägers inzwischen kraft Gesetzes kein Einreise- und Aufenthaltsverbot
(mehr) zur Folge, ergibt sich hieraus zugleich, dass die vom Regierungspräsidi-
um Stuttgart im Bescheid vom 14. Oktober 2013 ausgesprochene Befristung
der Wirkungen der Abschiebung auf den Tag nach erneuter Abschiebung, die
vom Kläger nicht angefochten worden ist, keinerlei Rechtswirkungen entfaltet.
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1.3 Zutreffend ist das Berufungsgericht im Übrigen davon ausgegangen, dass
der Kläger wegen möglicher strafrechtlicher Konsequenzen (vgl. § 9 Abs. 2
FreizügG/EU) ein schutzwürdiges Interesse an einer Befristung für bereits ver-
gangene Zeiträume hat.
2. Die Klage ist aber unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, dass
die Wirkungen der gegen ihn verfügten Ausweisung über den 31. Dezember
2016 hinaus befristet werden.
2.1 Als Anspruchsgrundlage kommt nur § 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU in sei-
ner - während des Revisionsverfahrens in Kraft getretenen - aktuellen Fassung
in Betracht. Danach ist eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU
bereits mit Erlass von Amts wegen zu befristen. Die Vorschrift gewährt Unions-
bürgern einen strikten Rechtsanspruch auf Befristung („ob“). Dies entspricht der
Rechtsprechung des Senats zu § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU a.F. (BVerwG,
Urteil vom 4. September 2007 - 1 C 21.07 - BVerwGE 129, 243 Rn. 18). Nach
der gesetzlichen Systematik handelt es sich aber weiterhin bei der Verlustfest-
stellung und der Befristung ihrer Wirkungen um zwei getrennte Verwaltungsak-
te. Bei einer nach alter Rechtslage unbefristet ergangenen Verlustfeststellung
ist die (nach neuem Recht gebotene) Befristung von Amts wegen nachzuholen.
Entsprechendes gilt für eine vor Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes gegen
einen Unionsbürger unbefristet verfügte Ausweisung (BVerwG, Urteil vom
25. März 2015 - 1 C 18.14 - Rn. 22).
a) Nach § 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU ist die Frist unter Berücksichtigung der
Umstände des Einzelfalles festzusetzen und darf die Dauer von fünf Jahren nur
in den Fällen des § 6 Abs. 1 FreizügG/EU überschreiten. Die neu eingeführte
Höchstfrist von fünf Jahren betrifft nur Fälle, in denen nach § 2 Abs. 7
FreizügG/EU festgestellt worden ist, dass ein Recht auf Einreise und Aufenthalt
nicht besteht, und dem Betroffenen deshalb nach § 7 Abs. 2 Satz 2
FreizügG/EU untersagt worden ist, erneut in das Bundesgebiet einzureisen und
sich darin aufzuhalten. Für Verlustfeststellungen nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU
und ihnen gleichzustellende Altausweisungen ist weiterhin keine Höchstfrist
vorgesehen. Der Gesetzgeber geht nach der Gesetzesbegründung zum Zu-
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wanderungsgesetz davon aus, dass bei Unionsbürgern ein langfristiger Aus-
schluss der Wiedereinreise bei fortbestehender Rückfall- bzw. Gefährdungs-
prognose nicht ausgeschlossen ist (BT-Drs. 15/420 S. 105). Dies gilt auch für
die Neufassung der Vorschrift (BVerwG, Urteil vom 25. März 2015 - 1 C 18.14 -
Rn. 23).
Weitergehende Vorgaben für die Bestimmung der Dauer der Frist ergeben sich
auch nicht aus dem Unionsrecht. Der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom
17. Juni 1997 - C-65/95 und C-111/95 [ECLI:EU:C:1997:300], Shingara und
Radiom - Rn. 39 ff.) und der Unionsbürgerrichtlinie (vgl. Art. 32 der Richtlinie
und die Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH im 27. Erwägungs-
grund) ist für die Bemessung der Sperrfrist nur die Vorgabe zu entnehmen,
dass diese nicht auf Lebenszeit ohne Möglichkeit der Verkürzung festgesetzt
werden darf. Dem wird durch die Möglichkeit der nachträglichen Verkürzung in
§ 7 Abs. 2 Satz 8 FreizügG/EU Rechnung getragen (BVerwG, Urteil vom
25. März 2015 - 1 C 18.14 - Rn. 25).
b) Im Übrigen kann angesichts der nach neuer Rechtslage weitgehend unver-
ändert gebliebenen normativen Vorgaben für die Bestimmung der Dauer der
Frist zur weiteren Konkretisierung auf die Rechtsprechung des Senats zum Be-
fristungsanspruch nach § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU a.F. zurückgegriffen
werden (BVerwG, Urteil vom 25. März 2015 - 1 C 18.14 - Rn. 26 ff. m.w.N.).
Hiernach ist in einem ersten Schritt eine an dem Gewicht des Grundes für die
Verlustfeststellung sowie dem mit der Maßnahme verfolgten spezialpräventiven
Zweck orientierte äußerste Frist zu bestimmen. Hierzu bedarf es der prognosti-
schen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Be-
troffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Verlustfeststellung
zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr mit Blick auf
die im vorliegenden Fall bedeutsame Gefahrenschwelle des § 6 Abs. 1
FreizügG/EU zu tragen vermag. Im Falle einer langfristig fortbestehenden Rück-
fall- bzw. Gefährdungsprognose ist ein langfristiger Ausschluss der Wiederein-
reise nicht ausgeschlossen. Vom gleichen Ansatz ausgehend hat der Senat
zum Befristungsanspruch aus § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ausgeführt, dass in
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der Regel ein Zeitraum von maximal zehn Jahren den Zeithorizont darstellt, für
den eine Prognose realistischerweise noch gestellt werden kann. Weiter in die
Zukunft lässt sich die Persönlichkeitsentwicklung - insbesondere jüngerer Men-
schen - kaum abschätzen, ohne spekulativ zu werden. Diese Aussage gilt auch
für die im Rahmen von § 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU zu treffende Prognose.
Die sich an der Erreichung des Zwecks der Verlustfeststellung orientierende
äußerste Frist muss sich in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h.
unionsrechtlichen Vorgaben und verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen
messen und gegebenenfalls relativieren lassen. Dieses normative Korrektiv bie-
tet ein rechtsstaatliches Mittel dafür, fortwirkende einschneidende Folgen des
Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Be-
troffenen zu begrenzen. Dabei sind insbesondere die in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU
genannten schutzwürdigen Belange des Unionsbürgers in den Blick zu neh-
men. Die Abwägung nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit,
die auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls nach Gewichtung der je-
weiligen Belange vorzunehmen ist, kann im Extremfall auch zu einer Befristung
auf den Jetzt-Zeitpunkt führen.
c) Im Ergebnis ist das Berufungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass
der Ausländerbehörde für die Bestimmung der Länge des Einreise- und Aufent-
haltsverbots kein Auswahlermessen zusteht. Bei Befristungen nach § 11 Abs. 1
Satz 3 AufenthG geht der Senat seit dem Inkrafttreten des Richtlinienumset-
zungsgesetzes 2011 von einer auch hinsichtlich der Dauer der Frist gebunde-
nen Verwaltungsentscheidung aus, die gerichtlich voll überprüfbar ist (BVerwG,
Urteil vom 14. Februar 2012 - 1 C 7.11 - BVerwGE 142, 29 Rn. 33). Diese
Rechtsprechung ist nach der Neufassung des § 7 Abs. 2 FreizügG/EU im De-
zember 2014 und der durch sie bewirkten Aufwertung der Rechtsstellung des
Freizügigkeitsberechtigten angesichts des offenen Wortlauts der Vorschrift auch
auf die Fristbemessung der Einreisesperre nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU
zu übertragen (BVerwG, Urteil vom 25. März 2015 - 1 C 18.14 - Rn. 29).
d) Die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, für die Bemessung der Frist
nach § 7 Abs. 2 FreizügG/EU gelte eine Höchstfrist von zehn Jahren ab Ausrei-
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se, verstößt hingegen gegen Bundesrecht. Der Senat hat bereits zur Befris-
tungsentscheidung nach § 7 Abs. 2 FreizügG/EU a.F. entschieden, dass diese
auf der Grundlage der aktuellen Tatsachengrundlage zu treffen und hierbei
auch das Verhalten des Betroffenen nach der Ausweisung zu würdigen ist
(BVerwG, Urteil vom 4. September 2007 - 1 C 21.07 - BVerwGE 129, 243
Rn. 19). Das Berufungsgericht kann sich zur Stützung seiner Rechtsauffassung
nicht auf die Rechtsprechung des Senats zu § 11 Abs. 1 AufenthG berufen,
wonach in der Regel ein Zeitraum von maximal zehn Jahren den Zeithorizont
darstellt, für den eine Prognose realistischerweise noch gestellt werden kann
(so BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2012 - 1 C 14.12 - Buchholz 402.242
§ 11 AufenthG Nr. 10 Rn. 14). Denn diese zeitliche Grenze ergibt sich allein aus
der begrenzten Prognosefähigkeit und ist daher immer vom Zeitpunkt der Prog-
noseentscheidung aus zu berechnen. Das verkennt das Berufungsgericht,
wenn es die Zehn-Jahres-Frist von dem in der Vergangenheit liegenden Zeit-
punkt der Ausreise berechnet und davon ausgeht, dass es nach Fristablauf
nicht mehr darauf ankomme, ob der Ausweisungszweck noch fortdauere
e) Das Berufungsurteil verstößt auch insoweit gegen Bundesrecht, als das Be-
rufungsgericht davon ausgeht, dass bei Befristungsentscheidungen nach § 7
Abs. 2 FreizügG/EU nach Ablauf von sechs Monaten ab Antragstellung einge-
tretene Veränderungen der tatsächlichen Verhältnisse nicht mehr zu Lasten des
Ausländers berücksichtigt werden dürften. Nach der Neufassung des § 7 Abs. 2
FreizügG/EU gilt die sechsmonatige Bescheidungsfrist nicht für die erstmalige
Befristung (§ 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU), sondern nur für spätere Verkür-
zungsanträge (§ 7 Abs. 2 Satz 8 FreizügG/EU). Dessen ungeachtet ergeben
sich weder aus § 7 Abs. 2 FreizügG/EU noch aus Art. 32 Abs. 1 der Unionsbür-
gerrichtlinie Anhaltspunkte für eine generelle Rückverlagerung des Prognose-
zeitpunkts oder - wie vom Berufungsgericht angenommen - für eine Festschrei-
bung der Entscheidungsgrundlagen zugunsten des Unionsbürgers. Insbesonde-
re kann den einschlägigen Bestimmungen nicht entnommen werden, dass es
sich bei der 6-Monats-Frist um mehr als eine bloße Bearbeitungsfrist zur effek-
tiven Sicherung des unionsrechtlichen Anspruchs auf erneute Prüfung eines
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bestehenden Einreiseverbots nach Änderung der maßgeblichen Umstände
handelt (BVerwG, Urteil vom 25. März 2015 - 1 C 18.14 - Rn. 35).
2.2 In Anwendung dieser Grundsätze hat der Kläger keinen Anspruch darauf,
dass die Wirkungen der Ausweisung weiter befristet werden. Die vom Regie-
rungspräsidium im angegriffenen Bescheid ausgesprochene Befristung auf den
31. Dezember 2016 entspricht im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Ver-
handlung vor dem Berufungsgericht einer Frist von zwei Jahren, acht Monaten
und einem Tag. Diese Frist ist jedenfalls nicht zu Lasten des Klägers zu bean-
standen.
Dem Berufungsurteil ist mit Blick auf die auf der ersten Stufe gebotene Progno-
seentscheidung zu entnehmen, dass vom Kläger weiterhin eine schwerwiegen-
de Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Es fehlen zwar
konkrete Feststellungen zur voraussichtlichen Dauer dieser Gefahr. Auch mit
Blick auf eine mögliche normative Korrektur auf der zweiten Stufe hat das Beru-
fungsgericht keine abschließenden Feststellungen zu den privaten Interessen
des Klägers an einem (weiteren) Aufenthalt in Deutschland getroffen. Nach Ak-
tenlage lagen allerdings für die auf der ersten Stufe gebotene Prognoseent-
scheidung keine Anhaltspunkte für eine in absehbarer Zeit zu erwartende nach-
haltige Verhaltensänderung beim Kläger vor. Weder die Verhängung mehrjähri-
ger Freiheitsstrafen noch die gegen den Kläger ergriffenen aufenthaltsbeen-
denden Maßnahmen konnten ihn davon abhalten, nach seiner unerlaubten Ein-
reise in das Bundesgebiet erneut Straftaten zu begehen. Dies spricht auf der
ersten Stufe für eine langfristig fortbestehende Rückfall- bzw. Gefährdungs-
prognose des Klägers, der sich im maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsent-
scheidung weiterhin in Strafhaft befand. Bei dieser Ausgangslage vermögen
auch die von ihm - im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 82 Abs. 1
AufenthG i.V.m. § 11 Abs. 2 FreizügG/EU - geltend gemachten und auf der
zweiten Stufe zu berücksichtigenden privaten Interessen eine Reduzierung der
vom Regierungspräsidium festgesetzten Frist nicht zu rechtfertigen. Auch wenn
zu Gunsten des Klägers in die Abwägung eingestellt wird, dass er 1981 mit
13 Jahren in das Bundesgebiet eingereist ist, nach seinen Angaben im Beru-
fungsverfahren hier seine italienische Verlobte und seine erwachsene Tochter
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leben und es ihm letztlich nicht gelungen ist, sich nach seiner Abschiebung in
Italien dauerhaft eine eigene Existenz aufzubauen, wiegen diese privaten Be-
lange nicht so schwer, dass unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten trotz
fortdauernder Gefährlichkeit und einer nicht absehbaren nachhaltigen Verhal-
tensänderung eine weitergehende Verkürzung der Frist geboten wäre. Dabei ist
mit Blick auf die effektive Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots im maß-
geblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht von
über 14 Jahren und den Umstand, dass nach der Neuregelung des § 7 Abs. 2
FreizügG/EU die Befristung inzwischen zusammen mit der Verlustfeststellung
zu treffen ist, auch zu berücksichtigen, dass - entgegen der Rechtsauffassung
des Berufungsgerichts - bei fortbestehender Gefährdung, jedenfalls bei Vorlie-
gen der für eine Verlustfeststellung erforderlichen Gefahrenlage, eine einmal
getroffene Befristung von der Ausländerbehörde auch nachträglich zu Lasten
des Unionsbürgers verlängert werden kann (BVerwG, Urteil vom 25. März 2015
- 1 C 18.14 - Rn. 32); umgekehrt hat der Kläger bei einer zukünftigen Verände-
rung der tatsächlichen Umstände zu seinen Gunsten nach Maßgabe des § 7
Abs. 2 Satz 8 FreizügG/EU einen Anspruch auf Aufhebung oder Verkürzung der
festgesetzten Frist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 1 VwGO.
Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Dörig
Prof. Dr. Kraft
Fricke
Dr. Rudolph
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstands wird für das Revisionsverfahren auf 5 000 €
festgesetzt (§ 47 Abs. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG).
Prof. Dr. Berlit
Fricke
Dr. Rudolph
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