Urteil des BVerwG vom 10.07.2012

Ausweisung, Öffentliche Sicherheit, Befristung, Eugh

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 C 19.11
OVG 18 A 855/07
Verkündet
am 10. Juli 2012
Wahl
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 10. Juli 2012
durch die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Prof. Dr. Kraft,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke sowie
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Maidowski
für Recht erkannt:
Die Revision des Klägers gegen den Beschluss des Ober-
verwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen
vom 5. September 2008 wird mit der Maßgabe zurückge-
wiesen, dass der Beklagte verpflichtet wird, die in § 11
Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG genannten gesetzlichen
Wirkungen der Ausweisung auf die Dauer von sieben Jah-
ren zu befristen.
Der Kläger trägt 9/10, der Beklagte 1/10 der Kosten des
Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Der im Jahr 1964 geborene Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, wendet
sich gegen seine unbefristete Ausweisung.
Der Kläger reiste 1976 in das Bundesgebiet zu seinen Eltern ein. Seine Mutter
war von 1969 bis 1982 als Arbeitnehmerin beschäftigt. Nach dem Besuch der
Hauptschule schloss er eine Lehre als Elektrokaufmann ab. Im Dezember 1987
erhielt er eine Aufenthaltsberechtigung. Aus der im März 1988 geschlossenen
Ehe mit einer türkischen Staatsangehörigen sind zwei Töchter hervorgegangen.
Die Ehe wurde mittlerweile geschieden.
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Der Kläger ist mehrfach strafrechtlich aufgefallen: Wegen Vergewaltigung sei-
ner damaligen Ehefrau wurde er im November 2000 zu einer Freiheitsstrafe von
einem Jahr und zwei Monaten auf Bewährung verurteilt. Das Landgericht Kre-
feld verhängte gegen ihn im Oktober 2005 eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei
Jahren und acht Monaten wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen
in 11 Fällen und Körperverletzung. Dem Strafurteil ist zu entnehmen, dass der
Kläger ab Januar 2004 Zeiten berufsbedingter Abwesenheit seiner Ehefrau zur
Vornahme sexueller Handlungen an seiner älteren Tochter ausnutzte. Als er
bemerkte, dass diese trotz des elterlichen Verbots Kontakt zu einem Jungen
hatte, schlug er sie mit der Hand und der Faust ins Gesicht.
Der Beklagte wies den Kläger mit Bescheid vom 2. Mai 2006 aus und drohte
ihm für den Fall nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung in die Türkei an.
Über die Ausweisung des assoziationsberechtigten Klägers sei im Ermessens-
wege zu entscheiden. Wegen der als Niederlassungserlaubnis fortgeltenden
Aufenthaltsberechtigung genieße dieser besonderen Ausweisungsschutz, so
dass er nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und
Ordnung ausgewiesen werden könne. Diese lägen in spezialpräventiver Aus-
prägung vor, denn der Schutz von Kindern vor Sexualdelikten und gewalttätigen
Übergriffen sei eine überragend wichtige Aufgabe der Gemeinschaft und berüh-
re ein Grundinteresse der Gesellschaft. Die den Ausweisungsanlass bildende
Tat wiege schwer; besonders fielen die Ausnutzung der Vertrauensstellung, die
Wehrlosigkeit des Opfers und die Intensität der Tatbegehung ins Gewicht. An-
gesichts der Gesamtpersönlichkeit des Klägers und seines bisherigen Verhal-
tens bestehe eine hohe Wiederholungsgefahr. Er sei einschlägig vorbestraft
und habe weder Einsicht in das begangene Unrecht gezeigt noch seien eine
Aufarbeitung der Geschehnisse und der Versuch einer Überwindung seiner Nei-
gungen erkennbar. Trotz Verwurzelung in den hiesigen Verhältnissen sowie
familiärer Bindungen sei die Ausweisung angesichts der künftig vom Kläger
ausgehenden Gefahren für elementare Rechtsgüter auch mit Blick auf Art. 8
EMRK gerechtfertigt. Die Ausweisung werde zunächst auf unbefristete Zeit
ausgesprochen, da über eine Befristung erst nach positiven Veränderungen in
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der Person des Klägers entschieden werden könne. Den dagegen erhobenen
Widerspruch wies die Bezirksregierung Düsseldorf am 25. August 2006 zurück.
Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit Urteil vom 16. Januar 2007 ab. Die
auf § 55 AufenthG und Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 gestützte Ermessensauswei-
sung sei nicht zu beanstanden, weil der weitere Aufenthalt des Klägers eine
tatsächliche und hinreichend schwere, das Grundinteresse der Gesellschaft
berührende Gefährdung begründe. Die spezialpräventive Ausweisung stütze
sich nicht allein auf die strafrechtliche Verurteilung. Vielmehr bestünden An-
haltspunkte dafür, dass eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit
durch neue Verfehlungen des Klägers drohe, wenn er zu seiner Familie und
damit auch zu seiner jüngeren minderjährigen Tochter in das Umfeld komme,
das seine Straftaten ermöglicht habe. Art. 8 EMRK und Art. 6 GG seien nicht
verletzt, da bei der Abwägung die Art und Schwere der begangenen Straftaten
sowie die Wiederholungsgefahr erheblich zulasten des Klägers ins Gewicht fie-
len.
Während des Berufungsverfahrens hat die Strafvollstreckungskammer mit Be-
schluss vom 7. März 2008 die Aussetzung der Vollstreckung der Restfreiheits-
strafe wegen erhöhter Rückfallgefährdung des Klägers abgelehnt. Die dagegen
erhobene sofortige Beschwerde hat das Oberlandesgericht Düsseldorf mit Be-
schluss vom 13. Mai 2008 verworfen.
Mit Beschluss vom 5. September 2008 hat das Oberverwaltungsgericht die Be-
rufung des Klägers zurückgewiesen. Es hat sich die Begründung des Verwal-
tungsgerichts zu eigen gemacht und darüber hinaus ausgeführt, dass das Aus-
weisungsverfahren nach Durchführung des Widerspruchsverfahrens nicht zu
beanstanden sei. Die Ausweisung sei auch materiell rechtmäßig, denn die Ge-
fahrenprognose habe - bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Beru-
fungsgerichts - weiterhin Bestand. Der Kläger sei in erhöhtem Maße rückfallge-
fährdet. Dies verdeutlichten die Beschlüsse der Strafvollstreckungskammer so-
wie des Oberlandesgerichts Düsseldorf.
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Auf die Revision des Klägers hat der Senat das Verfahren mit Beschluss vom
25. August 2009 - BVerwG 1 C 25.08 - (Buchholz 451.901 Assoziationsrecht
Nr. 53) ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) die
Frage vorgelegt, ob sich der Schutz vor Ausweisung gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB
1/80 zugunsten eines türkischen Staatsangehörigen, der eine Rechtsposition
nach Art. 7 ARB 1/80 gegenüber dem Mitgliedstaat besitzt, in dem er seinen
Aufenthalt in den letzten zehn Jahren gehabt hat, nach Art. 28 Abs. 3 Buchst. a
der Richtlinie 2004/38/EG richtet. Der EuGH hat die Frage mit Urteil vom 8. De-
zember 2011 - Rs. C-371/08 - (Ziebell) in einem Parallelverfahren verneint und
entschieden, dass Art. 14 ARB 1/80 einer Ausweisung nicht entgegensteht, so-
fern das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine tatsächliche
und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft des
Aufnahmemitgliedstaats darstellt und die Maßnahme für die Wahrung dieses
Interesses unerlässlich ist. Der Senat hat daraufhin mit Beschluss vom 20. De-
zember 2011 den Vorlagebeschluss aufgehoben.
Der Kläger rügt mit der Revision eine Verletzung des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie
64/221/EWG (Vier-Augen-Prinzip), das nach der Stand-Still-Klausel des Art. 13
ARB 1/80 weiter anzuwenden sei. Die Befassung der Widerspruchsbehörde im
Nachgang zur Ausweisung genüge dem nicht. Bei der Gefahrenprognose seien
auch nach der letzten Behördenentscheidung eingetretene Veränderungen zu-
gunsten des Klägers zu berücksichtigen, der sich nach der Entlassung aus der
Strafhaft im September 2009 einer psychotherapeutischen Behandlung unter-
zogen und straffrei geführt habe. Klärungsbedürftig sei, was der EuGH in der
Ziebell-Entscheidung mit der Schranke der Unerlässlichkeit der Ausweisung
meine. Im Übrigen verstoße die unbefristete Ausweisung gegen das Übermaß-
verbot sowie Art. 6 GG und Art. 8 EMRK. Der Kläger sei faktischer Inländer, da
er sich wirtschaftlich und sozial integriert habe. Schließlich verletze die Auswei-
sung Art. 24 Abs. 3 der Grundrechte-Charta. Hilfsweise begehrt der Kläger im
Revisionsverfahren, die Wirkungen der Ausweisung mit sofortiger Wirkung zu
befristen. Er habe einen Befristungsanspruch aus der Rückführungsrichtlinie
sowie § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG i.d.F. des Richtlinienumsetzungsgesetzes
2011.
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Der Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung. Der Vertreter des Bun-
desinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat sich am Verfahren beteiligt
und hält die Revision für unbegründet.
II
Die zulässige Revision des Klägers hat nur in geringem Umfang Erfolg. Das
Berufungsgericht hat ohne Verletzung revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO)
die Ausweisung (1.) und die Abschiebungsandrohung (3.) als rechtmäßig ange-
sehen. Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG i.d.F. des während des Revisions-
verfahrens in Kraft getretenen Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 ist der Be-
klagte jedoch zu verpflichten, die in Satz 1 und 2 der Vorschrift genannten Wir-
kungen der Ausweisung auf die Dauer von sieben Jahren zu befristen (2.).
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung, des Befristungsbe-
gehrens und der noch nicht vollzogenen Abschiebungsandrohung ist grundsätz-
lich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung
oder Entscheidung des Tatsachengerichts, hier also des Berufungsgerichts am
5. September 2008 (Urteil vom 15. November 2007 - BVerwG 1 C 45.06 -
BVerwGE 130, 20 Rn. 12 für die Ausweisung; Urteil vom 22. März 2012
- BVerwG 1 C 3.11 - Rn. 13 - zur Veröffentlichung in der Sammlung BVerwGE
vorgesehen - für die Abschiebungsandrohung). Rechtsänderungen während
des Revisionsverfahrens sind allerdings zu beachten, wenn das Berufungsge-
richt - entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - sie zu berück-
sichtigen hätte (Urteil vom 11. Januar 2011 - BVerwG 1 C 1.10 - BVerwGE 138,
371 Rn. 10 m.w.N.). Maßgeblich sind deshalb die Bestimmungen des Aufent-
haltsgesetzes i.d.F. der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I
S. 162), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. Dezember 2011 (BGBl I
S. 3044). Damit sind insbesondere auch die Änderungen durch das Gesetz zur
Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur
Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22. No-
vember 2011 (BGBl I S. 2258) - im Folgenden: Richtlinienumsetzungsgesetz
2011 - zu beachten.
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1. Die Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig.
1.1 Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 55 Abs. 1, § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG
i.V.m. Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-
Türkei vom 19. September 1980 (ANBA 1981, 4 = InfAuslR 1982, 33) - ARB
1/80 -. Denn der Kläger besitzt eine Rechtsposition nach Art. 7 ARB 1/80. Er ist
im Alter von 12 Jahren zum Zweck der Familienzusammenführung erlaubt in
das Bundesgebiet eingereist. Die Vorinstanzen haben festgestellt, dass seine
Mutter von 1969 bis 1982 dem regulären Arbeitsmarkt angehört hat. Der Kläger
hat bei seinen Eltern gelebt und die Mindestaufenthaltszeiten des Art. 7 Satz 1
ARB 1/80 erfüllt. Nach Abschluss der Lehre zum Elektrokaufmann greift auch
Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 zu seinen Gunsten. Demzufolge kann der Kläger gemäß
Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Ver-
halten gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein
Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland darstellt und
die Maßnahme für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist (EuGH, Urteil
vom 8. Dezember 2011 - Rs. C-371/08, Ziebell - NVwZ 2012, 422). Das ist hier
der Fall. Damit liegen auch schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit
und Ordnung i.S.d. § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG vor.
1.2 Der Senat hat bereits in dem Vorlagebeschluss vom 25. August 2009
- BVerwG 1 C 25.08 - (Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 53 Rn. 21) da-
rauf hingewiesen, dass die Vergewaltigung der Ehefrau und der mehrfache se-
xuelle Missbrauch der älteren Tochter einen Ausweisungsanlass von besonde-
rem Gewicht bilden. Das strafrechtlich geahndete persönliche Verhalten des
Klägers begründet eine - über die mit jedem Rechtsverstoß verbundene Stö-
rung der öffentlichen Ordnung hinausgehende - tatsächliche und hinreichend
schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft. Die betroffenen
Schutzgüter der sexuellen Selbstbestimmung und der körperlichen Integrität
nehmen in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Wertordnung
einen sehr hohen Rang ein und lösen - insbesondere bei sexuellem Missbrauch
von Minderjährigen - staatliche Schutzpflichten aus, die sich auch gegen die
Eltern richten.
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In dem Vorlagebeschluss (a.a.O. Rn. 22) hat der Senat des Weiteren ausge-
führt, dass bei bedrohten Rechtsgütern mit einer hervorgehobenen Bedeutung
für die im Rahmen tatrichterlicher Prognose festzustellende Wiederholungsge-
fahr eher geringere Anforderungen gelten (ebenso Urteile vom 2. September
2009 - BVerwG 1 C 2.09 - Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 54 Rn. 17
und vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 30.02 - BVerwGE 121, 297 <305 f.>).
An diesem differenzierenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist in der obergericht-
lichen Rechtsprechung Kritik geäußert worden, da er dem Interesse einer mög-
lichst umfassenden Effektivierung der Grundfreiheiten und der daher gebotenen
engen Auslegung der unionsrechtlichen Rechtsgrundlagen für die Aufenthalts-
beendigung als ultima ratio nicht gerecht werde (VGH Mannheim, Urteile vom
4. Mai 2011 - 11 S 207/11 - NVwZ 2011, 1210 und vom 10. Februar 2012 - 11 S
1361/11 - NVwZ-RR 2012, 492). Dem vermag der Senat schon deshalb nicht zu
folgen, da jede sicherheitsrechtliche Gefahrenprognose nach den allgemeinen
Grundsätzen des Gefahrenabwehrrechts eine Korrelation aus Eintrittswahr-
scheinlichkeit und (möglichem) Schadensausmaß ist. An die Wahrscheinlichkeit
des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer
und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (Urteile vom
6. September 1974 - BVerwG 1 C 17.73 - BVerwGE 47, 31 <40>; vom 17. März
1981 - BVerwG 1 C 74.76 - BVerwGE 62, 36 <39> und vom 3. Juli 2002
- BVerwG 6 CN 8.01 - BVerwGE 116, 347 <356>). Auch die den Gerichten der
Mitgliedstaaten obliegende und auf der Grundlage aller Umstände des Einzel-
falles vorzunehmende Beurteilung, ob das persönliche Verhalten des Betroffe-
nen gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein
Grundinteresse der Gesellschaft darstellt (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011
a.a.O.), kann im Hinblick auf die erforderliche Wahrscheinlichkeit des Scha-
denseintritts den Rang des bedrohten Rechtsguts nicht außer Acht lassen,
denn dieser bestimmt die mögliche Schadenshöhe. Das bedeutet aber nicht,
dass bei hochrangigen Rechtsgütern bereits jede auch nur entfernte Möglichkeit
eine Wiederholungsgefahr begründet. Der Senat hat schon zu § 12 Abs. 3
AufenthG/EWG entschieden, dass im Hinblick auf die Bedeutung des Grund-
satzes der Freizügigkeit an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens
differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit keine zu geringen Anforde-
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rungen gestellt werden dürfen (Urteil vom 27. Oktober 1978 - BVerwG 1 C
91.76 - BVerwGE 57, 61 <65>).
Diesen Maßgaben genügt die von dem Beklagten gestellte und von den Vorin-
stanzen bestätigte Prognose der konkreten Wiederholungsgefahr beim Kläger.
Beklagter und Verwaltungsgericht haben die Tatumstände, die Persönlichkeits-
struktur des Klägers, bei dem Einsicht, Aufarbeitung und Auseinandersetzung
mit dem Geschehenen fehlen, sowie die mangelnde Überwindung seiner Nei-
gungen durch therapeutische Unterstützung umfassend gewürdigt. Das Beru-
fungsgericht hat sich das zu eigen gemacht. Darüber hinaus hat es darauf ab-
gestellt, dass die Strafvollstreckungskammer wegen der erhöhten Rückfallge-
fährdung des Klägers die Aussetzung der Vollstreckung der Reststrafe zur Be-
währung abgelehnt und die Justizvollzugsanstalt sich dahingehend geäußert
hat, dass bereits eine Gewährung von Hafturlaub nicht kalkulierbare Sicher-
heitsrisiken berge. Auf der Grundlage dieser das Revisionsgericht bindenden
tatrichterlichen Feststellungen (§ 137 Abs. 2 VwGO) zur erhöhten Rückfallge-
fährdung des Klägers ist auch nicht ansatzweise zu erkennen, dass das Beru-
fungsgericht seiner Prognose zulasten des Klägers einen zu niedrigen und da-
mit unzutreffenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde gelegt hat. Die aus-
führliche Würdigung der Persönlichkeit des Klägers und die aus konkreten Um-
ständen abgeleitete Wiederholungsgefahr belegen, dass der Beklagte nicht al-
lein die strafrechtliche Verurteilung zum Anlass für die ausschließlich spezial-
präventiv motivierte Ausweisung genommen, sondern die zukünftig vom Kläger
ausgehende Gefahr in den Blick genommen hat.
Entgegen der Auffassung des Klägers rechtfertigt die Zeitspanne, die infolge
der Aussetzung des Verfahrens und der Vorlage an den EuGH zwischen der
Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts und der Verhandlung vor dem Se-
nat verstrichen ist, weder die Berücksichtigung der von ihm vorgetragenen neu-
en tatsächlichen Umstände im Revisionsverfahren noch eine Zurückverweisung
der Sache an das Berufungsgericht. Das Bundesverwaltungsgericht ist - abge-
sehen von Fällen begründeter Verfahrensrügen - entsprechend seiner vor-
nehmlich auf die Rechtsprüfung beschränkten Aufgabenstellung nach § 137
Abs. 2 VwGO an die vom Berufungsgericht in der angefochtenen Entscheidung
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getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden. Diese das Rechtsmittel der
Revision kennzeichnende Beschränkung führt dazu, dass das Revisionsgericht
den Streitfall nicht in gleichem Umfang wie das Berufungsgericht prüft und dass
es deshalb - im Gegensatz zum Berufungsgericht (§ 128 VwGO) - neu vorge-
brachte Tatsachen und Beweismittel nicht berücksichtigt (Urteil vom 3. Juni
1977 - BVerwG 4 C 37.75 - BVerwGE 54, 73 <75>). Dies schließt auch eine
Zurückverweisung der Sache nur wegen nachträglicher Veränderung des ent-
scheidungserheblichen Sachverhalts grundsätzlich aus. Damit soll gleichzeitig
der Gefahr einer „Endlosigkeit“ des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens vorge-
beugt und verhindert werden, dass einer in rechtlicher Hinsicht nicht zu bean-
standenden Berufungsentscheidung nachträglich die Grundlage entzogen wird
(Urteile vom 28. Februar 1984 - BVerwG 9 C 981.81 - Buchholz 402.25 § 1
AsylVfG Nr. 19 S. 48 <51 f.> und vom 20. Oktober 1992 - BVerwG 9 C 77.91 -
BVerwGE 91, 104 <105 f.>).
Die in § 137 Abs. 2 VwGO enthaltene revisionsrechtliche Sperre für die Berück-
sichtigung neuer tatsächlicher Umstände wird nicht dadurch überwunden, dass
Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 für die Ausweisung eines assoziationsberechtigten tür-
kischen Staatsangehörigen das Vorliegen einer gegenwärtigen, d.h. aktuellen
Gefahr verlangt (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 80, 82 und
insbesondere Rn. 84). Damit wird der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung
der Sachlage angesprochen, der infolge der der Verwaltungsgerichtsordnung
zu entnehmenden Trennung zwischen Tatsacheninstanzen und Revisionsin-
stanz nur für Entscheidungen der Tatsachengerichte maßgeblich ist. Denn nur
ihnen obliegt gemäß § 86 Abs. 1 und 2, §§ 108 und 128 VwGO die Erforschung
des Sachverhalts und die Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsa-
chen im Wege freier richterlicher Beweiswürdigung. Diese Trennung der Funk-
tionen von Tatsachen- und Rechtsinstanz wird durch das Unionsrecht nicht mo-
difiziert, da es nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich Auf-
gabe des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten ist, das gericht-
liche Verfahrensrecht auch insoweit zu regeln, als es den Schutz von aus dem
Unionsrecht erwachsenden individuellen Rechten gewährleisten soll. Dabei dür-
fen die prozessrechtlichen Regelungen jedoch nicht weniger günstig ausgestal-
tet sein als bei entsprechenden, nur auf nationales Recht gestützten Rechtsbe-
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helfen (Äquivalenzgrundsatz). Zudem darf nach dem Effektivitätsgrundsatz die
Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht prak-
tisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden (EuGH, Urteile
vom 12. Februar 2008 - Rs. C-2/06, Kempter - Slg. 2008, I-411 Rn. 57 und vom
10. April 2003 - Rs. C-276/01, Steffensen - Slg. 2003, I-3735 Rn. 60 ff. - jeweils
m.w.N.). Beiden Grundsätzen wird die Bindung des Revisionsgerichts aus
§ 137 Abs. 2 VwGO auch in der vorliegenden Fallkonstellation gerecht. Die Er-
öffnung der auf eine reine Rechtskontrolle beschränkten dritten Instanz wider-
spricht auch nicht dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf aus Art. 47
Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh). Denn der
dort niedergelegte Grundsatz effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes eröffnet
dem Einzelnen den Zugang zu einem Gericht und nicht zu mehreren Gerichts-
instanzen (EuGH, Urteil vom 28. Juli 2011 - Rs. C-69/10, Samba Diouf - NVwZ
2011, 1380 Rn. 69). Er verlangt nicht, dass ein nach dem Recht des jeweiligen
Mitgliedstaats eröffnetes Rechtsmittel wie die Revision eine Überprüfung der
Tatsachen auf aktuellem Sachstand ermöglicht. Im Übrigen steht dem Kläger im
Hinblick auf nach der Berufungsentscheidung eingetretene Umstände, die den
Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der von ihm ausgehenden
Gefahr mit sich bringen können, die Möglichkeit zur Beantragung einer Verkür-
zung der von der Ausländerbehörde gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 - 5 AufenthG
bereits mit der Ausweisung festzusetzenden Frist offen (dazu unter 2.).
1.3 Da der Kläger ein assoziationsrechtlich begründetes Aufenthaltsrecht be-
sitzt, darf er nur auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung ausgewiesen
werden. Bei deren gerichtlicher Überprüfung ist auf die Sach- und Rechtslage
im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tat-
sachengerichts abzustellen (EuGH, Urteil vom Urteil vom 8. Dezember 2011
a.a.O. Rn. 84; so bereits Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 29.02 -
BVerwGE 121, 315 <320 f.>). Die Ermessensentscheidung der Ausländerbe-
hörde über den Erlass einer Ausweisung erfordert eine sachgerechte Abwä-
gung der öffentlichen Interessen an der Ausreise mit den privaten Interessen an
einem weiteren Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet. Zugunsten des
Ausländers sind die Gründe für einen besonderen Ausweisungsschutz (§ 56
AufenthG) sowie die Dauer seines rechtmäßigen Aufenthalts und die schutz-
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würdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Auslän-
ders im Bundesgebiet zu berücksichtigen. Außerdem sind die Folgen der Aus-
weisung für die Familienangehörigen des Ausländers, die sich rechtmäßig im
Bundesgebiet aufhalten und mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft leben, in
die Abwägung einzustellen (§ 55 Abs. 3 AufenthG). Die von Art. 2 Abs. 1 GG
sowie Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und Art. 8 EMRK geschützten Belange auf Ach-
tung des Privat- und Familienlebens sind dabei entsprechend ihrem Gewicht
und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in der Gesamt-
abwägung zu berücksichtigen. Das gilt insbesondere bei im Bundesgebiet ge-
borenen und aufgewachsenen Ausländern, zumal wenn sie über keine Bindun-
gen an das Land ihrer Staatsangehörigkeit verfügen.
Mit Blick auf diese Vorgaben hat der Senat bereits im Vorlagebeschluss vom
25. August 2009 (a.a.O. Rn. 24) ausgeführt, dass die Ermessensausübung des
Beklagten nicht zu beanstanden ist. Die gesetzlichen Grenzen des Ermessens
werden angesichts der vom Kläger ausgehenden konkreten Gefahr für die
hochrangigen Rechtsgüter der sexuellen Selbstbestimmung sowie der körperli-
chen Integrität von Frauen in seiner Umgebung nicht überschritten. Es begeg-
net keinen Bedenken, dass der Beklagte das durch den Rechtsgüterschutz ge-
prägte und durch grundrechtliche Schutzpflichten zusätzlich verstärkte öffentli-
che Interesse daran, den Aufenthalt des Klägers zu beenden, höher gewichtet
hat als dessen Interesse an einem Verbleib in Deutschland. Zwar schlägt sein
über dreißigjähriger rechtmäßiger Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland
erheblich zu seinen Gunsten zu Buche. Dennoch ist zu berücksichtigen, dass er
über ausreichende persönliche Bindungen in die Türkei verfügt, so dass ihm die
Ausreise dorthin zumutbar ist. Der Schutz des Familienlebens und der elterli-
chen Sorge genießt hohe Bedeutung, verliert aber an Gewicht, wenn man das
Kindeswohl der minderjährigen Tochter mitberücksichtigt, so dass die Aufent-
haltsbeendigung auch im Hinblick auf Art. 6 GG, Art. 8 EMRK und Art. 24
Abs. 3 der GRCh gerechtfertigt ist. In der Gesamtabwägung aller gegenläufigen
Belange ist die Ausweisung verhältnismäßig und „unerlässlich“ im Sinne der
Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 8. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 86). Denn
mit diesem Begriff hat der Gerichtshof lediglich die gebotene Abwägung der
öffentlichen mit den privaten Interessen des Betroffenen, d.h. dessen tatsäch-
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lich vorliegende Integrationsfaktoren, im Hinblick auf den Grundsatz der Ver-
hältnismäßigkeit angesprochen (ebenso VGH Mannheim, Urteil vom
10. Februar 2012 - 11 S 1361/11 - NVwZ-RR 2012, 492).
1.4 Die weiteren Rügen der Revision sind unbegründet; insbesondere ist das
Ausweisungsverfahren fehlerfrei durchgeführt worden. Zwar war das in Art. 9
Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG enthaltene „Vier-Augen-Prinzip“ auf assozia-
tionsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige zu übertragen (Urteil vom
13. September 2005 - BVerwG 1 C 7.04 - BVerwGE 124, 217 <221 f.> im An-
schluss an EuGH, Urteil vom 2. Juni 2005 - Rs. C-136/03, Dörr und Ünal -
Slg. 2005, I-4759 = NVwZ 2006, 72). In dem hier vorliegenden Fall
hat der Beklagte den angefochtenen Bescheid aber am 2. Mai 2006 und damit
erst nach Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG zum 30. April 2006 (Art. 38
Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG) erlassen. Zu diesem Zeitpunkt galt Art. 9 der
Richtlinie 64/221/EWG nicht mehr; stattdessen ist nunmehr Art. 12 der Richtli-
nie 2003/109/EG als unionsrechtlicher Bezugsrahmen für die Anwendung des
Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 heranzuziehen (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011
a.a.O. Rn. 79). Nach Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109/EG steht langfristig
Aufenthaltsberechtigten zur Überprüfung einer Ausweisung der Rechtsweg of-
fen; die Beteiligung einer unabhängigen Stelle im Ausweisungsverfahren zur
Prüfung der Zweckmäßigkeit der Maßnahme ist nicht vorgeschrieben.
Im Übrigen hat der Gerichtshof vor Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG die
Anwendung des „Vier-Augen-Prinzips“ auf assoziationsberechtigte türkische
Staatsangehörige damit begründet, dass die im Rahmen von Art. 48 EGV ein-
geräumten Rechtspositionen so weit wie möglich auf assoziationsberechtigte
türkische Arbeitnehmer übertragen werden müssen. Um effektiv zu sein, müss-
ten diese (materiellen) Rechte von den türkischen Staatsangehörigen vor den
nationalen Gerichten geltend gemacht werden können. Zur Gewährleistung der
Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes sei es unabdingbar, ihnen die
Verfahrensgarantien zuzuerkennen, die den Staatsangehörigen der Mitglied-
staaten durch das Gemeinschaftsrecht gewährleistet werden. Daher müsse es
ihnen ermöglicht werden, sich u.a. auf Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG zu be-
rufen, da die Verfahrensgarantien untrennbar mit den materiellen subjektiven
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Rechten verbunden seien, auf die sie sich beziehen (EuGH, Urteil vom 2. Juni
2005 a.a.O. Rn. 62 und 67). Da Ausgangspunkt der Betrachtung des Gerichts-
hofs die Verfahrensgarantien sind, die den Staatsangehörigen der Mitgliedstaa-
ten durch das Gemeinschaftsrecht gewährleistet werden, erweist sich seine
Rechtsprechung zur Übertragung auf assoziationsberechtigte türkische Staats-
angehörige schon im Ansatz offen für Fälle von Rechtsänderungen, die die
Stellung der Unionsbürger betreffen. Für diese gewährleistet Art. 31 Abs. 1 der
Richtlinie 2004/38/EG gegen Entscheidungen, die aus Gründen der öffentlichen
Sicherheit oder Ordnung getroffen werden, einen Rechtsbehelf bei einem Ge-
richt und gegebenenfalls bei einer Behörde. Im Rechtsbehelfsverfahren sind
nach Art. 31 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2004/38/EG die Rechtmäßigkeit der
Entscheidung sowie die Tatsachen und die Umstände zu überprüfen, auf denen
die Entscheidung beruht. Nach Satz 2 gewährleistet das Rechtsbehelfsverfah-
ren, dass die Entscheidung insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse ge-
mäß Art. 28 der Richtlinie 2004/38/EG nicht unverhältnismäßig ist. Demzufolge
gebietet Unionsrecht bei Ausweisungen von Unionsbürgern keine behördliche
Kontrolle mehr nach dem „Vier-Augen-Prinzip“. Dann können assoziationsbe-
rechtigte türkische Staatsangehörige nach der dynamisch angelegten Recht-
sprechung des Gerichtshofs zur Übertragung von Rechten auf diese Gruppe
keine bessere verfahrensrechtliche Rechtsstellung beanspruchen.
Demgegenüber beruft sich der Kläger auf die Stillhalteklauseln in Art. 13 ARB
1/80 und Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12. Septem-
ber 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirt-
schaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation
(BGBl 1972 II S. 385) - ZP. Gemäß Art. 13 ARB 1/80 dürfen die Mitgliedstaaten
der Gemeinschaft und die Türkei für Arbeitnehmer und ihre Familienangehöri-
gen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsge-
mäß sind, keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt ein-
führen. Gemäß Art. 41 Abs. 1 ZP werden die Vertragsparteien untereinander
keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienst-
leistungsverkehrs einführen. Aus diesen Stand-Still-Klauseln ergibt sich nach
Auffassung des Klägers, dass Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG bei der
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Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger weiterhin
anzuwenden sei. Dem folgt der Senat nicht.
Gegen die Auffassung des Klägers spricht bereits, dass Art. 13 ARB 1/80 sei-
nem Wortlaut nach nur die Mitgliedstaaten, nicht aber die Europäische Union
verpflichtet. Art. 41 Abs. 1 ZP betrifft sachlich nur Beschränkungen der Nieder-
lassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs, nicht aber die der Ar-
beitnehmerfreizügigkeit zuzurechnende aufenthaltsrechtliche Stellung aus Art. 7
ARB 1/80. Des Weiteren erscheint fraglich, ob die auf den Zugang zum Arbeits-
bzw. Binnenmarkt zugeschnittenen Stand-Still-Klauseln überhaupt Verfahrens-
regelungen bei der Aufenthaltsbeendigung erfassen (vgl. Urteil vom 30. April
2009 - BVerwG 1 C 6.08 - BVerwGE 134, 27 Rn. 20 zu den gesetzlichen Erlö-
schenstatbeständen für Aufenthaltstitel) und ob die Aufhebung des „Vier-
Augen-Prinzips“ mit Blick auf die gerichtliche Überprüfbarkeit nach Art. 12
Abs. 4 der Richtlinie 2003/109/EG eine merkliche Verschlechterung der
Rechtsposition darstellt. Das kann aber dahinstehen, da die weitere Anwen-
dung des Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG auf assoziationsberechtigte türki-
sche Staatsangehörige selbst bei Annahme einer rechtserheblichen Ver-
schlechterung gegen Art. 59 ZP verstoßen würde. Nach dieser Vorschrift darf
der Türkei in den von diesem Protokoll erfassten Bereichen keine günstigere
Behandlung gewährt werden als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten unterei-
nander aufgrund des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft einräumen.
Das wäre aber bei weiterer Anwendung des „Vier-Augen-Prinzips“ im Vergleich
zu den Verfahrensrechten von Unionsbürgern aus Art. 31 Abs. 1 und 3 der
Richtlinie 2004/38/EG - wie oben dargelegt - der Fall.
Im Übrigen entspricht das im vorliegenden Fall durchgeführte Widerspruchsver-
fahren nach §§ 68 ff. VwGO den Anforderungen der in Art. 9 der Richtlinie
64/221/EWG enthaltenen Verfahrensgarantien (Urteil vom 13. September 2005
a.a.O. S. 221 f.). An dieser Rechtsprechung hält der Senat mangels durchgrei-
fender neuer Argumente der Revision fest.
2. Auf den Hilfsantrag des Klägers, mit dem dieser die Befristung der Wirkun-
gen der Ausweisung mit sofortiger Wirkung begehrt, ist die Beklagte zu ver-
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pflichten, die in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG genannten Wirkungen der
Ausweisung auf die Dauer von sieben Jahren zu befristen. Im Übrigen ist der
Antrag unbegründet.
2.1 Der erst in der Revisionsinstanz gestellte Hilfsantrag ist zulässig. Das Ver-
bot der Klageänderung im Revisionsverfahren in § 142 VwGO steht dem nicht
entgegen. Nach Sinn und Zweck der Vorschrift soll sich das Revisionsgericht
grundsätzlich auf die rechtliche Prüfung des in der Vorinstanz bereits erörterten
und aufbereiteten Streitstoffes beschränken, um nicht wegen eines erstmals im
Revisionsverfahren gestellten Klageantrags ohne weitere Rechtsprüfung zu ei-
ner Zurückverweisung gemäß § 144 Abs. 3 Nr. 2 VwGO gezwungen zu sein
(Urteil vom 14. April 1989 - BVerwG 4 C 21.88 - Buchholz 442.40 § 6 LuftVG
Nr. 21 = NVwZ 1990, 260 <261>). Eine solche Situation liegt aber hier nicht vor.
Während des Revisionsverfahrens ist § 11 AufenthG durch das Richtlinienum-
setzungsgesetz 2011 in der Weise geändert worden, dass der Kläger nunmehr
einen Anspruch auf gleichzeitige Befristung der in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2
AufenthG genannten Wirkungen der Ausweisung hat (s.u. 2.2.2). Dieser Ände-
rung des materiellen Rechts trägt der gestellte Hilfsantrag Rechnung. Durch
dessen Einbeziehung wird der Streitstoff auch nicht verändert, da der Befris-
tungsanspruch in tatsächlicher Hinsicht vollumfänglich auf dem gegen die Aus-
weisung gerichteten Anfechtungsbegehren aufbaut (vgl. Urteil vom 26. Januar
1995 - BVerwG 3 C 21.93 - BVerwGE 97, 331 <342>).
2.2 Der Hilfsantrag ist nur in geringem Umfang begründet. Nach § 11 Abs. 1
Satz 1 AufenthG n.F. darf ein Ausländer, der ausgewiesen worden ist, nicht er-
neut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten. Ihm wird nach
Satz 2 der Vorschrift auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs
nach diesem Gesetz kein Aufenthaltstitel erteilt. Satz 3 der Vorschrift ordnet an,
dass diese kraft Gesetzes eintretenden Wirkungen auf Antrag befristet werden.
Die Frist ist gemäß Satz 4 unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls
festzusetzen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer auf-
grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn
von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ord-
nung ausgeht. Bei Bemessung der Länge der Frist wird berücksichtigt, ob der
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Ausländer rechtzeitig und freiwillig ausgereist ist (Satz 5). Die Frist beginnt nach
Satz 6 mit der Ausreise. Nach Satz 7 erfolgt keine Befristung, wenn ein Auslän-
der wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens
oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder aufgrund einer Ab-
schiebungsanordnung nach § 58a AufenthG aus dem Bundesgebiet abgescho-
ben wurde.
2.2.1 Seit Inkrafttreten des § 11 AufenthG in der Neufassung des Richtlinien-
umsetzungsgesetzes 2011 haben Ausländer grundsätzlich einen Anspruch da-
rauf, dass die Ausländerbehörde mit einer Ausweisung zugleich das daran ge-
knüpfte gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot sowie die Titelerteilungs-
sperre befristet (Weiterentwicklung der Rechtsprechung im Urteil vom
14. Februar 2012 - BVerwG 1 C 7.11 - juris Rn. 28 f.). Das ergibt sich aus fol-
genden Erwägungen:
Die Regelungen zur Befristung der Wirkungen einer Ausweisung und Abschie-
bung sind seit dem Ausländergesetz 1965 kontinuierlich zugunsten der betrof-
fenen Ausländer verbessert worden. Gemäß § 15 Abs. 1 Satz 2 AuslG 1965
stand die Befristung der Wirkungen von Ausweisung und Abschiebung noch
vollumfänglich im Ermessen der Ausländerbehörde. § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG
1990 sah vor, dass auf Antrag eine Befristung in der Regel erfolgte (ebenso
§ 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG 2004); die Länge der Frist lag im Auswahlermes-
sen der Behörde. Diese Entwicklung belegt die gewachsene Sensibilität des
Gesetzgebers für die Verhältnismäßigkeit der gesetzlichen Wirkungen der Aus-
weisung in zeitlicher Dimension angesichts der einschneidenden Folgen für die
persönliche Lebensführung des Ausländers und die ihn ggf. treffenden sozialen,
familiären und wirtschaftlichen Nachteile (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18. Juli
1979 - 1 BvR 650/77 - BVerfGE 51, 386 <398 ff.>). Denn typischerweise genügt
eine zeitlich befristete Ausweisung zur Erreichung der mit dieser ordnungsrecht-
lichen Maßnahme verfolgten präventiven Zwecke (Urteile vom 7. Dezember
1999 - BVerwG 1 C 13.99 - BVerwGE 110, 140 <147> und vom 11. August
2000 - BVerwG 1 C 5.00 - BVerwGE 111, 369 <371 ff.>).
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- 18 -
Die Befristung der Wirkungen der Ausweisung setzte nach den bisher gelten-
den Vorschriften grundsätzlich die vorherige Ausreise des Ausländers voraus
(Beschluss vom 17. Januar 1996 - BVerwG 1 B 3.96 - Buchholz 402.240 § 45
AuslG 1990 Nr. 5; Urteil vom 7. Dezember 1999 a.a.O. S. 147; vgl. auch
BTDrucks 11/6321 S. 57 zu § 8 Abs. 2 AuslG 1990). Die gesetzliche Systematik
von Ausweisung und Befristung war zweitaktig angelegt, da im Zeitpunkt des
Erlasses einer (auch) spezialpräventiv motivierten Ausweisung typischerweise
kaum zu prognostizieren ist, wie der Betroffene sich zukünftig verhalten wird.
Das Verhalten nach der Ausweisung ist aber neben dem Gewicht des Auswei-
sungsgrundes, der Berücksichtigung des Ausweisungszwecks und der Folgen-
betrachtung im Hinblick auf das Übermaßverbot einer der für die Fristbestim-
mung maßgeblichen Faktoren (Urteil vom 11. August 2000 a.a.O. S. 372 ff.).
Die im Gesetz angelegte Trennung von Ausweisung einerseits und Befristung
ihrer Wirkungen andererseits hat zur Folge, dass eine fehlerhafte Befristungs-
entscheidung nicht zur Rechtswidrigkeit der Ausweisung führt, sondern selbst-
ständig angreifbar ist (Beschlüsse vom 31. März 1981 - BVerwG 1 B 853.80 -
Buchholz 402.24 § 15 AuslG Nr. 3 und vom 10. Dezember 1993 - BVerwG 1 B
160.93 - Buchholz 402.240 § 47 AuslG 1990 Nr. 2; Urteil vom 14. Februar 2012
a.a.O. Rn. 30).
Der Senat hat bereits zur früheren Rechtslage mehrfach entschieden, dass die
Ausländerbehörde zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung im
Einzelfall auch von Amts wegen verpflichtet sein kann, die Wirkungen der Aus-
weisung schon bei Erlass der Ausweisung zu befristen. Ob dies erforderlich
war, hing bei einer spezialpräventiven Ausweisung von den gesamten Umstän-
den des Einzelfalles, insbesondere dem Ausmaß der von dem Ausländer aus-
gehenden Gefahr, der Vorhersehbarkeit der zukünftigen Entwicklung dieser
Gefahr und den schutzwürdigen Belangen des Ausländers und seiner Angehö-
rigen ab (Urteile vom 15. März 2005 - BVerwG 1 C 2.04 - Buchholz 451.901
Assoziationsrecht Nr. 42, vom 23. Oktober 2007 - BVerwG 1 C 10.07 -
BVerwGE 129, 367 Rn. 18 und vom 2. September 2009 - BVerwG 1 C 2.09 -
Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 54 Rn. 25 sowie Beschluss vom
20. August 2009 - BVerwG 1 B 13.09 - Buchholz 402.242 § 11 AufenthG Nr. 4
Rn. 8). Bei einer allein generalpräventiv motivierten Ausweisung eines Auslän-
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ders mit besonderem Ausweisungsschutz war es demgegenüber regelmäßig
geboten, über die Befristung der Wirkungen der Ausweisung von Amts wegen
zugleich mit der Ausweisung zu entscheiden. Denn in diesen Fällen lässt sich
bereits in dem für die Ausweisung maßgeblichen Zeitpunkt beurteilen, wie lange
der Betroffene unter Berücksichtigung seiner schutzwürdigen privaten Belange
vom Bundesgebiet ferngehalten werden muss, um die notwendige generalprä-
ventive Wirkung zu erzielen, so dass es unverhältnismäßig wäre, ihn über die-
sen für seine Lebensplanung wichtigen Umstand im Unklaren zu lassen (Urteil
vom 14. Februar 2012 a.a.O. Rn. 29). Sowohl bei der generalpräventiven als
auch bei der spezialpräventiven Ausweisung kann der Grundsatz der Verhält-
nismäßigkeit i.V.m. Art. 6 GG ausnahmsweise sogar die Befristung der Sperr-
wirkung einer Ausweisung „auf Null“ gebieten, ohne dass der Ausländer zur
vorherigen Ausreise verpflichtet ist (Urteil vom 4. September 2007 - BVerwG
1 C 43.06 - BVerwGE 129, 226 LS 4 und Rn. 28).
Das Richtlinienumsetzungsgesetz 2011 hat die Rechtslage für die betroffenen
Ausländer weiter verbessert: § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n.F. verschafft dem
Betroffenen nunmehr - vorbehaltlich der Ausnahmen in Satz 7 der Vorschrift -
einen uneingeschränkten, auch hinsichtlich der Dauer der Befristung voller ge-
richtlicher Überprüfung unterliegenden Befristungsanspruch (Urteil vom
14. Februar 2012 a.a.O. Rn. 32 f. - zur Veröffentlichung in der Sammlung
BVerwGE vorgesehen). Zugleich ist hinsichtlich der Dauer der Frist geregelt,
dass diese unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles festzusetzen
ist und fünf Jahre nur überschreiten darf, wenn der Ausländer aufgrund einer
strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder von ihm eine
schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht
(§ 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG n.F.).
Diese Änderungen des § 11 AufenthG dienen der Umsetzung der Richtlinie
2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember
2008 - Rückführungsrichtlinie (ABl EU Nr. L 348 vom 24. Dezember 2008
S. 98). Diese Richtlinie, die auf Art. 63 Abs. 3 Buchst. b EG (jetzt: Art. 79 Abs. 2
Buchst. c AEUV) gestützt ist und die illegale Einwanderung bekämpfen soll,
ergänzt die Migrationspolitik um eine wirksame Rückkehrpolitik mit klaren,
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transparenten und fairen Vorschriften (4. Erwägungsgrund). Die Richtlinie findet
gemäß Art. 2 Abs. 1 - vorbehaltlich der Opt-out-Klausel in Absatz 2 der Vor-
schrift - Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige
Drittstaatsangehörige. Dabei kommt es nicht darauf an, ob diese die Vorausset-
zungen für die Einreise bzw. den Aufenthalt nicht oder nicht mehr erfüllen
(5. Erwägungsgrund). Im Einklang mit allgemeinen Grundsätzen des EU-Rechts
sollen Entscheidungen gemäß dieser Richtlinie auf Grundlage des Einzelfalls
und anhand objektiver Kriterien getroffen werden (6. Erwägungsgrund). Um die
Interessen der Betroffenen wirksam zu schützen, sollen für Entscheidungen in
Bezug auf die Rückkehr eine Reihe gemeinsamer rechtlicher Mindestgarantien
gelten (11. Erwägungsgrund). Die Wirkung der einzelstaatlichen Rückfüh-
rungsmaßnahmen soll einen europäischen Zuschnitt erhalten (14. Erwägungs-
grund). Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie definiert die Rückkehrentscheidung als die
behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale
Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflich-
tung auferlegt oder festgestellt wird. Rückkehrentscheidungen gehen in den in
Art. 11 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie genannten Fällen mit einem Einreiseverbot
einher; gemäß Satz 2 der Vorschrift können sie in anderen Fällen mit einem
Einreiseverbot einhergehen. Das Einreiseverbot definiert Art. 3 Nr. 6 der Richt-
linie als die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der
die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt
für einen bestimmten Zeitraum untersagt werden und die mit einer Rückkehr-
entscheidung einhergeht. Die Dauer des Einreiseverbots wird gemäß Art. 11
Abs. 2 Satz 1 der Richtlinie in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzel-
falls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Die Dauer des
Einreiseverbots kann jedoch nach Satz 2 der Vorschrift fünf Jahre überschrei-
ten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffent-
liche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt.
Verfahrensrechtlich garantiert Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie die Möglichkeit der
Einlegung eines wirksamen Rechtsbehelfs gegen Entscheidungen nach Art. 12
Abs. 1 der Richtlinie, also Rückkehrentscheidungen sowie ggf. Entscheidungen
über ein Einreiseverbot oder eine Abschiebung.
- 21 -
Die Begründung des Gesetzentwurfs zum Richtlinienumsetzungsgesetz 2011
geht davon aus, dass große Teile der in der Rückführungsrichtlinie enthaltenen
Vorgaben durch die Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes zur Aufenthaltsbeen-
digung bereits erfüllt werden. Da die Richtlinie - anders als das geltende Auf-
enthaltsrecht mit der Differenzierung zwischen Ausreisepflichten kraft Verwal-
tungsakts und kraft Gesetzes - eine „Rückkehrentscheidung“ verlange, an die
unterschiedliche prozedurale bzw. formelle Garantien geknüpft würden, seien
punktuelle gesetzliche Anpassungen erforderlich. Diese erfolgten jedoch inner-
halb der geltenden Systematik, indem sie an den die Ausreisepflicht begrün-
denden Verwaltungsakt (z.B. Ausweisung) oder an die Abschiebungsandrohung
nach § 59 des Aufenthaltsgesetzes geknüpft würden. Die Umsetzung der Rück-
führungsrichtlinie erfordere darüber hinaus die Einführung einer Regelober-
grenze von fünf Jahren für die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots
gemäß § 11 AufenthG (BTDrucks 17/5470 S. 17).
Das macht deutlich, dass sich der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 11
AufenthG auch hinsichtlich der in Absatz 1 Satz 1 und 2 der Vorschrift genann-
ten gesetzlichen Folgen der Ausweisung und deren Befristung an den unions-
rechtlichen Vorgaben für eine Rückkehrentscheidung orientiert hat. Im Rege-
lungsmodell der Richtlinie ist das Einreiseverbot jedoch als antragsunabhängi-
ge, mit einer Rückkehrentscheidung von Amts wegen einhergehende Einzelfall-
entscheidung ausgestaltet, in der die Dauer der befristeten Untersagung des
Aufenthalts in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt
wird (Art. 3 Nr. 6 i.V.m. Art. 11 Abs. 1 und 2 Satz 1 der Richtlinie). Aus der Ab-
sicht des Gesetzgebers, dieses Modell trotz der beibehaltenen systematischen
Trennung von Ausweisung und Befristung nachzuvollziehen, ergeben sich zwei
Konsequenzen: Zum einen gebietet § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n.F. den
gleichzeitigen Erlass von Ausweisung und Befristung. Zum anderen genügt für
den in dieser Vorschrift vorgesehenen Antrag jede Form der Willensbekundung
des Betroffenen, mit der dieser sich gegen eine Ausweisung wendet (anders
noch zu § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG 1990: Beschluss vom 14. Juli 2000 - BVerwG
1 B 40.00 - Buchholz 402.240 § 8 AuslG Nr. 18). Dieser Auslegungsbefund des
einfachen Rechts trägt zugleich der besonderen Bedeutung der Befristung für
die Verhältnismäßigkeit der Aufenthaltsbeendigung mit Blick auf Art. 2 Abs. 1
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und Art. 6 GG sowie Art. 8 EMRK Rechnung. Denn der EGMR zieht die Frage
der Befristung bei der Prüfung von Ausweisungen am Maßstab des Art. 8
Abs. 2 EMRK als ein wesentliches Kriterium heran (EGMR, Urteile vom 17. Ap-
ril 2003 - Nr. 52853/99, Yilmaz/Deutschland - NJW 2004, 2147; vom 27. Okto-
ber 2005 - Nr. 32231/02, Keles/Deutschland - InfAuslR 2006, 3 <4>; vom
22. März 2007 - Nr. 1638/03, Maslov/Österreich - InfAuslR 2007, 221 <223>
und vom 25. März 2010 - Nr. 40601/05, Mutlag/Deutschland - InfAuslR 2010,
325 <327>). Diese grund- und menschenrechtlichen Impulse verbunden mit der
Absicht des Gesetzgebers, sich am Regelungsmodell der Rückführungsrichtli-
nie zu orientieren, führen in der Gesamtschau zu dem Ergebnis, dass der Er-
lass einer Entscheidung zur Befristung der Wirkungen einer Ausweisung gemäß
§ 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n.F. nicht mehr die vorherige Ausreise des Aus-
länders voraussetzt.
Dagegen lässt sich nicht mit Erfolg einwenden, aus § 11 Abs. 1 Satz 5
AufenthG ergebe sich, dass der Gesetzgeber nach wie vor von einer nachträg-
lichen Befristung ausgehe. Nach dieser Vorschrift ist bei der Bemessung der
Fristlänge zu berücksichtigen, ob der Ausländer rechtzeitig und freiwillig ausge-
reist ist. Es liegt auf der Hand, dass sich diese Umstände erst nach Erlass der
Ausweisung feststellen lassen. Dennoch läuft die Vorschrift bei gleichzeitigem
Erlass von Ausweisung und Befristung nicht leer. Denn die Ausländerbehörde
hat ihre zusammen mit der Ausweisung getroffene Befristungsentscheidung, die
sich u.a. auf eine Prognose des künftigen Verhaltens des Ausländers stützt und
die Folgen der Ausweisung im Hinblick auf das zeitliche Übermaßverbot be-
rücksichtigt, auf Antrag zu überprüfen und ggf. neu zu fassen, wenn einer der
für die Fristbestimmung maßgeblichen Faktoren sich im Nachhinein ändert. Ne-
ben nachgewiesenen entscheidungserheblichen Änderungen der Sachlage
kennzeichnet § 11 Abs. 1 Satz 5 AufenthG einen zusätzlichen Punkt, der von
der Ausländerbehörde bei einer nachträglich beantragten Verkürzung der Frist
zu berücksichtigen ist. Im Übrigen haben auch die Gerichte bei ihrer Überprü-
fung der Rechtmäßigkeit einer Befristungsentscheidung, die auch hinsichtlich
der Bemessung der Fristdauer seit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsge-
setzes 2011 nicht mehr im Ermessen der Ausländerbehörde steht (Urteil vom
38
- 23 -
14. Februar 2012 a.a.O. Rn. 31), die rechtzeitige und freiwillige Ausreise des
Betroffenen zu berücksichtigen.
2.2.2 Fehlt die notwendige Befristung der Wirkungen der Ausweisung, hat das
aber auch nach Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 nicht zur
Folge, dass die - als solche rechtmäßige - Ausweisung aufzuheben ist. Viel-
mehr kann der Ausländer zugleich mit Anfechtung der Ausweisung seinen An-
spruch auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 3
AufenthG gerichtlich durchsetzen (Urteil vom 14. Februar 2012 a.a.O. Rn. 30).
Damit wird dem sich aus dem materiellen Recht ergebenden Anspruch des Be-
troffenen auf gleichzeitige Entscheidung über die Ausweisung und die Befris-
tung ihrer Wirkungen Rechnung getragen und die Verhältnismäßigkeit der Auf-
enthaltsbeendigung im Ergebnis gewährleistet. Diese verfahrensrechtliche Aus-
gestaltung entspricht der gesetzlichen Systematik, die nach wie vor zwei ge-
trennte Verwaltungsakte - die Ausweisung einerseits und die Befristung ihrer
Wirkungen andererseits - vorsieht (s.o. Rn. 32). Prozessual wird dieses Ergeb-
nis dadurch sichergestellt, dass in der Anfechtung der Ausweisung zugleich
- als minus - für den Fall der Bestätigung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung
ein (Hilfs-)Antrag auf Verpflichtung der Ausländerbehörde zu einer angemesse-
nen Befristung ihrer Wirkungen gesehen wird, sofern eine solche nicht bereits
von der Ausländerbehörde verfügt worden ist. Das Prozessrecht muss gewähr-
leisten, dass der Ausländer gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n.F. nicht auf
ein eigenständiges neues Verfahren verwiesen wird. Daher ist im Fall der ge-
richtlichen Bestätigung der Ausweisung auf den Hilfsantrag zugleich eine Ent-
scheidung über die Befristung der Wirkungen der Ausweisung zu treffen.
Erachtet das Gericht die Ausweisung für rechtmäßig, hat es auf den Hilfsantrag
des Betroffenen hin die Befristungsentscheidung der Ausländerbehörde vollum-
fänglich zu überprüfen. Hat eine Ausländerbehörde eine zu lange Frist festge-
setzt oder fehlt - wie hier - eine behördliche Befristungsentscheidung, hat das
Gericht über die konkrete Dauer einer angemessenen Frist selbst zu befinden
und die Ausländerbehörde zu einer entsprechenden Befristung der Ausweisung
zu verpflichten (Weiterentwicklung des Urteils vom 14. Februar 2012 a.a.O.
Rn. 31).
39
40
- 24 -
2.2.3 Der Senat hält im vorliegenden Fall - bezogen auf den Zeitpunkt der Ent-
scheidung des Berufungsgerichts und auf der Grundlage von dessen tatsächli-
chen Feststellungen - eine Frist von sieben Jahren für angemessen.
Die allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzende Frist ist gemäß
§ 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG unter Berücksichtigung der Umstände des Einzel-
falls zu bestimmen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer
aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn
von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ord-
nung ausgeht (zu der zuletzt genannten Voraussetzung vgl. Art. 11 Abs. 2
Satz 2 der Richtlinie 2008/115/EG). Bei der Bestimmung der Länge der Frist
sind das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung ver-
folgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der prognostischen Einschätzung im
jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spe-
zialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche
Interesse an der Gefahrenabwehr mit Blick auf die im vorliegenden Fall bedeut-
same Gefahrenschwelle des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 zu tragen vermag. Die
sich an der Erreichung des Ausweisungszwecks orientierende Höchstfrist muss
sich aber an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentschei-
dungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den Vorgaben aus Art. 7 GRCh, Art. 8
EMRK messen und ggf. relativieren lassen. Dieses normative Korrektiv bietet
der Ausländerbehörde und den Verwaltungsgerichten ein rechtsstaatliches Mit-
tel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufent-
haltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen
(vgl. Urteile vom 11. August 2000 - BVerwG 1 C 5.00 - BVerwGE 111, 369
<373> und vom 4. September 2007 - BVerwG 1 C 21.07 - BVerwGE 129, 243
Rn. 19 ff.). Dabei sind insbesondere die in § 55 Abs. 3 Nr. 1 und 2 AufenthG
genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen.
Die Abwägung ist nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf
der Grundlage der Umstände des Einzelfalles im Zeitpunkt der Behördenent-
scheidung vorzunehmen bzw. von den Verwaltungsgerichten zum Zeitpunkt der
letzten mündlichen Verhandlung bzw. Entscheidung des Gerichts zu überprüfen
41
42
- 25 -
oder bei fehlender behördlicher Befristungsentscheidung - wie hier - durch eine
eigene Abwägung als Grundlage des Verpflichtungsausspruchs zu ersetzen.
Die in § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG genannte Höchstfrist von fünf Jahren ist im
vorliegenden Fall ohne Bedeutung, da von dem Kläger - im Zeitpunkt der Ent-
scheidung des Berufungsgerichts - eine schwerwiegende Gefahr für die öffentli-
che Sicherheit oder Ordnung ausgeht; das ergibt sich aus den Ausführungen zu
den Ausweisungsvoraussetzungen. Wegen des Gewichts der gefährdeten
Rechtsgüter und der vom Berufungsgericht festgestellten hohen Wiederho-
lungsgefahr erachtet der Senat auch im Hinblick auf die familiären und persönli-
chen Bindungen des Klägers im Bundesgebiet einen Zeitraum von sieben Jah-
ren für erforderlich, um dem hohen Gefahrenpotential in der Person des Klägers
Rechnung tragen zu können. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Rückfallge-
fahr bei Delikten dieser Art, des Alters des Klägers, seines (Nach-)Tatver-
haltens ohne therapeutische Auf- und Verarbeitung des Geschehens sowie sei-
nes familiären Umfelds ist nicht zu erwarten, dass er die hier maßgebliche Ge-
fahrenschwelle des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 vor Ablauf der festgesetzten Frist
unterschreiten wird. Zur Klarstellung weist der Senat darauf hin, dass der Be-
klagte auf den bei ihm während des Revisionsverfahrens gestellten Befris-
tungsantrag auf aktueller Tatsachengrundlage zu prüfen hat, ob sich aus dem
Vorbringen des Klägers zur Entwicklung seit dem 5. September 2008 Anhalts-
punkte für eine Verkürzung der Frist ergeben.
3. Die Abschiebungsandrohung ist rechtmäßig. Der Kläger ist ausreisepflichtig
(§ 50 Abs. 1 AufenthG), da infolge der Ausweisung seine gemäß § 101 Abs. 1
Satz 1 AufenthG als Niederlassungserlaubnis fortgeltende Aufenthaltsberechti-
gung erloschen ist (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Die
im angefochtenen Bescheid vom Beklagten getroffene Festsetzung der Ausrei-
sefrist von einem Monat legt der Senat in Übereinstimmung mit § 59 Abs. 1
Satz 1 AufenthG n.F. zugunsten des Klägers dahingehend aus, dass ihm eine
Frist von 31 Tagen für die freiwillige Ausreise zur Verfügung steht.
4. Die Frage, ob die Ausweisung, die Befristung ihrer Wirkungen und die Ab-
schiebungsandrohung an den Bestimmungen der Rückführungsrichtlinie zu
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messen sind, kann im vorliegenden Fall offen bleiben. Der Senat ist bisher da-
von ausgegangen, dass die Rückführungsrichtlinie, die von den Mitgliedstaaten
gemäß Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG bis zum 24. Dezember 2010
umzusetzen war, für davor erlassene und mit der Klage angegriffene Abschie-
bungsandrohungen keine Geltung beansprucht (Urteile vom 14. Februar 2012
a.a.O. Rn. 35 und vom 22. März 2012 a.a.O. Rn. 15; a.A. VGH Mannheim, Ur-
teil vom 16. April 2012 - 11 S 4/12 - juris Rn. 49 ff.; vgl. auch VerwGH Wien,
Urteile vom 16. Juni 2011 - Az. 2011/18/0064 - und vom 20. März 2012
- Az. 2011/21/0298). Für den sachlichen Anwendungsbereich der Rückfüh-
rungsrichtlinie ist zudem umstritten, ob die Ausweisung als Rückkehrentschei-
dung i.S.d. Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 2008/115/EG angesehen werden kann (da-
für: Basse/Burbaum/Richard, ZAR 2011, 361 <364>; Hörich, ZAR 2011, 281
<284 Fn. 45>; dagegen: VGH Mannheim, Urteil vom 7. Dezember 2011 - 11 S
897/11 - NVwZ-RR 2012, 412; offen: OVG Münster, Urteil vom 22. März 2012
- 18 A 951/09 - juris Rn. 88). Das alles kann indes hier dahinstehen. Denn
selbst wenn man die intertemporale Geltung und die sachliche Anwendbarkeit
der Rückführungsrichtlinie auf die (Wirkungen der) Ausweisung und die Ab-
schiebungsandrohung unterstellt, verhilft das der Revision im vorliegenden Fall
nicht in weitergehendem Umfang zum Erfolg. Da der Kläger mit seinem Hilfsan-
trag die gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n.F. gebotene Befristung der Wir-
kungen seiner Ausweisung zusammen mit deren gerichtlicher Prüfung durch-
setzen kann, wird den Vorgaben der Rückführungsrichtlinie im Ergebnis Genü-
ge getan. In dem hier vorliegenden Fall konnte die Dauer des Einreiseverbots
auch die Regelfrist von fünf Jahren überschreiten, da der Kläger eine schwer-
wiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung i.S.d. Art. 11 Abs. 2 Satz 2 der
Richtlinie 2008/115/EG darstellt.
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Senat
gewichtet den gegen die Ausweisung und die Abschiebungsandrohung gerich-
teten Anfechtungsantrag mit 4/5 und den auf Befristung zielenden Verpflich-
tungsantrag mit 1/5. Nachdem der Kläger aber mit seinem Hilfsantrag nur zum
Teil obsiegt hat, hat er 9/10 der Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.
Eckertz-Höfer
Prof. Dr. Dörig
Prof. Dr. Kraft
Fricke
Dr. Maidowski
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstands wird für das Revisionsverfahren auf 5 000 €
festgesetzt (§ 45 Abs. 1 Satz 2 und 3, § 47 Abs. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG).
Eckertz-Höfer
Prof. Dr. Kraft
Fricke
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Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
Ausländerrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
AufenthG
§§ 11, 55, 56
ARB 1/80
Art. 7, 13, 14 Abs. 1
EMRK
Art. 8
GG
Art. 2 Abs. 1, Art. 6
GRCh
Art. 24 Abs. 3, Art. 47 Abs. 1
Richtlinie 64/221/EWG
Art. 9
Richtlinie 2003/109/EG
Art. 12
Richtlinie 2004/38/EG
Art. 31 Abs. 1 und 3
Richtlinie 2008/115/EG
Art. 2, 3 Nr. 4, Art.11 Abs. 1 und 2,
Art. 13 Abs. 1
VwGO
§§ 86, 108, 128, 137 Abs. 2, § 142
Zusatzprotokoll zum Assoziierungs-
abkommen EWG/Türkei - ZP -
Art. 41 Abs. 1, Art. 59
Stichworte:
Antrag; Äquivalenzgrundsatz; Assoziationsrecht; assoziationsrechtliches Auf-
enthaltsrecht; Ausweisung; Ausweisungsschutz; Befristung; Effektivitätsgrund-
satz; Einreiseverbot; Gefahr; Gefahrenprognose; Klageänderung; Rückkehrent-
scheidung; Stand-Still; Stillhalteklausel; Tatsachenfeststellung; Verhältnismä-
ßigkeit; Vier-Augen-Prinzip; Wiederholungsgefahr; Wahrscheinlichkeitsmaß-
stab; maßgeblicher Zeitpunkt.
Leitsätze:
1. Das in Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG enthaltene Vier-Augen-Prinzip ist auf
Ausweisungen assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger, die nach
Aufhebung der Richtlinie zum 30. April 2006 erlassen wurden, nicht aufgrund
der Stand-Still-Klauseln in Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 Abs. 1 ZP anzuwenden.
2. Seit Inkrafttreten der Änderung des § 11 Abs. 1 AufenthG durch das Richtli-
nienumsetzungsgesetz vom 22. November 2011 (BGBl I S. 2258) haben Aus-
länder einen Anspruch darauf, dass die Ausländerbehörde mit Erlass einer Aus-
weisung zugleich deren in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 genannte Wirkungen (Ein-
reise- und Aufenthaltsverbot, Titelerteilungssperre) befristet (Weiterentwicklung
der Rechtsprechung im Urteil vom 14. Februar 2012 - BVerwG 1 C 7.11 -
Rn. 28 f.).
Urteil des 1. Senats vom 10. Juli 2012 - BVerwG 1 C 19.11
I. VG Düsseldorf vom 16.01.2007 - Az.: VG 27 K 4870/06 -
II. OVG Münster
vom 05.09.2008 - Az.: OVG 18 A 855/07 -