Urteil des BVerwG vom 18.03.2003

Unbezahlter Urlaub, Anspruch auf Beschäftigung, Arbeitsmarkt, Seeschifffahrt

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BESCHLUSS
BVerwG 1 C 2.02
Verkündet
OVG 5 Bf 100/97
am 18. März 2003
Battiege
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 18. März 2003
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. M a l l m a n n , H u n d und R i c h t e r ,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht B e c k sowie
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. D ö r i g
beschlossen:
- 2 -
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Es wird gemäß Art. 234 Abs. 1 und 3 EG eine
Vorabentscheidung des Gerichtshofs der
Europäischen Gemeinschaften zu folgenden Fragen
eingeholt:
1. Sind Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich und
Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. Septem-
ber 1980 des durch das Assoziationsabkommen
zwischen der EWG und der Türkei geschaffenen
Assoziationsrats (ARB 1/80) dahin auszulegen,
dass ein türkischer Arbeitnehmer, der seit 1977
länger als 15 Jahre bei wechselnden Arbeitge-
bern in der dem regulären Arbeitsmarkt zuzu-
rechnenden Seeschifffahrt eines Mitgliedstaates
ohne Erfordernis einer Arbeitserlaubnis ord-
nungsgemäß beschäftigt war und in dieser Zeit
die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 erster
Spiegelstrich ARB 1/80 erreicht hat, Anspruch
auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat,
wenn seine Beschäftigung in der Seeschifffahrt
- neben mehrfachen Unterbrechungen wegen Krank-
heit und von der zuständigen Behörde festge-
stellter unverschuldeter Arbeitslosigkeit - in
der Zeit zwischen zwei Beschäftigungsverhält-
nissen 17-mal von einem bis zu siebzig Tagen
(insgesamt ca. 13 Monate) unterbrochen war und
der türkische Arbeitnehmer die längeren Unter-
brechungszeiten nach seinen Angaben bei seiner
Familie in der Türkei verbracht hat, ohne dass
insoweit unverschuldete Arbeitslosigkeit fest-
gestellt worden ist? Kommt es insoweit darauf
an, ob derartige Unterbrechungen berufstypisch
(hier: seefahrtstypisch) sind?
2. Setzt ein Anspruch auf Erteilung einer Auf-
enthaltserlaubnis nach Art. 6 Abs. 1 dritter
Spiegelstrich ARB 1/80 voraus, dass der türki-
sche Arbeitnehmer die Voraussetzungen des
Art. 6 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80
zuvor erfüllt hat? Kommt es insoweit darauf an,
ob ein Wechsel des Arbeitgebers vor Ablauf von
drei Jahren berufstypisch (hier: seefahrtsty-
pisch) ist?
- 3 -
G r ü n d e :
I.
Der 1952 geborene Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger,
war ab August 1977 als Seemann auf verschiedenen deutschen
Seeschiffen bei wechselnden Arbeitgebern tätig und erhielt da-
für - zuletzt bis zum 9. September 1993 - jeweils befristete
Aufenthaltserlaubnisse, deren Gültigkeit auf die Erwerbstätig-
keit in der deutschen Seeschifffahrt beschränkt war. Seine Tä-
tigkeit weist neben Unterbrechungen wegen Krankheit und unver-
schuldeter, behördlich registrierter Arbeitslosigkeit jeweils
in der Zeit zwischen zwei Beschäftigungsverhältnissen siebzehn
Unterbrechungen zwischen einem Tag und siebzig Tagen (in ca.
fünfzehn Jahren etwa dreizehn Monate) auf, die von dem Kläger
verallgemeinernd als Zeiten "unbezahlten Urlaubs" bezeichnet
werden. Nach seinen Angaben hat der Kläger die längeren Unter-
brechungszeiten ab etwa drei Wochen dazu genutzt, seine Fami-
lie in der Türkei zu besuchen, während er die kürzeren Unter-
brechungszeiten in Deutschland verbracht hat, um auf die - zum
Teil verspätete - Ankunft eines Schiffes und den Beginn eines
bereits vereinbarten neuen Beschäftigungsverhältnisses zu war-
ten. Seine Beschäftigungszeiten stellen sich im Einzelnen wie
folgt dar, wobei die als Arbeitszeit gekennzeichneten Zeiträu-
me den Jahresurlaub einschließen:
31.08.1977 - 20.11.1977
Arbeitszeit
21.11.1977 - 27.11.1977
unbezahlter Urlaub
28.11.1977 - 10.02.1978
Arbeitszeit
11.02.1978 - 23.02.1978
krank
24.02.1978 - 06.03.1978
unbezahlter Urlaub
07.03.1978 - 12.09.1978
Arbeitszeit
13.09.1978 - 16.11.1978
unbezahlter Urlaub
17.11.1978 - 14.06.1979
Arbeitszeit
15.06.1979 - 15.08.1979
unbezahlter Urlaub
16.08.1979 - 21.06.1980
Arbeitszeit
19.06.1980 - 06.07.1980
krank
07.07.1980 - 26.07.1980
unbezahlter Urlaub
- 4 -
27.07.1980 - 09.11.1981
Arbeitszeit
10.11.1981 - 03.12.1981
unbezahlter Urlaub
04.12.1981 - 13.04.1982
Arbeitszeit
14.04.1982 - 22.06.1982
unbezahlter Urlaub
23.06.1982 - 06.08.1982
arbeitslos
07.08.1982 - 27.10.1983
Arbeitszeit
28.10.1983 - 01.11.1983
unbezahlter Urlaub
02.11.1983 - 18.05.1984
Arbeitszeit
19.05.1984 - 12.06.1984
unbezahlter Urlaub
13.06.1984 - 14.07.1984
arbeitslos
15.07.1984
unbezahlter Urlaub
16.07.1984 - 23.07.1985
Arbeitszeit
13.06.1985 - 31.07.1986
krank
01.08.1986 - 20.10.1986
arbeitslos
21.10.1986 - 22.02.1987
Arbeitszeit
16.02.1987 - 31.03.1987
krank
01.04.1987 - 06.04.1987
unbezahlter Urlaub
07.04.1987 - 20.06.1988
arbeitslos
21.06.1988 - 17.08.1988
unbezahlter Urlaub
18.08.1988 - 21.11.1988
arbeitslos
22.11.1988 - 14.03.1989
Arbeitszeit
15.03.1989 - 13.04.1989
unbezahlter Urlaub
14.04.1989 - 24.06.1989
Arbeitszeit
25.06.1989 - 02.07.1989
unbezahlter Urlaub
03.07.1989 - 23.09.1989
Arbeitszeit
24.09.1989 - 01.01.1990
krank
02.01.1990 - 31.01.1990
Arbeitszeit
01.02.1990 - 06.02.1990
unbezahlter Urlaub
07.02.1990 - 26.02.1991
Arbeitszeit
27.02.1991 - 02.04.1991
krank
03.04.1991 - 30.11.1991
arbeitslos
01.12.1991
unbezahlter Urlaub
02.12.1991 - 13.01.1992
arbeitslos
14.01.1992 - 14.02.1992
unbezahlter Urlaub
15.02.1992 - 10.09.1992
Arbeitszeit
11.09.1992 - 18.01.1993
krank
Seit dem 18. Januar 1993 ist der Kläger aus gesundheitlichen
Gründen seedienstuntauglich, nicht jedoch generell erwerbsun-
fähig.
1992 beantragte der Kläger die Erteilung einer Aufenthaltser-
laubnis ohne Beschränkung auf eine Erwerbstätigkeit in der
deutschen Seeschifffahrt, um einer unselbständigen Beschäfti-
gung an Land nachgehen zu können. Die Beklagte lehnte den An-
trag ab. Der Widerspruch des Klägers blieb ohne Erfolg. Das
Verwaltungsgericht verpflichtete die Beklagte unter Hinweis
- 5 -
auf Art. 6 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats
EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation - ARB 1/80 -
zur Erteilung der vom Kläger beantragten Aufenthaltserlaubnis.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht
die Klage abgewiesen und zur Begründung u.a. ausgeführt: Der
Kläger könne sich nicht auf Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegel-
strich ARB 1/80 berufen, da er die dort geforderte vierjährige
ununterbrochene Beschäftigung nicht vorweisen könne. Die Zei-
ten "unbezahlter Urlaube" fielen nicht unter Art. 6 Abs. 2
ARB 1/80, sondern führten zum Verlust zuvor erworbener Ansprü-
che. Die fraglichen Zeiträume könnten weder als Urlaub noch
als unverschuldete Arbeitslosigkeit im Sinne des Art. 6 Abs. 2
ARB 1/80 beurteilt werden. Dem seemannstypischen Bedarf nach
Erholungsurlaub werde durch die im deutschen Seemannsgesetz
getroffenen Schutzregelungen hinreichend Rechnung getragen, so
dass es keiner Anerkennung von "Urlaubszeiten ohne Bezüge" im
Rahmen von Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 bedürfe. Auch als Zeiten
"verdeckter" Arbeitslosigkeit ohne behördliche Registrierung
könnten die Unterbrechungen nicht als anspruchsunschädlich ge-
mäß Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 gewertet werden, weil die im
ARB 1/80 festgelegten Fristen für die tatsächliche Beschäfti-
gung auf dem Arbeitsmarkt sonst unterlaufen werden könnten.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner vom Senat zugelas-
senen Revision, mit der er insbesondere die Verletzung von
Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 rügt. Das Oberverwaltungsgericht habe
den Besonderheiten der Seeschifffahrt nicht Rechnung getragen.
Im Gegensatz zu Arbeitsverhältnissen an Land seien Heuerver-
hältnisse regelmäßig befristet. Ein Seemann könne deshalb
nicht ununterbrochen tätig sein. Selbstverständlich könne sich
ein Seemann in den Wartezeiten arbeitslos melden. Dies habe
er, der Kläger, mehrfach getan. Sei aber einem Seemann ein
neues Beschäftigungsverhältnis auf einem Schiff, das erst spä-
ter in Deutschland ankomme, in Aussicht gestellt worden, sei
es wenig sinnvoll, sich arbeitslos zu melden. Dann sei es zu-
- 6 -
mindest verständlich und jedenfalls seefahrtstypisch, derarti-
ge Beschäftigungslücken zu einem Heimaturlaub zu nutzen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom
13. Dezember 2000 aufzuheben und die Berufung der Beklag-
ten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hamburg vom
10. Dezember 1996 zurückzuweisen.
Die Beklagte und der Vertreter des Bundesinteresses beim Bun-
desverwaltungsgericht treten der Revision des Klägers entge-
gen.
Der Kläger hält sich nach wie vor in Deutschland auf; das Be-
rufungsgericht hat ihm vorläufigen Rechtsschutz gegenüber der
Ablehnung seines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltser-
laubnis gewährt.
II.
Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass
der Kläger nach nationalem Recht, insbesondere nach § 10 des
Ausländergesetzes vom 9. Juli 1990 (BGBl I S. 1354, mit nach-
folgenden, hier nicht interessierenden Änderungen) - AuslG -
i.V.m. der Arbeitsaufenthaltsverordnung vom 18. Dezember 1990
(BGBl I S. 2994, gleichfalls mit nachfolgenden, hier nicht in-
teressierenden Änderungen) - AAV - keinen Anspruch auf Ertei-
lung der beantragten Aufenthaltserlaubnis hat. Er kann allen-
falls aufgrund der Übergangsvorschrift des § 11 Abs. 4 AAV
i.V.m. den §§ 7 und 15 AuslG oder gemäß Art. 13 ARB 1/80 (nach
der damaligen Praxis der Härtefallregelung gemäß der "Weisung
Nr. 2/86" der Beklagten) beanspruchen, dass über seinen Antrag
- 7 -
nach pflichtgemäßem Ermessen entschieden wird. Dies bedarf in-
dessen derzeit keiner abschließenden Entscheidung.
Der Senat kann daher auf die Revision des Klägers nur dann die
beantragte Verpflichtung der Beklagten aussprechen, wenn der
Kläger einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 hat. Nach
dieser Bestimmung hat ein türkischer Arbeitnehmer, der dem re-
gulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehört, in diesem
Mitgliedstaat nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung
freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im
Lohn- oder Gehaltsverhältnis.
Keiner weiteren Erörterung bedarf, dass der Kläger während
seiner Beschäftigung in der deutschen Seeschifffahrt dem regu-
lären deutschen Arbeitsmarkt angehört hat und dort ordnungsge-
mäß im Sinne des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 beschäftigt gewesen
ist. Ihm ist durchgehend der Aufenthalt für eine derartige Be-
schäftigung erlaubt worden. Einer Arbeitserlaubnis bedurfte es
für diese Tätigkeit nicht. Ebenfalls keiner weiteren Erörte-
rung bedarf, dass der Kläger die erste der drei Stufen des
Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erreicht hat (erster Spiegelstrich).
Denn er war mehrfach jeweils länger als ein Jahr zusammenhän-
gend bei einem Arbeitgeber beschäftigt. Aus Art. 6 Abs. 1
erster Spiegelstrich ARB 1/80 lässt sich indessen kein An-
spruch auf die vom Kläger begehrte Aufenthaltserlaubnis für
eine Beschäftigung an Land herleiten, da diese Bestimmung nur
einen Anspruch auf Beschäftigung bei dem gleichen Arbeitgeber
vermittelt und nicht festgestellt ist, dass der bisherige Ar-
beitgeber den Kläger an Land beschäftigen könnte.
Ein möglicher Anspruch aus Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich
ARB 1/80 ist auch nicht durch die zwischenzeitliche Entwick-
lung entfallen. Denn es kann nicht davon ausgegangen werden,
- 8 -
dass der Kläger nach Beendigung seiner Tätigkeit in der See-
schifffahrt endgültig aus dem regulären deutschen Arbeitsmarkt
ausgeschieden ist. Das Berufungsgericht hat nicht festge-
stellt, dass der Kläger etwa aus gesundheitlichen Gründen für
die angestrebte Beschäftigung an Land auf dem deutschen Ar-
beitsmarkt nicht mehr zur Verfügung steht. Dass der Kläger
seit Januar 1993 keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgegangen
ist, liegt zumindest auch an seinem derzeitigen aufenthalts-
rechtlichen Status und kann ihm nicht entgegengehalten werden.
Näherer Klärung bedarf, ob der Kläger als dem
regulären deutschen Arbeitsmarkt angehörender Arbeitnehmer
ordnungsgemäß beschäftigt war. Insoweit stellt sich namentlich
die Frage, welche rechtlichen Konsequenzen sich aus den vom
Kläger als "unbezahlter Urlaub" bezeichneten 17 Unterbre-
chungszeiten ergeben, während derer der Kläger einerseits
nicht krank oder arbeitslos gemeldet war und andererseits kein
Beschäftigungsverhältnis bestand (unten 1.). Darüber hinaus
ist klärungsbedürftig, ob ein Anspruch nach Art. 6 Abs. 1
dritter Spiegelstrich ARB 1/80 die vorherige Erfüllung der
Voraussetzungen des zweiten Spiegelstrichs dieser Bestimmung
erfordert (unten 2.). Deshalb ist das Verfahren auszusetzen
und eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen
Gemeinschaften einzuholen.
1. Die von der zuständigen Behörde festgestellten Zeiten un-
verschuldeter Arbeitslosigkeit des Klägers im Sinne von Art. 6
Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80 dürften - vorbehaltlich der Erwägungen
zu unten 2. - entgegen der von dem Vertreter des Bundesinte-
resses vertretenen Auffassung nicht die Berücksichtigung der
zuvor nach Erreichen der ersten Verfestigungsstufe durchlaufe-
nen Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung ausschließen. Ande-
renfalls würde selbst eine sehr kurze Zeit der Arbeitslosig-
keit zum Erlöschen einer derartigen Position führen, was nicht
- 9 -
dem nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europä-
ischen Gemeinschaften bei der Auslegung des ARB 1/80 zu be-
rücksichtigenden Grundsatz der praktischen Wirksamkeit dieses
Beschlusses entsprechen dürfte, der eine möglichst weitgehende
Annäherung der türkischen Arbeitnehmer an die Stellung freizü-
gigkeitsberechtigter EG-Arbeitnehmer bezweckt (vgl. EuGH, Ur-
teil vom 6. Juni 1995, Rs. C-434/93 – Bozkurt - Slg. 1995
I-1475 Rn. 20). Der Umstand, dass Art. 6 Abs. 2 Satz 2
ARB 1/80 auf "erworbene Ansprüche" abstellt, dürfte dem nicht
entgegenstehen.
Hingegen bestehen Zweifel, ob die vom Kläger als "unbezahlter
Urlaub" bezeichneten Unterbrechungszeiten den zuvor nach
Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 erworbenen An-
spruch des Klägers im Sinne des Abs. 2 Satz 2 dieser Vor-
schrift unberührt gelassen haben und auch dem Erwerb eines An-
spruchs nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80
nicht entgegenstehen. Diese beschäftigungslosen Zeiten, die
nach den maßgeblichen Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts
nicht als Urlaub zu qualifizieren sind (vgl. Berufungsurteil
S. 19 f.), stellen weder Zeiten im Sinne von Art. 6 Abs. 2
Satz 1 ARB 1/80 noch längere Krankheitszeiten oder Zeiten un-
verschuldeter behördlich registrierter Arbeitslosigkeit im
Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80 dar.
a) Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat sich
bisher zu derartigen Unterbrechungen nicht ausdrücklich geäu-
ßert. Aus Wortlaut und Zweck des Art. 6 ARB 1/80 lässt sich
nicht eindeutig entnehmen, ob solche Unterbrechungen an-
spruchsschädlich sind. Der Senat ist in seiner bisherigen
Rechtsprechung zwar davon ausgegangen, dass die Aufzählung von
anspruchsunschädlichen Beschäftigungsunterbrechungen in Art. 6
Abs. 2 ARB 1/80 abschließenden Charakter hat (vgl. etwa Urteil
vom 27. Juni 1995 - BVerwG 1 C 5.94 - BVerwGE 99, 28 <33, 34>;
- 10 -
Beschluss vom 12. November 1996 - BVerwG 1 B 195.96 - Buchholz
402.240 § 6 AuslG 1990 Nr. 9 S. 54 <55>; Urteil vom 29. April
1997 - BVerwG 1 C 3.95 - Buchholz, a.a.O., Nr. 10 S. 56 <60>).
Legte man diese Ansicht zugrunde, so käme man mit dem Oberver-
waltungsgericht zu dem Ergebnis, dass dem Kläger kein Anspruch
nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 zusteht. An-
gesichts der seitherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der
Europäischen Gemeinschaften erscheint es aber fraglich, ob an
dieser Auffassung festgehalten werden kann. So hat der Ge-
richtshof in der Sache Nazli eine Beschäftigungsunterbrechung
von mehr als einem Jahr aufgrund von Untersuchungshaft als un-
schädlich für die nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich
ARB 1/80 erworbenen Rechte angesehen (Urteil vom 10. Februar
2000, Rs. C-340/97, Slg. 2000 I-957; vgl. auch Generalanwalt
Mischo, Schlussanträge vom 8. Juli 1999, Rs. C-340/97,
- Nazli - Rz. 27 und 31). Der Europäische Gerichtshof hat in
diesem Zusammenhang darauf abgestellt, ob ein türkischer Ar-
beitnehmer seine Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt eines Mit-
gliedstaates nur vorübergehend unterbrochen hat oder ob er den
Arbeitsmarkt endgültig verlassen hat. Für eine vorübergehende
Unterbrechung spricht es, wenn der Arbeitnehmer innerhalb ei-
nes angemessenen Zeitraums nach der Unterbrechung wieder eine
Beschäftigung gefunden hat. Eine vergleichbare Tendenz ist der
neueren Rechtsprechung des EuGH zu Art. 7 ARB 1/80 zu entneh-
men. Zum Merkmal des dreijährigen ordnungsgemäßen Wohnsitzes
in einem Mitgliedstaat heißt es dort, das Erfordernis eines
grundsätzlich ununterbrochenen Wohnsitzes bedeute nicht, dass
sich der Betroffene nicht aus berechtigten Gründen für einen
angemessenen Zeitraum von diesem Wohnsitz entfernen dürfte;
erst recht habe dies für einen weniger als sechsmonatigen Auf-
enthalt des Betroffenen in seinem Heimatland zu gelten, wenn
dieser Aufenthalt nicht von seinem Willen abhängig war (Urteil
vom 17. April 1997, Rs. C-351/95, - Kadiman - Slg. 1997
I-2133). Auch das Bundesministerium des Innern hat dieser Ent-
wicklung Rechnung getragen und in seinen Allgemeinen Anwen-
- 11 -
dungshinweisen zum ARB 1/80 (AAH-ARB 1/80 Fassung 2002) vom
2. Mai 2002 - InfAuslR 2002, 349 - sowohl die Ableistung des
Wehrdienstes in der Türkei (mit anschließender Wiedereinreise-
frist bis zu drei Monaten) als auch die Inanspruchnahme von
Erziehungsurlaub als anspruchsunschädlich behandelt (2.2.4,
2.7.1, 2.7.5 AAH-ARB 1/80; zur Untersuchungshaft 2.6.6
AAH-ARB 1/80).
Auch im Falle des Klägers könnte es dementsprechend darauf an-
kommen, dass er seine Beschäftigung in der deutschen See-
schifffahrt jeweils nur vorübergehend unterbrochen und den
deutschen Arbeitsmarkt zu keinem Zeitpunkt endgültig verlassen
hat (vgl. dazu auch 2.2.4 AAH-ARB 1/80). So ist er nach den
Feststellungen des Berufungsgerichts im Anschluss an seine
"unbezahlten Urlaube" ganz überwiegend jeweils problemlos und
umgehend neue Beschäftigungsverhältnisse eingegangen.
b) Sollte die Frage 1. zu verneinen sein und einem türkischen
Arbeitnehmer wegen derartiger Unterbrechungszeiten grundsätz-
lich kein Anspruch nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich
ARB 1/80 zustehen, bedarf es der Klärung durch den Gerichtshof
der Europäischen Gemeinschaften, ob trotz der prinzipiellen
Anspruchsschädlichkeit derartiger Unterbrechungen Ausnahmen
anzuerkennen sind, wenn die Unterbrechungen berufstypisch
(hier: seefahrtstypisch) sind. Eine unselbständige, unterge-
ordnete Seemannstätigkeit wie die des Klägers ist rechtlich
durch die Arbeitserlaubnisfreiheit der Tätigkeit gekennzeich-
net. Nähere Feststellungen zur praktischen Ausgestaltung der
Berufstätigkeit von Seeleuten hat das Oberverwaltungsgericht
nicht getroffen. Einiges spricht indessen dafür, dass es sich
regelmäßig um zeitlich befristete Heuerverhältnisse bei wech-
selnden Arbeitgebern handeln dürfte. Geht man hiervon aus, so
unterscheidet sich die Seemannstätigkeit typischerweise von
einer unselbständigen Erwerbstätigkeit an Land, die regelmäßig
- 12 -
durch unbefristete Arbeitsverträge und eine längere Beschäfti-
gung bei demselben Arbeitgeber gekennzeichnet ist. Es kommt
hinzu, dass sich für einen Seemann - wie der Kläger geltend
macht - anders als bei einer Erwerbstätigkeit an Land Warte-
bzw. Unterbrechungszeiten durch die verspätete Ankunft eines
Schiffes ergeben können, für das ihm ein neues Beschäftigungs-
verhältnis in Aussicht gestellt worden ist.
2. Falls der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften bei
der Frage 1. die Unterbrechungszeiten als anspruchsunschädlich
beurteilt, ist weiterhin klärungsbedürftig, inwieweit Ansprü-
che nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 und An-
sprüche nach Art. 6 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 ei-
nen inneren Zusammenhang aufweisen. Es bestehen Zweifel, ob
ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach
Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 voraussetzt, dass
der türkische Arbeitnehmer zuvor die Anforderungen des Art. 6
Abs. 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 erfüllt hat. Wäre dies
anzunehmen, hätte der Kläger die dritte Stufe des ARB 1/80
(dritter Spiegelstrich) nicht erreicht. Denn er kann zwar für
die Zeit seiner Tätigkeit in der deutschen Seeschifffahrt
(mehrfach) eine zusammenhängende Beschäftigung von mehr als
einem Jahr bei einem Arbeitgeber nachweisen, nicht aber eine
dreijährige zusammenhängende Beschäftigung bei demselben Ar-
beitgeber.
a) Für die Annahme, dass das Erreichen der dritten Stufe des
Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 das Durchlaufen der zweiten Stufe des
Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 (zweiter Spiegelstrich) voraussetzt,
gibt es in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
Anhaltspunkte, bisher jedoch keine abschließende Aussage. So
spricht der Gerichtshof von der "Kohärenz" bzw. dem "inneren
Zusammenhang" des durch die drei Spiegelstriche des Art. 6
Abs. 1 ARB 1/80 geschaffenen Systems der "schrittweisen" Ein-
gliederung der türkischen Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt des
- 13 -
Aufnahmemitgliedstaates (vgl. etwa Urteil vom 29. Mai 1997,
Rs. C-386/95 - Eker - Slg. 1997 I-2697, dritter Leitsatz und
Rz. 23 und 25; Urteil vom 30. September 1997, Rs. C-98/96
- Ertanir - Slg. 1997 I-5193, Rz. 31 und 35). An anderer Stel-
le heißt es, Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80 solle verhindern,
dass ein türkischer Arbeitnehmer, der bereits die dritte Stufe
des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erreicht hatte, erneut die in den
drei Spiegelstrichen der Vorschrift vorgesehenen Zeiten ord-
nungsgemäßer Beschäftigung zurücklegen muss (Urteil vom
23. Januar 1997, Rs. C-171/95 - Tetik - Slg. 1997 I-329,
Rz. 39). Andererseits ist der Gerichtshof in der letztgenann-
ten Rechtssache Tetik, die ebenfalls einen türkischen Seemann
betraf, von einem Anspruch nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegel-
strich ARB 1/80 ausgegangen, obwohl der Seemann für seine etwa
achtjährige Tätigkeit in der deutschen Seeschifffahrt keine
dreijährige zusammenhängende Beschäftigung bei demselben Ar-
beitgeber aufzuweisen hatte. Dies könnte dafür sprechen, dass
Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 in gewissen Gren-
zen als eigenständiger Anspruchstatbestand auszulegen ist. So
wird auch in der deutschen Kommentarliteratur zum Ausländer-
recht zum Teil die Auffassung vertreten, dass es sich bei dem
dritten Spiegelstrich des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 um einen ei-
genen Tatbestand handele, der auch durch eine vierjährige Tä-
tigkeit bei wechselnden Arbeitgebern erfüllt werden könne.
b) Sollte die Frage 2. zu bejahen sein und einem türkischen
Arbeitnehmer ein Anspruch nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegel-
strich ARB 1/80 in der Regel schon dann nicht zustehen, wenn
er nicht zuvor - wegen Wechsel des Arbeitgebers - die zweite
Stufe des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 durchlaufen hat, bedarf es
der Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen Gemein-
schaften, ob für einen Anspruch nach Art. 6 Abs. 1 dritter
Spiegelstrich ARB 1/80 (ausnahmsweise) von Bedeutung ist, dass
ein Wechsel des Arbeitgebers vor Ablauf von drei Jahren be-
rufstypisch (hier: seefahrtstypisch) ist. Sollte dies der Fall
- 14 -
sein, wofür einiges spricht, so würde bei türkischen Seeleuten
die dritte Stufe des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 faktisch leerlau-
fen. Es ist fraglich, ob dies dem bereits erwähnten Zweck des
ARB 1/80 gerecht würde, die Stellung türkischer Arbeitnehmer
derjenigen freizügigkeitsberechtigter EG-Arbeitnehmer soweit
wie möglich anzunähern.
Dr. Mallmann Hund Richter
Beck Prof. Dr. Dörig
Sachgebiet:
BVerwGE: ja
Ausländerrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquelle:
ARB 1/80 Art. 6
Stichworte:
Aufenthaltsrecht; türkischer Seemann; Erwerbstätigkeit an
Land; Unterbrechungen der Beschäftigung; unbezahlte Urlaube;
Assoziationsrechte; Arbeitgeberwechsel.
Leitsatz:
Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen
Gemeinschaften zur Klärung insbesondere der Frage, ob die von
einem türkischen Seemann während seiner insgesamt über 15-jäh-
rigen Tätigkeit in der deutschen Seeschifffahrt jeweils zwi-
schen zwei befristeten Beschäftigungsverhältnissen verbrachten
beschäftigungslosen Zeiten im Hinblick auf Art. 6 Abs. 2
ARB 1/80 einem Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaub-
nis nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 entge-
genstehen.
Beschluss des 1. Senats vom 18. März 2003 - BVerwG 1 C 2.02
I. VG Hamburg vom 10.12.1996 - Az.: 20 VG A 6843/93 -
II. OVG Hamburg vom 13.12.2000 - Az.: OVG 5 Bf 100/97 -