Urteil des BVerwG vom 25.03.2015

Öffentliche Sicherheit, Befristung, Ausweisung, Unionsbürger

BVerwGE: ja
Fachpresse: ja
Sachgebiet:
Ausländerrecht
Rechtsquelle/n:
AEUV Art. 18 Abs. 1
AufenthG §§ 11, 102 Abs. 1
FreizügG/EU § 2 Abs. 7, § 6 Abs. 1, § 7 Abs. 2
GG Art. 3 Abs. 1
VwGO § 144 Abs. 5
Richtlinie 2004/38/EG Art. 24, 32
Richtlinie 2008/115/EG Art. 2 Abs. 1, Art. 11 Abs. 2
Titelzeile:
Befristung der "Altausweisung" eines nunmehrigen
Unionsbürgers
Stichworte:
Ausweisung; Befristung; Einreiseverbot; Feststellung des Verlusts des
Freizügigkeitsrechts; Fortgeltung von Altausweisungen; Gefahr;
Gefahrenprognose; Verhältnismäßigkeit; Wiederholungsgefahr; Zehn-Jahres-
Frist.
Leitsatz/-sätze:
1. Die an der "Altausweisung" eines nunmehrigen Unionsbürgers anknüpfenden
gesetzlichen Sperrwirkungen bleiben auch nach dem Beitritt des Landes seiner
Staatsangehörigkeit zur Europäischen Union (hier: Polen zum 1. Mai 2004), dem
Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes/EU am 1. Januar 2005 und dem Ablauf
der Umsetzungsfrist der Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG wirksam (im
Anschluss an BVerwG, Urteile vom 7. Dezember 1999 - 1 C 13.99 - BVerwGE
110, 140 <149 f.> und vom 4. September 2007 - 1 C 21.07 - BVerwGE 129, 243
Rn. 14 f.).
2. Die Befristung der Sperrwirkungen einer solchen "Altausweisung" bemisst sich
für Unionsbürger nunmehr nach § 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU in sinngemäßer
Anwendung (wie BVerwG, Urteil vom 4. September 2007 - 1 C 21.07 - BVerwGE
129, 243 Rn. 17).
3. Die Entscheidung über die Befristung der Wirkungen der Verlustfeststellung ist
nach Inkrafttreten der Änderung des § 7 Abs. 2 FreizügG/EU durch das Gesetz
zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften vom 2.
Dezember 2014 (BGBl. I 2014 S. 1922) auch hinsichtlich der Dauer der
Befristung gerichtlich voll überprüfbar.
4. Die Befristungsentscheidung nach § 7 Abs. 2 FreizügG/EU ist auf der
Grundlage einer aktuellen Gefährdungsprognose und
Verhältnismäßigkeitsprüfung zu treffen; eine mit der Ausreise beginnende
Höchstfrist besteht nicht (Fortführung von BVerwG, Urteil vom 4. September
2007 - 1 C 21.07 - BVerwGE 129, 243 Rn. 19).
Urteil des 1. Senats vom 25. März 2015 - BVerwG 1 C 18.14
I. VG Stuttgart vom 22. Juli 2014
Az: VG 11 K 1243/14
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 C 18.14
VG 11 K 1243/14
Verkündet
am 25. März 2015
Justizhauptsekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 25. März 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Prof. Dr. Kraft
sowie die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Fricke und Dr. Rudolph
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Ver-
waltungsgerichts Stuttgart vom 22. Juli 2014 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung an den Verwaltungsgerichtshof Baden-
Württemberg zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Der im Juli 1968 geborene Kläger ist polnischer Staatsangehöriger. Er begehrt
die Befristung der gegen ihn im Jahr 2000 verfügten Ausweisung mit sofortiger
Wirkung nach § 7 Abs. 2 FreizügG/EU (Befristung auf Null).
Der Kläger reiste im Juli 1984 zusammen mit seiner Mutter und Schwester zu
seinem in Deutschland arbeitenden Vater ein und erhielt im Juli 1992 einen un-
befristeten Aufenthaltstitel. Seine im November 1990 geschlossene Ehe mit
einer brasilianischen Staatsangehörigen scheiterte. Seine Ehefrau kehrte mit
der im April 1992 geborenen gemeinsamen Tochter im April 1994 nach Brasili-
en zurück. Die Ehe wurde im April 1999 geschieden. Der Kläger leidet seit dem
8. Lebensjahr an einer paranoid-halluzinatorischen Psychose und fiel immer
wieder durch aggressives Verhalten bis hin zu Gewalttätigkeiten gegen sich
selbst, seine Eltern, Nachbarn, behandelnde Ärzte und Mitpatienten auf. Wegen
seiner Krankheit war er mehrmals stationär in psychiatrischen Krankenhäusern
untergebracht.
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1999 wurde er vom Landgericht Stuttgart zur Unterbringung in einem psychiat-
rischen Krankenhaus verurteilt. Der Entscheidung lag ein Mordversuch des
Klägers an seinem Vater zugrunde, der infolge eines Messerstichs in den Kopf
schwerstpflegebedürftig wurde. Mit Bescheid vom 10. Januar 2000 wies das
Regierungspräsidium Stuttgart den Kläger unbefristet aus Deutschland aus. Im
Mai 2000 wurde er nach Polen abgeschoben. Seine geschiedenen Eltern und
seine Schwester leben weiterhin in Deutschland.
In Polen war der Kläger nach erneuter Straffälligkeit (Messerattacke auf einen
Nachbarn) von 2005 bis 2013 in einem psychiatrischen Krankenhaus unterge-
bracht. Das Amtsgericht in Bialystok hob mit Beschluss vom 1. Juli 2013 die
Sicherungsmaßregel gegen den Kläger auf. Der Begründung ist zu entnehmen,
dass zwei Gerichtsgutachten zu dem Ergebnis gekommen sind, dass beim
Kläger wegen seines psychischen Gesundheitszustandes weiterhin mit großer
Wahrscheinlichkeit die Gefahr der Begehung einer Straftat mit öffentlicher Ge-
fährdung bestehe. Eine weitere stationäre Unterbringung des Klägers hat das
Amtsgericht aber als unverhältnismäßig angesehen.
Auf den 2013 gestellten Antrag auf Befristung des bestehenden Einreise- und
Aufenthaltsverbots auf Null verfügte der Beklagte im Mai 2014 eine Befristung
zum 21. Mai 2024. Diese Entscheidung begründete er damit, dass vom Kläger
auch in den nächsten zehn Jahren wegen seiner paranoid-halluzinatorischen
Psychose erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus-
gingen und deshalb ein starkes Interesse bestehe, ihn vom Bundesgebiet fern-
zuhalten.
Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten zur Befristung auf sofort verpflichtet.
Ein solcher Anspruch ergebe sich für den Kläger als Unionsbürger aus § 7
Abs. 2 FreizügG/EU. Zwar gehe vom Kläger weiterhin eine schwerwiegende
Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus, wie sich mit hinreichen-
der Deutlichkeit aus dem Beschluss des Amtsgerichts Bialystok vom 1. Juli
2013 ergebe. Dennoch habe er einen Anspruch auf Befristung ohne weitere
Sperre angesichts der Gesamtdauer des durch die Ausweisungsentscheidung
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bewirkten Einreiseverbots von nunmehr 14 Jahren. Das Verwaltungsgericht
verweist hierzu auf die neuere Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs
Mannheim, wonach - unabhängig von der Fortdauer des Ausweisungszwecks -
eine Ausweisung grundsätzlich auf höchstens zehn Jahre zu befristen sei und
diese Frist mit der Ausreise beginne (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 30. April
2014 - 11 S 244/14 - InfAuslR 2014, 365 Rn. 83). Die Aufrechterhaltung eines
Einreiseverbots von mehr als zehn Jahren sei hier auch unter Verhältnismäßig-
keitsgesichtspunkten nicht zu rechtfertigen.
Gegen das Urteil wendet sich der Beklagte mit seiner vom Verwaltungsgericht
zugelassenen Sprungrevision und rügt eine Verletzung des § 7 Abs. 2
FreizügG/EU. Er hält die Auffassung des Verwaltungsgerichts für rechtsfehler-
haft, dass für die Befristung eine allgemeine Höchstfrist von zehn Jahren gelte,
die auch in den Fällen einer erst nachträglichen Befristungsentscheidung immer
vom Zeitpunkt der Ausreise an zu rechnen sei und nicht verlängert werden dür-
fe.
Der Kläger verteidigt das verwaltungsgerichtliche Urteil. Ergänzend verweist er
darauf, dass Unionsbürger nicht schlechter behandelt werden dürften als Dritt-
staatsangehörige. Die nach § 7 Abs. 2 FreizügG/EU zu bemessende Frist dürfe
daher nicht länger sein als eine nach § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG zu setzende
Frist. Insofern müsse die für Drittstaatsangehörige geltende Rückführungsricht-
linie auch zu Gunsten von Unionsbürgern angewendet werden. In tatsächlicher
Hinsicht ergebe sich aus einem neueren Beschluss des Amtsgerichts Bialystok
vom November 2014, dass mittlerweile eine erhebliche Verbesserung seines
psychischen Zustandes eingetreten sei.
II
Die zulässige (Sprung-)Revision des Beklagten hat Erfolg. Das Verwaltungsge-
richt hat der Festsetzung der Frist für das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach
§ 7 Abs. 2 FreizügG/EU einen Maßstab zugrunde gelegt, der Bundesrecht ver-
letzt (§ 137 Abs. 1 VwGO). Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen
im verwaltungsgerichtlichen Urteil zu den für die Befristung maßgeblichen Um-
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ständen kann der Senat weder zugunsten noch zulasten des Klägers selbst
abschließend entscheiden. Daher ist das Verfahren zur weiteren Verhandlung
und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der begehrten Befristung ist hier die
Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des
Verwaltungsgerichts (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 6. März 2014 - 1 C 2.13 -
Buchholz 402.242 § 25 AufenthG Nr. 20 Rn. 6). Rechtsänderungen während
des Revisionsverfahrens sind allerdings zu beachten, wenn das Tatsachenge-
richt - entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - sie zu berück-
sichtigen hätte (Urteil vom 6. März 2014 - 1 C 2.13 - Buchholz 402.242 § 25
AufenthG Nr. 20 Rn. 6). Als Anspruchsgrundlage für das Befristungsbegehren
ist daher nunmehr § 7 Abs. 2 FreizügG/EU i.d.F. des am 9. Dezember 2014 in
Kraft getretenen Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und
weiterer Vorschriften vom 2. Dezember 2014 (BGBl. I 2014 S. 1922) heranzu-
ziehen.
1. Die Verpflichtungsklage ist zulässig. Der Kläger hat ein Rechtsschutzbedürf-
nis für sein Begehren. Die auf der Grundlage von § 45 Abs. 1 i.V.m. § 46 Nr. 2
AuslG 1990 verfügte Ausweisung des Klägers vom Januar 2000 hatte nach § 8
Abs. 2 Satz 1 AuslG 1990 ein gesetzliches Verbot der Wiedereinreise und des
erneuten Aufenthalts im Bundesgebiet zur Folge. Dieses Verbot ist weder durch
den EU-Beitritt Polens zum 1. Mai 2004 (a), noch durch das Inkrafttreten des
Freizügigkeitsgesetzes/EU zum 1. Januar 2005 (b), noch durch die bis zum
24. Dezember 2010 umzusetzende Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG (c) ent-
fallen. Von der im Mai 2000 erfolgten Abschiebung des Klägers geht indes in-
zwischen keine Sperrwirkung mehr aus (d).
a) Die Wirkungen der Ausweisung des Klägers sind zunächst nicht bereits
durch den EU-Beitritt Polens zum 1. Mai 2004 entfallen, auch wenn der Kläger
damit die Unionsbürgerschaft erlangt hat. Nach der Rechtsprechung des Se-
nats zur früheren Rechtslage erstreckten sich die Rechtswirkungen einer Aus-
weisung nach § 8 Abs. 2 Satz 1 AuslG 1990 auch auf die aufenthaltsrechtliche
Stellung von EG-Bürgern nach dem Aufenthaltsgesetz/EWG. Das Ausländerge-
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setz 1990 und das Aufenthaltsgesetz/EWG bildeten eine rechtliche Einheit, so-
dass sich die Sperrwirkungen des § 8 Abs. 2 AuslG 1990 auch im Anwen-
dungsbereich des Aufenthaltsgesetzes/EWG auswirkten. Dem gemeinschafts-
rechtlichen Freizügigkeitsrecht war dadurch Rechnung getragen, dass der Aus-
länder spätestens bei Fortfall der die Einschränkung der Freizügigkeit rechtfer-
tigenden Gründe die Befristung der Ausweisungswirkungen verlangen konnte
(BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 1999 - 1 C 13.99 - BVerwGE 110, 140,
149 f.). An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Sie steht im Einklang mit der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, wonach eine Einschränkung
des primärrechtlichen Freizügigkeitsrechts nicht auf unbegrenzte Zeit gelten
darf und ein Gemeinschaftsangehöriger deshalb das Recht hat, eine erneute
Prüfung seines Falles zu verlangen, wenn die Umstände, die das Einreisever-
bot gerechtfertigt hatten, seines Erachtens entfallen sind (EuGH, Urteil vom
17. Juni 1997 - C-65/95, C-111/95 [ECLI:EU:C:1997:300], Shingara und
Radiom - Rn. 40).
auch nicht durch das Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes/EU am 1. Januar
2005 erloschen. Seitdem können Unionsbürger zwar nicht mehr ausgewiesen
werden.sieht im Anschluss an eine Verlustfest-
stellung gem die bei Unionsbürgern an die Stelle
der Ausweisung getreten ist, aber ebenfalls ein Einreise- und Aufenthaltsverbot
vor. Der Senat hat bereits entschieden, dass nach der Übergangsregelung in
§ 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und der Rückverweisung in § 11 Abs. 2
FreizügG/EU die Wirkungen der "Altausweisung" eines Unionsbürgers grund-
sätzlich auch nach dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes/EU fortbeste-
hen (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. September 2007 - 1 C 21.07 - BVerwGE 129,
243 Rn. 14 f.). Dies gilt auch dann, wenn die Ausweisung - wie hier - erfolgt ist,
bevor der Unionsbürger eine Freizügigkeitsberechtigung erlangt hatte und noch
nach den für Drittstaatsangehörige geltenden Regeln ausgewiesen worden war
(vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 19. März 2012 - 3 Bs 234/11 - InfAuslR
2012, 247 Rn. 25 ff. für die nachträgliche Erlangung des Freizügigkeitsrechts
eines Familienangehörigen; a.A. OVG Bremen, Urteil vom 28. September 2010
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- 1 A 116/09 - InfAuslR 2011, 2 Rn. 44; VGH München, Beschluss vom 9. Au-
gust 2012 - 19 CE 11.1893 - InfAuslR 2012, 404 Rn. 33).
Nichts anderes ergibt sich aus der Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/EG, an der
auf unionsrechtlicher Ebene die fortgeltenden gesetzlichen Rechtswirkungen
der Altausweisung zu messen sind (vgl. EuGH, Urteil vom 19. September 2013
- C-297/12 [ECLI:EU:C:2013:569], Filev und Osmani - Rn. 40 f. zur intertempo-
ralen Geltung der Rückführungsrichtlinie für die fortgeltenden Wirkungen vor
ihrem Inkrafttreten ergriffener aufenthaltbeendender Maßnahmen). Insbesonde-
re genügt die Befristungsregelung in § 7 Abs. 2 FreizügG/EU, die in sinngemä-
ßer Anwendung auch die fortwirkenden Rechtsfolgen einer Altausweisung er-
fasst (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. September 2007 - 1 C 21.07 - BVerwGE 129,
243 Rn. 17 zu § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU a.F.), den Vorgaben in Art. 32 der
Unionsbürgerrichtlinie hinsichtlich der zeitlichen Wirkungen eines Aufenthalts-
verbots.
chen Einreise- und Aufenthaltsverbots hat schließlich auch die Rückführungs-
richtlinie nichts geändert. Diese Richtlinie und ihre nationale Umsetzung in § 11
Abs. 1 AufenthG finden auf den Kläger als Unionsbürger keine Anwendung
(aa). Der Kläger hat auch keinen Anspruch, aufenthaltsrechtlich nicht schlechter
behandelt zu werden als ein Drittstaatsangehöriger in einer vergleichbaren Si-
tuation (bb). Dessen ungeachtet erfüllt er auch nicht die Voraussetzungen, un-
ter denen einem ausgewiesenen Drittstaatsangehörigen das gesetzliche Einrei-
se- und Aufenthaltsverbot unabhängig von einer Befristung nicht mehr entge-
gengehalten werden dürfte (cc).
aa) Der personale Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie erfasst nach
Art. 2 Abs. 1 nur Drittstaatsangehörige; auf Unionsbürger ist sie nicht anwend-
bar. Gleiches gilt für die nationale Umsetzung der Rückführungsrichtlinie in § 11
Abs. 1 AufenthG (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG i.V.m. § 1 FreizügG/EU). Diese
findet für nicht (mehr) freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger auch über die
fristungsregelung in § 7 Abs. 2 FreizügG/EU stellt eine Sonderregelung im Sin-
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ne des § 11 Abs. 2 FreizügG/EU dar (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. September
2007 - 1 C 21.07 - BVerwGE 129, 243 Rn. 17 zu § 7 Abs. 2 FreizügG/EU a.F.).
Der Kläger kann sich insoweit auch nicht auf das Günstigkeitsprinzip des § 11
Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU berufen. Danach findet das Aufenthaltsgesetz
auch dann Anwendung, wenn es eine günstigere Rechtsstellung vermittelt als
das Freizügigkeitsgesetz/EU. Dies ist hier schon deshalb nicht der Fall, weil es
nach § 11 Abs. 1 AufenthG ebenfalls einer Befristungsentscheidung bedarf. Ob
und in welchem Umfang sich in bestimmten Konstellationen bei Drittstaatsan-
gehörigen in unmittelbarer Anwendung der Rückführungsrichtlinie ein automati-
scher Wegfall des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots ergibt, kann in
diesem Zusammenhang dahinstehen, da sich das Günstigkeitsprinzip nur auf
das Aufenthaltsgesetz bezieht und nicht auf eventuell vorrangig anzuwenden-
des Unionsrecht. Im Übrigen kommt es bei dem Günstigkeitsvergleich auf eine
Gesamtschau an. Bei der danach gebotenen Gesamtbetrachtung fehlt es hier
an einer schlechteren Rechtsstellung. Denn das an die Ausweisung geknüpfte
Einreiseverbot führt bei einem Drittstaatsangehörigen regelmäßig zu einer Aus-
schreibung zur Einreiseverweigerung im Schengener Informationssystem (SIS)
nach Art. 96 Abs. 3 Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) und da-
mit zu einer Einreisesperre für das gesamte Gebiet der Schengen-Staaten (vgl.
11.1.0 der AVwV zum AufenthG), während das Einreiseverbot nach dem Frei-
zügigkeitsgesetz/EU nur für den Aufnahmemitgliedstaat gilt. Außerdem können
Unionsbürger nach dessen Ablauf ohne erneute behördliche Gebietszulas-
sungsentscheidung wieder von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch machen,
während bei Drittstaatsangehörigen nur die Titelerteilungssperre des § 11
Abs. 1 Satz 2 AufenthG entfällt, das alte Aufenthaltsrecht aber nicht automa-
tisch wieder auflebt.
bb) Eine Anwendung der für Drittstaatsangehörige geltenden Bestimmungen ist
auch nicht zur Vermeidung einer unzulässigen Diskriminierung geboten. Denn
das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörig-
keit (Art. 18 Abs. 1 AEUV) bezieht sich lediglich auf eine Ungleichbehandlung
zwischen Unionsbürgern, nicht aber auf die hier vom Kläger gerügte Ungleich-
behandlung zwischen Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen (EuGH, Ur-
teil vom 4. Juni 2009 - C-22/08 [ECLI:EU:C:2009:344], Vatsouras und
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Koupatantze - Rn. 51 f. zu Art. 12 Abs. 1 EG). Ebenso wenig verstößt die Un-
gleichbehandlung von Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen gegen das in
Art. 24 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie enthaltene Gebot der Gleichbehand-
lung, das nach der Rechtsprechung des EuGH als sekundärrechtliche Konkreti-
sierung des in Art. 18 AEUV in allgemeiner Weise niedergelegten Diskriminie-
rungsverbots zu verstehen ist (EuGH, Urteil vom 11. November
2014 - C-333/13 [ECLI:EU:C:2014:2358], Dano - Rn. 61). Die Vorschrift ist
schon nach ihrem ausdrücklichen Wortlaut auf Ungleichbehandlungen zwischen
Unionsbürgern und den eigenen Staatsangehörigen des betreffenden Mitglied-
staates beschränkt. Einer hierzu vom Kläger angeregten Vorlage an den EuGH
zur Vorabentscheidung bedarf es nicht, weil die Rechtslage insoweit geklärt und
die aufgeworfene Frage außerdem nicht entscheidungserheblich ist. Soweit der
Bundesgerichtshof für den Vollzug der Abschiebungshaft bei einem ausreise-
pflichtigen Unionsbürger die Regelungen der Rückführungsrichtlinie herange-
zogen hat (BGH, Beschluss vom 25. September 2014 - V ZB 194/13), betrifft
diese Entscheidung die richtlinienkonforme Auslegung von § 62a AufenthG und
verhält sich nicht generell zur Gleichstellung von Unionsbürgern mit Drittstaats-
angehörigen. Auch aus dem nationalen Gleichbehandlungsgebot des Art. 3
Abs. 1 GG ergibt sich kein Anspruch auf Gleichbehandlung, da die gesetzgebe-
rische Differenzierung zwischen Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen auf
unterschiedlichen unionsrechtlichen Vorgaben und damit auf einem hinreichen-
den sachlichen Grund beruht. Entsprechendes gilt für das Diskriminierungsver-
bot des Art. 14 EMRK.
cc) Dessen ungeachtet wären selbst bei Anwendung der für Drittstaatangehöri-
ge geltenden Bestimmungen die Wirkungen der gegen den Kläger verfügten
Ausweisung nicht automatisch nach Ablauf von fünf Jahren ab Ausreise entfal-
len. Denn im vorliegenden Fall liegen die Voraussetzungen des § 11 Abs. 1
Satz 4 AufenthG i.V.m. Art. 11 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie für ein über
fünf Jahre dauerndes Einreise- und Aufenthaltsverbot vor. Art. 11 Abs. 2 der
Richtlinie verbietet zwar grundsätzlich die Aufrechterhaltung der Wirkungen un-
befristeter Einreiseverbote, die - wie hier - vor dem Zeitpunkt der Anwendbarkeit
der Richtlinie verhängt wurden, soweit sie über die in dieser Bestimmung vor-
gesehene Höchstdauer von fünf Jahren hinausgehen. Dies gilt aber nicht, wenn
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diese Verbote gegen Drittstaatsangehörige verhängt wurden, die eine schwer-
wiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die
nationale Sicherheit darstellen (EuGH, Urteil vom 19. September 2013
- C-297/12 - Rn. 44). Das ist hier der Fall.
Die gegen den Kläger verfügte Ausweisungsverfügung war darauf gestützt,
dass vom Kläger eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und
Ordnung ausging. Eine solche schwerwiegende Gefahr bestand nach den in
der angefochtenen Entscheidung getroffenen tatsächlichen Feststellungen (UA
S. 8 oben) auch noch im hier maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt des Ver-
waltungsgerichts im Juli 2014. Daher kann auch bei Anwendung der für Dritt-
staatsangehörige geltenden Bestimmungen nicht von einem Erlöschen der
Sperrwirkungen der Ausweisung aus dem Jahr 2000 ausgegangen werden. Der
Einwand des Klägers, das Verwaltungsgericht habe die vorliegende Erkenntnis-
lage fehlerhaft und ohne eigene Sachkenntnis gewürdigt, bleibt im Revisions-
verfahren unberücksichtigt, da der Senat nach § 137 Abs. 2 VwGO an die tat-
sächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts gebunden ist.
d) Schließlich fehlt es auch nicht am Rechtsschutzbedürfnis, weil der Kläger im
Jahr 2000 abgeschoben worden ist, was nach § 8 Abs. 2 Satz 1 AuslG 1990
ebenfalls zu einem Einreise- und Aufenthaltsverbot führte. Denn diese gesetzli-
che Wirkung ist mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar
2005 entfallen. Wie sich aus § 7 Abs. 2 FreizügG/EU ergibt, führt bei Unions-
bürgern nur eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU oder in Fäl-
len, in denen das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts festgestellt worden
ist, inzwischen auch eine ausdrückliche Untersagung nach § 7 Abs. 2 Satz 3
FreizügG/EU, nicht jedoch allein die Abschiebung zu einem Einreise- und Auf-
enthaltsverbot. Aufgrund dieser abschließenden Regelung im Freizügigkeitsge-
setz scheidet hinsichtlich der Wirkungen einer vor dem 1. Januar 2005 erfolgten
Abschiebung daher ein Rückgriff auf die Übergangsregelung in § 102 Abs. 1
Satz 1 AufenthG über die Rückverweisung in § 11 Abs. 2 FreizügG/EU aus.
2. Ob die Verpflichtungsklage begründet ist, lässt sich auf der Grundlage der
tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts nicht abschließend ent-
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scheiden. Die Auslegung von § 7 FreizügG/EU a.F. durch das Verwaltungsge-
richt verletzt Bundesrecht.
a) Als Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Befristungsanspruch kommt
nur § 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU in seiner - während des Revisionsverfahrens
in Kraft getretenen - aktuellen Fassung in Betracht, der auf den Kläger als ehe-
maligen Drittstaatsangehörigen und nunmehrigen Unionsbürger sinngemäß
anzuwenden ist. Danach ist eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1
FreizügG/EU bereits mit Erlass von Amts wegen zu befristen. Die Vorschrift
gewährt Unionsbürgern einen strikten Rechtsanspruch auf Befristung ("ob").
Dies entspricht der bisherigen Rechtsprechung des Senats zu § 7 Abs. 2 Satz 2
FreizügG/EU a.F. (BVerwG, Urteil vom 4. September 2007 - 1 C 21.07 -
BVerwGE 129, 243 Rn. 18). Nach der gesetzlichen Systematik handelt es sich
aber weiterhin bei der Verlustfeststellung und der Befristung ihrer Wirkungen
um zwei getrennte Verwaltungsakte (vgl. zum vergleichbaren Verhältnis zwi-
schen der Ausweisung und der Befristung ihrer Wirkungen BVerwG, Urteile
vom 14. Februar 2012 - 1 C 7.11 - BVerwGE 142, 29 Rn. 30 und vom 10. Juli
2012 - 1 C 19.11 - BVerwGE 143, 277 Rn. 39). Bei einer nach alter Rechtslage
unbefristet ergangenen Verlustfeststellung ist die (nach neuem Recht gebotene)
Befristung von Amts wegen nachzuholen. Entsprechendes gilt für eine vor In-
krafttreten des Freizügigkeitsgesetzes gegen einen Unionsbürger unbefristet
verfügte Ausweisung.
Nach § 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU ist die Frist unter Berücksichtigung der
Umstände des Einzelfalles festzusetzen und darf die Dauer von fünf Jahren nur
in den Fällen des § 6 Abs. 1 FreizügG/EU überschreiten. Bei dem Gebot zur
Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls handelt es sich nach der Inten-
tion des Gesetzgebers lediglich um eine Klarstellung (vgl. BT-Drs. 18/2581
S. 17 zu Nr. 5 Buchstabe c). Der materiellrechtliche Prüfungsmaßstab hat sich
hierdurch gegenüber der durch die Vorinstanz berücksichtigten Rechtslage
nicht geändert. Die neu eingeführte Höchstfrist von fünf Jahren betrifft nur Fälle,
in denen nach § 2 Abs. 7 FreizügG/EU festgestellt worden ist, dass ein Recht
auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht und dem Betroffenen deshalb nach
§ 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU untersagt worden ist, erneut in das Bundesge-
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biet einzureisen und sich darin aufzuhalten. Für Verlustfeststellungen nach § 6
Abs. 1 FreizügG/EU und ihnen gleichzustellende Altausweisungen ist weiterhin
keine Höchstfrist vorgesehen. Der Gesetzgeber geht nach der Gesetzesbe-
gründung zum Zuwanderungsgesetz davon aus, dass bei Unionsbürgern ein
langfristiger Ausschluss der Wiedereinreise bei fortbestehender Rückfall- bzw.
Gefährdungsprognose nicht ausgeschlossen ist (BT-Drs. 15/420 S. 105 zu § 7).
Dies gilt auch für die Neufassung. Ein Wertungswiderspruch liegt in den unter-
schiedlichen Regelungen zur Höchstfrist nicht, weil die Verlustfeststellung nach
§ 6 Abs. 1 FreizügG/EU materiell eine vom Unionsbürger ausgehende Gefahr
für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit voraussetzt, was bei
§ 2 Abs. 7 FreizügG/EU nicht der Fall ist. Die Gründe für die Einschränkung des
Freizügigkeitsrechts wiegen damit im Fall einer Verlustfeststellung schwerer als
in den Fällen des § 2 Abs. 7 FreizügG/EU.
Weitergehende Vorgaben für die Bestimmung der Dauer der Frist ergeben sich
auch nicht aus dem Unionsrecht. Nach der Rechtsprechung des EuGH darf das
Einreise- und Aufenthaltsverbot nicht auf Lebenszeit verhängt werden, seine
Berechtigung ist vielmehr nach Ablauf angemessener Fristen auf Antrag des
Betroffenen zu überprüfen. Dabei ist jeweils auf die aktuelle Tatsachenlage im
Zeitpunkt der Überprüfungsentscheidung abzustellen (vgl. EuGH, Urteil vom
17. Juni 1997 - C-65/95, C-111/95 - Rn. 39 ff.). Diese Rechtsprechung wird im
27. Erwägungsgrund der Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/EG aufgegriffen, in
dem es heißt:
"Im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach
die Mitgliedstaaten gegen die Begünstigten dieser Richtli-
nie kein Aufenthaltsverbot auf Lebenszeit verhängen dür-
fen, sollte bestätigt werden, dass ein Unionsbürger oder
einer seiner Familienangehörigen, gegen den ein Mitglied-
staat ein Aufenthaltsverbot verhängt hat, nach einem an-
gemessenen Zeitraum, in jedem Fall aber nach Ablauf von
drei Jahren nach Vollstreckung des endgültigen Aufent-
haltsverbots, einen neuen Antrag auf Aufhebung des Auf-
enthaltsverbots stellen kann."
Diesem Anliegen entspricht die Regelung in Art. 32 der Unionsbürgerrichtlinie
zu den zeitlichen Wirkungen eines Aufenthaltsverbots. Aus der Rechtsprechung
des EuGH und aus der Unionsbürgerrichtlinie ergibt sich damit für die Bemes-
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sung der Sperrfrist nur die Vorgabe, dass diese nicht auf Lebenszeit ohne Mög-
lichkeit der Verkürzung festgesetzt werden darf (vgl. auch Hailbronner, Auslän-
derrecht, Stand: September 2013, § 7 FreizügG/EU, Rn. 21 - 23). Dem wird
durch die Möglichkeit der nachträglichen Verkürzung in § 7 Abs. 2 Satz 8
FreizügG/EU Rechnung getragen.
b) Angesichts der auch nach neuer Rechtslage weitgehend unverändert geblie-
benen normativen Vorgaben für die Bestimmung der Dauer der Frist kann zur
weiteren Konkretisierung auf die Rechtsprechung des Senats zum Befristungs-
anspruch nach § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU a.F. zurückgegriffen werden.
Hiernach ist in einem ersten Schritt eine an dem Gewicht des Grundes für die
Verlustfeststellung sowie dem mit der Maßnahme verfolgten spezialpräventiven
Zweck orientierte äußerste Frist zu bestimmen. Hierzu bedarf es der prognosti-
schen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Be-
troffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Verlustfeststellung
zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr mit Blick auf
die im vorliegenden Fall bedeutsame Gefahrenschwelle des § 6 Abs. 1
FreizügG/EU zu tragen vermag. Im Fall einer langfristig fortbestehenden Rück-
fall- bzw. Gefährdungsprognose ist ein langfristiger Ausschluss der Wiederein-
reise nicht ausgeschlossen (BVerwG, Urteil vom 4. September 2007 - 1 C
21.07 - BVerwGE 129, 243 Rn. 19). Vom gleichen Ansatz ausgehend hat der
Senat zum Befristungsanspruch nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ausgeführt,
dass in der Regel ein Zeitraum von maximal zehn Jahren den Zeithorizont dar-
stellt, für den eine Prognose realistischerweise noch gestellt werden kann. Wei-
ter in die Zukunft lässt sich die Persönlichkeitsentwicklung - insbesondere jün-
gerer Menschen - kaum abschätzen, ohne spekulativ zu werden (BVerwG, Ur-
teil vom 13. Dezember 2012 - 1 C 14.12 - Buchholz 402.242 § 11 AufenthG
Nr. 10 Rn. 14). Dies gilt auch für die im Rahmen von § 7 Abs. 2 Satz 5
FreizügG/EU zu treffende Prognose.
Die sich an der Erreichung des Zwecks der Verlustfeststellung orientierende
äußerste Frist muss sich in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h.
unionsrechtlichen Vorgaben und verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen
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messen und gegebenenfalls relativieren lassen. Dieses normative Korrektiv bie-
tet ein rechtsstaatliches Mittel dafür, fortwirkende einschneidende Folgen des
Einreise- und Aufenthaltsverbot für die persönliche Lebensführung des Be-
troffenen zu begrenzen. Dabei sind insbesondere die in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU
genannten schutzwürdigen Belange des Unionsbürgers in den Blick zu neh-
men. Die Abwägung nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit,
die auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls nach Gewichtung der je-
weiligen Belange vorzunehmen ist, kann im Extremfall auch zu einer Befristung
auf den Jetzt-Zeitpunkt führen (BVerwG, Urteil vom 4. September 2007 - 1 C
21.07 - BVerwGE 129, 243 Rn. 20).
c) Der Senat ist in seiner Rechtsprechung zu § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU
a.F. davon ausgegangen, dass der Ausländerbehörde für die Bestimmung der
Länge des Einreise- und Aufenthaltsverbots ein Auswahlermessen zusteht
(BVerwG, Urteil vom 4. September 2007 - 1 C 21.07 - BVerwGE 129, 243
Rn. 19). Bei Befristungen nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG geht der Senat
hingegen seit dem Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 von
einer auch hinsichtlich der Dauer der Frist gebundenen Verwaltungsentschei-
dung aus, die gerichtlich voll überprüfbar ist (BVerwG, Urteil vom 14. Februar
2012 - 1 C 7.11 - BVerwGE 142, 29 Rn. 33). Die für den Senat dabei maßgebli-
chen Erwägungen gelten auch hier. Daher ist die Rechtsprechung zu § 11
Abs. 1 Satz 3 AufenthG nach der Neufassung des § 7 Abs. 2 FreizügG/EU im
Dezember 2014 und der durch sie bewirkten Aufwertung der Rechtsstellung
des Freizügigkeitsberechtigten angesichts des offenen Wortlauts der Vorschrift
auch auf die Fristbemessung der Einreisesperre nach dem Freizügigkeitsge-
setz/EU zu übertragen.
d) Die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, für die Bemessung der Frist
nach § 7 Abs. 2 FreizügG/EU gelte eine Höchstfrist von zehn Jahren ab Ausrei-
se, verstößt gegen Bundesrecht.
Der Senat hat bereits zur Befristungsentscheidung nach § 7 Abs. 2
FreizügG/EU a.F. entschieden, dass diese auf der Grundlage der aktuellen Tat-
sachengrundlage zu treffen und hierbei auch das Verhalten des Betroffenen
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nach der Ausweisung zu würdigen ist (BVerwG, Urteil vom 4. September
2007 - 1 C 21.07 - BVerwGE 129, 243 Rn. 19). Damit ist die Entscheidung des
Verwaltungsgerichts nicht vereinbar, wonach es nach einer Frist von zehn Jah-
ren ab Ausreise nicht mehr auf eine aktuelle Gefahrenprognose ankomme. Das
Verwaltungsgericht kann sich zur Stützung seiner Rechtsauffassung nicht auf
die Rechtsprechung des Senats zu § 11 Abs. 1 AufenthG berufen, wonach in
der Regel ein Zeitraum von maximal zehn Jahren den Zeithorizont darstellt, für
den eine Prognose realistischerweise noch gestellt werden kann (so BVerwG,
Urteil vom 13. Dezember 2012 - 1 C 14.12 - Buchholz 402.242 § 11 AufenthG
Nr. 10 Rn. 14). Denn diese zeitliche Grenze ergibt sich allein aus der begrenz-
ten Prognosefähigkeit und ist daher immer vom Zeitpunkt der Prognoseent-
scheidung aus zu berechnen. Das verkennen das Verwaltungsgericht und der
Verwaltungsgerichtshof Mannheim, auf den sich das Verwaltungsgericht beruft,
wenn sie die Zehn-Jahres-Frist von dem in der Vergangenheit liegenden Zeit-
punkt der Ausreise berechnen und es nach Fristablauf nicht mehr darauf an-
kommen soll, ob der Ausweisungszweck noch fortdauert (vgl. VGH Mannheim,
Urteil vom 30. April 2014 - 11 S 244/14 - InfAuslR 2014, 365 Rn. 83). Der Senat
stellt hingegen bei der Befristungsentscheidung immer auf den aktuellen Ent-
scheidungszeitpunkt ab mit der Folge, dass auch in Fällen, in denen keine Aus-
reise stattgefunden hat - z.B. wegen Ausreisehindernissen aufgrund der Verfol-
gungsgefahr für einen Flüchtling - ggf. eine Befristung auf Null ohne Ausreise
erfolgen muss (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. März 2014 - 1 C 2.13 - Buchholz
402.242 § 25 AufenthG Nr. 20 Rn. 13 f. m.w.N.).
e) Wendet man die für die Fristbestimmung nach § 7 Abs. 2 Satz 5
FreizügG/EU maßgeblichen Grundsätze auf die in dem angefochtenen Be-
scheid bestimmte Frist für die Geltung des Einreise- und Aufenthaltsverbots bis
zum 21. Mai 2024 an, erweist sich diese - entgegen der Auffassung des Verwal-
tungsgerichts - nicht von vornherein als unverhältnismäßig. Dies gilt auch mit
Blick auf den Umstand, dass das Einreiseverbot im maßgeblichen Zeitpunkt der
Entscheidung des Verwaltungsgerichts seit über 14 Jahren bestand und schon
zu einem früheren Zeitpunkt hätte befristet werden können. Denn bei fortbeste-
hender Gefährdung kann, jedenfalls bei Vorliegen der für eine Verlustfeststel-
lung erforderlichen Gefahrenlage, eine einmal getroffene Befristung von der
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Ausländerbehörde nachträglich auch verlängert werden. Umgekehrt hat der
Kläger bei einer zukünftigen Veränderung der tatsächlichen Umstände zu sei-
nen Gunsten nach Maßgabe des § 7 Abs. 2 Satz 8 FreizügG/EU einen An-
spruch auf Aufhebung oder Verkürzung der Frist.
Für eine abschließende Entscheidung fehlen dem Senat die erforderlichen Tat-
sachenfeststellungen zur Dauer der vom Kläger weiterhin ausgehenden Gefahr
und zu seinem persönlichen Interesse an einem Aufenthalt in Deutschland.
Dieser Feststellungen bedarf es, um die angemessene Sperrfrist zu bestimmen.
Das Verwaltungsgericht hat unter Bezugnahme auf den Beschluss des Amtsge-
richts Bialystok vom 1. Juli 2013 lediglich festgestellt, dass vom Kläger weiter-
hin eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung
ausgeht (UA S. 8 oben). Es fehlt aber schon die gebotene prognostische Ein-
schätzung, wie lange die vom Kläger ausgehende schwerwiegende Gefahr vo-
raussichtlich noch andauern wird. Hierzu ist dem Beschluss des Amtsgerichts
nichts zu entnehmen. Denn das Amtsgericht zitiert zunächst aus den ihm vor-
liegenden Gutachten, nach denen vom Kläger weiterhin mit großer Wahrschein-
lichkeit die Gefahr der Begehung einer Straftat mit öffentlicher Gefährdung aus-
gehe, teilt die Einschätzung der Gutachter aber nicht und kommt zu dem Er-
gebnis, dass keine Notwendigkeit einer weiteren Unterbringung des Klägers
mehr bestehe.
3. Das Verfahren ist mangels hinreichender gerichtlicher Feststellungen für die
Fristbemessung nach § 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU zur weiteren Verhandlung
und Entscheidung zurückzuverweisen. Die Zurückverweisung erfolgt an den
Verwaltungsgerichtshof in Mannheim, weil die Entscheidung des Verwaltungs-
gerichts maßgeblich auf dessen Rechtsprechung beruht (§ 144 Abs. 5 VwGO).
Für die neue Entscheidung wird insbesondere Folgendes zu berücksichtigen
sein:
a) Der Verwaltungsgerichtshof wird zunächst auf aktueller Tatsachengrundlage
aufzuklären haben, ob und gegebenenfalls welche konkrete Gefahr vom Kläger
noch ausgeht. Hierbei sind auch für den Kläger nachteilige Veränderungen der
tatsächlichen Verhältnisse zu berücksichtigen. Soweit der Verwaltungsgerichts-
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hof in seinem Urteil vom 30. April 2014 - 11 S 244/14 - (InfAuslR 2014, 365
Rn. 74) davon ausgeht, dass bei Befristungsentscheidungen nach § 7 Abs. 2
FreizügG/EU nach Ablauf von sechs Monaten ab Antragstellung eingetretene
Veränderungen der tatsächlichen Verhältnisse nicht mehr zu Lasten des Aus-
länders berücksichtigt werden dürften, steht dem bereits entgegen, dass § 7
Abs. 2 FreizügG/EU in seiner nunmehr maßgebenden Neufassung nicht für
die - hier im Streit stehende - erstmalige Befristung (§ 7 Abs. 2 Satz 5
FreizügG/EU), sondern nur für spätere Verkürzungsanträge (§ 7 Abs. 2 Satz 8
FreizügG/EU) eine Bescheidungsfrist vorsieht. Dessen ungeachtet ergeben sich
weder aus § 7 Abs. 2 FreizügG/EU noch aus Art. 32 Abs. 1 der Unionsbürger-
richtlinie Anhaltspunkte für eine Festschreibung der tatsächlichen Entschei-
dungsgrundlagen zu Gunsten des Klägers. Insbesondere kann den einschlägi-
gen Bestimmungen nicht entnommen werden, dass es sich bei der Sechs-
Monats-Frist um mehr als eine bloße Bearbeitungsfrist zur effektiven Sicherung
des unionsrechtlichen Anspruchs auf erneute Prüfung eines Einreiseverbots
nach Änderung der maßgeblichen Umstände handelt.
Sollten vom Kläger weiterhin auf nicht absehbare Zeit schwerwiegende Gefah-
ren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, könnte dies die Auf-
rechterhaltung des Einreise- und Aufenthaltsverbots bis zum 21. Mai 2024
rechtfertigen. Ausschlaggebend ist hierfür zunächst das Gewicht der durch den
Kläger bedrohten Rechtsgüter (Leib und Leben). Allerdings kann die Abwägung
zu einem anderen Ergebnis führen, wenn aufgrund der Ergebnisse einer im
Herbst 2014 in Polen erfolgten erneuten Begutachtung des Klägers davon aus-
zugehen ist, dass von ihm keine oder allenfalls eine geringe Gefahr ausgeht.
Das Amtsgericht Bialystok kommt in seinem jüngsten Beschluss vom 26. No-
vember 2014 lediglich zu dem Ergebnis, dass vom Kläger "zurzeit keine hohe
Wahrscheinlichkeit der Begehung" einer "Tat mit erheblichem sozialen Schäd-
lichkeitsgrad besteht". Der Verwaltungsgerichtshof wird zu klären haben, ob
bzw. mit welchem Grad der Wahrscheinlichkeit vom Kläger weiterhin eine Ge-
fahr für bedeutende Rechtsgüter wie Leben und Gesundheit ausgeht und für
welchen Zeitraum diese Gefahrenprognose gilt.
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b) Sollte das Gericht zu dem Ergebnis kommen, dass vom Kläger weiterhin eine
erhebliche Gefahr ausgeht, und es eine Prognose zu der Dauer der Gefährdung
getroffen haben, wäre die zur Gefahrenabwehr als erforderlich angesehene
Sperrfrist für die Wiedereinreise des Klägers in einem zweiten Schritt unter Be-
rücksichtigung schützenswerter Interessen des Klägers gegebenenfalls zu rela-
tivieren. Hierzu wird der Verwaltungsgerichtshof die zu schützenden Belange zu
ermitteln und zu gewichten haben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass für eine
Verkürzung der Frist auf der zweiten Stufe die zu schützenden persönlichen
Belange umso gewichtiger sein müssen, je größer die vom Kläger ausgehende
Gefahr ist.
Als schützenswertes Interesse kommt hier im Wesentlichen die Möglichkeit des
Klägers zu einem Leben in Freiheit unter Betreuung durch seine in der Bundes-
republik lebende Mutter in Betracht. Es bedarf der Feststellung, ob die Mutter
zu einer solchen Betreuung bereit und in der Lage ist. Zudem wird zu berück-
sichtigen sein, dass die Mutter in der Vergangenheit nicht in der Lage war, die
Ausbrüche der psychischen Erkrankung des Klägers und die daraus resultie-
renden Gewaltakte zu verhindern. Insofern wird gegebenenfalls darzulegen
sein, welche Umstände sich mittlerweile maßgeblich verändert haben. Der Ge-
richtshof wird sich zudem mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob eine
ambulante Betreuung des Klägers in Polen möglich ist. Sollte er zu dem Ergeb-
nis kommen, dass der Kläger gerade auf die Betreuung durch seine Mutter an-
gewiesen ist, wird er zu prüfen haben, ob der Mutter zugemutet werden kann,
die Pflege in Polen zu erbringen, zumindest für eine ein- oder zweijährige Über-
gangszeit (vgl. zur Angewiesenheit auf persönliche Betreuung: BVerwG, Urteil
vom 18. April 2013 - 10 C 10.12 - BVerwGE 146, 198 Rn. 37 - 39).
c) Was das Verhältnis des Klägers zu seiner heute erwachsenen Tochter anbe-
langt, ist nach Lage der Akten nicht ersichtlich, dass hier noch ein Kontakt be-
steht und ob sie sich überhaupt in der Bundesrepublik aufhält. Weiter ergeben
sich keine Anhaltspunkte dafür, dass durch das Verbot der Wiedereinreise in
die Bundesrepublik ein fortbestehendes Verhältnis des Klägers zu seiner
Schwester und zu seinem Vater berührt sein könnte, die beide in der Bundes-
republik leben.
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d) Hinsichtlich der Bindungen des Klägers an Deutschland wird zu berücksichti-
gen sein, dass der Kläger seit mittlerweile mehr als 14 Jahren nicht mehr in der
Bundesrepublik lebt. Seine Ausweisung aus der Bundesrepublik ist seinerzeit
auch auf sein Beitreiben hin erfolgt, wohl weil er dadurch vorzeitig der durch
das Landgericht Stuttgart angeordneten Unterbringung in einer psychiatrischen
Einrichtung entgehen wollte. Außerdem gehört der Kläger nicht zu der Gruppe
der Einwanderer der zweiten Generation, deren Bindungen an die Bundesre-
publik besonders Rechnung zu tragen wäre. Er ist in Polen geboren und dort
bis zum Alter von immerhin 16 Jahren aufgewachsen.
4. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Dörig
Prof. Dr. Kraft
Fricke
Dr. Rudolph
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstands wird für das Revisionsverfahren auf 5 000 €
festgesetzt (§ 47 Abs. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG).
Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Dörig
Prof. Dr. Kraft
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