Urteil des BVerwG vom 28.06.2011

Öffentliche Sicherheit, Unionsbürger, Anwendungsbereich, Bundesgesetz

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 C 18.10
VGH 11 S 1415/10
Verkündet
am 28. Juni 2011
Werner
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 28. Juni 2011
durch die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Richter,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
für Recht erkannt:
Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-
Württemberg vom 14. September 2010 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwie-
sen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Der Kläger, ein italienischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen die Feststel-
lung des Beklagten, dass er sein Aufenthaltsrecht in Deutschland verloren habe
(sog. Verlustfeststellung).
Der inzwischen 57-jährige Kläger kam 1972 nach Deutschland, war mit einer
deutschen Staatsangehörigen verheiratet und hat aus dieser Ehe zwei Töchter.
Seit 1987 besaß er eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, später ein Dauerauf-
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enthaltsrecht nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU. Er war fast 30 Jahre lang bei
demselben Arbeitgeber beschäftigt.
2005 wurde der Kläger wegen Anstiftung zur Körperverletzung mit Todesfolge
zu einer 10-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Er hatte einen Bekannten ge-
drängt und ihn dafür bezahlt, dem vermeintlichen Liebhaber seiner Frau „eine
Abreibung zu verpassen“. Bei dem Anschlag verlor das Opfer sein Leben. Die
Ehe wurde geschieden und das Sorgerecht für die Töchter allein seiner frühe-
ren Ehefrau übertragen. Frau und Töchter befinden sich seit Jahren in einem
Zeugenschutzprogramm. Der Kläger hat zwei Drittel der Freiheitsstrafe verbüßt.
Die Verbüßung der Restfreiheitsstrafe ist zur Bewährung ausgesetzt worden.
Das Regierungspräsidium Karlsruhe hat die Verurteilung des Klägers zum An-
lass genommen, den Verlust seines Aufenthaltsrechts in Deutschland festzu-
stellen. Das Verwaltungsgericht hat der Klage gegen diese Verlustfeststellung
stattgegeben; das Regierungspräsidium könne sich hierbei nicht auf die erfor-
derlichen zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit stützen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen
und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die streitige Verlustfeststel-
lung sei bereits deshalb rechtswidrig, weil das Regierungspräsidium hierfür
sachlich nicht zuständig gewesen sei. Die Zuständigkeitsverordnung der baden-
württembergischen Landesregierung, in der die Zuständigkeit nicht der unteren
Ausländerbehörden, sondern der Regierungspräsidien für derartige Verlustfest-
stellungen vorgesehen sei, sei insoweit unwirksam. Sie sei auf § 71 Abs. 1
AufenthG als gesetzliche Ermächtigungsgrundlage gestützt. Diese Vorschrift
erlaube zwar eine ausländerbehördliche Zuständigkeitskonzentration. Sie sei im
Rahmen des für Unionsbürger geltenden Freizügigkeitsgesetzes/EU aber nicht
anwendbar. Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes fänden dort nur Anwendung,
wenn im Freizügigkeitsgesetz/EU ausdrücklich auf sie verwiesen werde. Das
treffe für die Zuständigkeitsregelung in § 71 Abs. 1 AufenthG nicht zu. Im Hin-
blick auf diese formelle Rechtswidrigkeit der Verlustfeststellung komme es auf
die Frage ihrer materiellen Rechtmäßigkeit nicht mehr an.
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Gegen diese Entscheidung wendet sich der Beklagte mit seiner Revision.
II
Die Revision des Beklagten ist zulässig und begründet. Das Berufungsurteil
beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das
Berufungsgericht hat zu Unrecht angenommen, dass § 71 Abs. 1 AufenthG bei
aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen und Entscheidungen nach dem Gesetz über
die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU -
FreizügG/EU) keine Anwendung finde und der angefochtene Bescheid deshalb
formell rechtswidrig sei, weil er von einer sachlich unzuständigen Behörde er-
lassen worden sei (1.). Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen im
Berufungsurteil zur materiellen Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids
kann der Senat in der Sache nicht abschließend entscheiden (2.). Das Verfah-
ren ist daher an den Verwaltungsgerichtshof zur anderweitigen Verhandlung
und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
1. Die vom Kläger angefochtene Verlustfeststellung ist nicht formell rechtswid-
rig. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts wurde der Bescheid von
der zuständigen Behörde erlassen. Die Verlustfeststellung findet ihre Rechts-
grundlage in § 6 Abs. 1 FreizügG/EU. Die sachliche Zuständigkeit für derartige
Feststellungen ist in Baden-Württemberg nach § 6 Abs. 3 der Verordnung der
Landesregierung und des Innenministeriums über Zuständigkeiten nach dem
Aufenthaltsgesetz, dem Asylverfahrensgesetz und dem Flüchtlingsaufnahme-
gesetz sowie über die Verteilung unerlaubt eingereister Ausländer (Aufenthalts-
und Asyl-Zuständigkeitsverordnung - AAZuVO) vom 2. Dezember 2008 (GBl
Baden-Württemberg S. 465) bei den Regierungspräsidien konzentriert. Diese
landesrechtliche Zuständigkeitsregelung beruht auf der bundesgesetzlichen
Ermächtigung in § 71 Abs. 1 AufenthG. Danach sind für aufenthalts- und pass-
rechtliche Maßnahmen und Entscheidungen nach diesem Gesetz und nach
ausländerrechtlichen Bestimmungen in anderen Gesetzen die Ausländerbehör-
den zuständig (Satz 1). Die Landesregierung oder die von ihr bestimmte Stelle
kann bestimmen, dass für einzelne Aufgaben nur eine oder mehrere bestimmte
Ausländerbehörden zuständig sind (Satz 2).
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§ 71 Abs. 1 AufenthG gilt auch für Maßnahmen und Entscheidungen nach dem
Freizügigkeitsgesetz/EU. Nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 findet das Aufenthaltsgesetz
zwar grundsätzlich keine Anwendung auf Unionsbürger. Dies steht nach der
genannten Regelung aber unter dem Vorbehalt, dass nicht „durch Gesetz“ et-
was anderes bestimmt ist. Solch eine gesetzliche Regelung ist § 71 Abs. 1
AufenthG. Diese Vorschrift enthält ausdrücklich eine über das Aufenthaltsge-
setz hinausgehende, generalklauselartige Kompetenzzuweisung, die auch auf-
enthaltsrechtliche Maßnahmen und Entscheidungen nach dem Freizügigkeits-
gesetz erfasst. Insoweit bedurfte es daher entgegen der Auffassung des Beru-
fungsgerichts keiner Rückverweisung in § 11 FreizügG/EU auf das Aufenthalts-
gesetz.
Mit dem Wortlaut des § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG, wonach das Aufenthaltsgesetz
keine Anwendung findet auf Ausländer, deren Rechtsstellung von dem Freizü-
gigkeitsgesetz/EU geregelt ist, soweit nicht durch Gesetz etwas anderes be-
stimmt ist, ist es ohne Weiteres zu vereinbaren, nicht nur die Rückverweisun-
gen auf das Aufenthaltsgesetz im Freizügigkeitsgesetz/EU, sondern auch eine
im Aufenthaltsgesetz selbst getroffene abweichende Regelung - wie die in § 71
Abs. 1 AufenthG - zu erfassen. Der Wortlaut des § 71 Abs. 1 AufenthG macht
seinerseits deutlich, dass sich die Zuständigkeitsregelung nicht nur Geltung bei-
misst im Rahmen des Aufenthaltsgesetzes, sondern auch für ausländerrechtli-
che Bestimmungen „in anderen Gesetzen“.
Zusätzlich spricht der systematische Zusammenhang zwischen § 71 Abs. 1
AufenthG und § 11 FreizügG/EU dafür, dass sich die fragliche Zuständigkeits-
regelung über das Aufenthaltsgesetz hinaus auch auf aufenthaltsrechtliche
Maßnahmen und Entscheidungen gegenüber Unionsbürgern - also auch auf
Verlustfeststellungen wie hier - bezieht. Dass eine Verlustfeststellung nach § 6
FreizügG/EU eine aufenthaltsrechtliche Maßnahme bzw. Entscheidung nach
einer ausländerrechtlichen Bestimmung in einem anderen Gesetz (als dem
Aufenthaltsgesetz) im Sinne des § 71 Abs. 1 AufenthG darstellt, bedarf keiner
weiteren Begründung. Zudem setzt das Freizügigkeitsgesetz/EU die Zuständig-
keitsregelung in § 71 Abs. 1 AufenthG ersichtlich voraus. Das Freizügigkeitsge-
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setz/EU enthält selbst keine eigene Zuständigkeitsregelung, sondern knüpft an
die Regelungen im Aufenthaltsgesetz an. So spricht das Freizügigkeitsge-
setz/EU in § 11 Abs. 2 von der für Verlustfeststellungen zuständigen „Auslän-
derbehörde“. Auch in § 5 Abs. 3 und § 7 Abs. 1 FreizügG/EU ist nicht von der
nach Landesrecht zuständigen Behörde, sondern ausdrücklich von der (zustän-
digen) „Ausländerbehörde“ die Rede. Insofern ist nach dieser gesetzlichen Sys-
tematik davon auszugehen, dass die Zuständigkeitsregelung in § 71 Abs. 1
AufenthG nicht auf Maßnahmen und Entscheidungen nach diesem Gesetz be-
schränkt ist, sondern als allgemeine Kompetenzzuweisung auch im Bereich des
Freizügigkeitsgesetzes/EU Anwendung findet. Wegen des unmittelbaren Zu-
sammenhangs mit der Zuständigkeitsregelung in Satz 1 gilt dies ebenfalls für
die Konzentrationsermächtigung in § 71 Abs. 1 Satz 2 AufenthG.
Weiterhin streiten auch Sinn und Zweck der maßgeblichen Vorschriften dafür,
§ 71 Abs. 1 AufenthG als generalklauselartige Kompetenzzuweisung zu verste-
hen, die über das Aufenthaltsgesetz hinausgeht. Es kann nicht angenommen
werden, dass der Bundesgesetzgeber den Vollzug des Freizügigkeitsge-
setzes/EU aus dem Aufgabenbündel, das er den Ländern mit dem bundesrecht-
lichen Begriff der „Ausländerbehörde“ vorgegeben hat, herausnehmen wollte.
Dagegen spricht vor allem der eigene Zuständigkeitsbereich des Bundes für die
Erteilung von Einreisevisa an Familienangehörige von Unionsbürgern (vgl. § 2
Abs. 4 FreizügG/EU und § 71 Abs. 2 AufenthG). Hätte der Gesetzgeber die Re-
gelungen in § 71 AufenthG auf Maßnahmen nach dem Aufenthaltsgesetz be-
schränken wollen, hätte er seine originäre Zuständigkeit für diesen Aufgabenbe-
reich teilweise aufgegeben. Dabei handelt es sich aber um eine Zuständigkeit,
die jedenfalls im Ausland von Landesbehörden nicht wahrgenommen werden
kann.
Die Entstehungsgeschichte der Vorschriften steht dieser Auslegung nicht ent-
gegen. Zwar findet sich in der Begründung zum Entwurf des Freizügigkeitsge-
setzes/EU das Ziel, eine vom allgemeinen Ausländerrecht weitestgehend losge-
löste Regelung des Aufenthaltsrechts der Unionsbürger und ihrer Familienan-
gehörigen zu erreichen (BTDrucks 15/420 S. 102). Ähnlich geht der Gesetzent-
wurf zum Aufenthaltsgesetz in seiner Begründung davon aus, dass aufgrund
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der fortschreitenden Einigung Europas und der weitreichenden Sonderstellung
des Freizügigkeitsrechts Unionsbürger grundsätzlich aus dem Anwendungsbe-
reich des Gesetzes ausgenommen werden. Eine Anwendung komme nur in
Betracht, wenn „ein anderes Bundesgesetz“ Vorschriften dieses Gesetzes aus-
drücklich für anwendbar erkläre (BTDrucks 15/420 S. 68). Diese Zielvorstellun-
gen haben im Wortlaut der Vorschriften, insbesondere in § 1 Abs. 2 AufenthG,
aber jedenfalls hinsichtlich der Zuständigkeitsregelung in § 71 Abs. 1 AufenthG
keinen Niederschlag gefunden. Die unionsrechtliche Ausrichtung der Gesetzes-
begründungen bezieht sich bei verständiger Würdigung zudem auf die Aus-
gestaltung des materiellen Rechts und nicht auf Zuständigkeitsreglungen. Denn
das Gemeinschaftsrecht überlässt es in aller Regel den Mitgliedstaaten, die
behördlichen Vollzugskompetenzen selbst zu regeln. Für diese Deutung spricht
auch, dass in der Gesetzesbegründung zu § 71 AufenthG ausdrücklich auf die
inhaltsgleiche Vorgängervorschrift in § 63 AuslG 1990 Bezug genommen wor-
den ist, die auch den Anwendungsbereich des vor dem Freizügigkeitsgesetz/EU
geltenden Aufenthaltsgesetz/EWG erfasste (BTDrucks 15/420 S. 94).
2. Die materielle Rechtmäßigkeit der vom Kläger angefochtenen Verlustfeststel-
lung kann im Revisionsverfahren mangels ausreichender tatsächlicher Feststel-
lungen im Berufungsurteil nicht abschließend beurteilt werden. Da der Kläger
seinen Aufenthalt in den letzten 10 Jahren im Bundesgebiet hatte, kann eine
Verlustfeststellung in Umsetzung des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG
des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 - sog. Unions-
bürgerrichtlinie - nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit ge-
troffen werden (§ 6 Abs. 5 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU). Was unter
zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit in diesem Sinne zu verstehen
ist, ist dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 23. November
2010 in der Sache Tsakouridis (Rs. C-145/09 - InfAuslR 2011, 45) zu entneh-
men. Hierbei ist zu beachten, dass der EuGH die Anforderungen an derartige
zwingende Gründe teilweise anders beurteilt hat als der Generalanwalt in sei-
nen Schlussanträgen. Das Berufungsgericht wird in diesem Zusammenhang
insbesondere den Hintergründen der vom Kläger zu verantwortenden Tat und
der Tatbegehung nachzugehen haben.
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Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Eckertz-Höfer
Richter
Ri’inBVerwG Beck
ist wegen Urlaubs
verhindert zu
unterschreiben.
Eckertz-Höfer
Prof. Dr. Kraft
Fricke
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 5 000 €
festgesetzt (§ 47 Abs. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG).
Eckertz-Höfer
Richter
Fricke
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Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
Ausländerrecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquellen:
AufenthG
§ 1 Abs. 2, § 71
FreizügG/EU
§§ 2, 6, 11
AAZuVO
§ 6 Abs. 3
Richtlinie 2004/38/EG
Art. 28 Abs. 3
Stichworte:
Allgemeines Aufenthaltsrecht; Öffnungsklausel; Ausländerbehörde; Zuständig-
keit; Zuständigkeitskonzentration; landesrechtliche Zuständigkeitsverordnung;
Freizügigkeitsrecht; Unionsbürger; Daueraufenthaltsrecht; Visum für Familien-
angehörige; Aufenthaltsbeendigung; Verlustfeststellung; öffentliche Sicherheit;
zwingende Gründe.
Leitsatz:
Die in § 71 Abs. 1 AufenthG geregelte Zuständigkeit der Ausländerbehörden ist
eine über das Aufenthaltsgesetz hinausgehende, generalklauselartige Kompe-
tenzzuweisung und gilt auch für aufenthaltsrechtliche Maßnahmen und Ent-
scheidungen gegenüber Unionsbürgern nach dem FreizügG/EU.
Urteil des 1. Senats vom 28. Juni 2011 - BVerwG 1 C 18.10
I. VG Karlsruhe vom 31.05.2010 - Az.: VG 3 K 4155/08 -
II. VGH Mannheim vom 14.09.2010 - Az.: VGH 11 S 1415/10 -