Urteil des BVerwG vom 26.10.2010

Achtung des Privatlebens, Ausreise, Aufenthaltserlaubnis, Emrk

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 C 18.09
OVG 18 A 3049/08
Verkündet
am 26. Oktober 2010
Wahl
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 26. Oktober 2010
durch die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig, Richter und
Prof. Dr. Kraft sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
für Recht erkannt:
Die Revisionen der Klägerinnen gegen den Beschluss des
Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-
Westfalen vom 19. August 2009 werden zurückgewiesen.
Die Klägerinnen tragen die Kosten des Revisionsverfah-
rens je zur Hälfte.
G r ü n d e :
I
Die Klägerinnen, eine marokkanische Staatsangehörige und ihre Tochter, er-
streben die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen aus humanitären Gründen.
Die nach eigenen Angaben 1968 in Casablanca geborene Klägerin zu 1 reiste
im Mai 2000 in das Bundesgebiet ein; die Klägerin zu 2 wurde hier am 31. Mai
2000 geboren. Die Klägerinnen beantragten Asyl, weil sie Repressalien seitens
ihrer Familie befürchteten. Die ledige Klägerin zu 1 gab an, wegen ihrer
Schwangerschaft von ihrem Stiefvater und ihren Brüdern geschlagen worden zu
sein. Von den marokkanischen Behörden habe sie keine Hilfe erhalten. Das
Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt - lehnte den Asylantrag mit Bescheid
vom 25. August 2000 ab. Im Anschluss an das erfolglose Klageverfahren wurde
der weitere Aufenthalt der Klägerinnen geduldet.
Den am 3. März 2004 gestellten Asylfolgeantrag lehnte das Bundesamt mit Be-
scheid vom 15. März 2004 ab. Die auf Feststellung von Abschiebungshinder-
nissen gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 18. No-
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vember 2005 ab; der Antrag auf Zulassung der Berufung hatte keinen Erfolg.
Auch ein weiterer Asylfolgeantrag vom März 2006 blieb erfolglos.
Noch während des laufenden verwaltungsgerichtlichen Verfahrens hatte der
Beklagte die Klägerin zu 1 erstmals aufgefordert, ein Formular zur Beantragung
von Passersatzpapieren auszufüllen. Das lehnte die Klägerin sowohl zu diesem
Zeitpunkt als auch später ab.
Am 5. Februar 2007 beantragten die Klägerinnen beim Beklagten die Erteilung
von Aufenthaltserlaubnissen aufgrund der Bleiberechtsregelung des IMK-Be-
schlusses vom 17. November 2006. Der Beklagte lehnte die Anträge mit Be-
scheid vom 15. August 2007 ab, da die Klägerinnen Maßnahmen zur Aufent-
haltsbeendigung vorsätzlich hinausgezögert und behindert hätten. Die Klägerin
zu 1 habe das ihr mehrfach vorgelegte Antragsformular auf Erteilung eines ma-
rokkanischen Passersatzpapiers nicht ausgefüllt. Trotz entsprechender Auffor-
derung habe sie auch keine Identitätsnachweise aus Marokko vorgelegt. Den
Widerspruch wies die Bezirksregierung mit Widerspruchsbescheid vom
20. Oktober 2007 zurück.
Das Verwaltungsgericht wies die Klagen mit Urteil vom 28. Oktober 2008 ab.
Die Berufungen der Klägerinnen hat das Oberverwaltungsgericht mit Beschluss
vom 19. August 2009 zurückgewiesen. Es hat seine Entscheidung auf folgende
Erwägungen gestützt:
Die Klägerinnen hätten keinen Anspruch auf Erteilung von Aufenthaltserlaub-
nissen gemäß § 104a Abs. 1 AufenthG, denn sie hätten den Ausschlussgrund
des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG verwirklicht. Der Wortlaut dieser Vor-
schrift erfasse auch ein Verhalten, das sich in der Verletzung von Mitwirkungs-
pflichten bei der Passbeschaffung erschöpfe. Außer Betracht blieben nur gering
gewichtige Pflichtverletzungen, wenn z.B. der Ausländer seinen Verpflichtungen
später nachgekommen sei oder die Ausländerbehörde es versäumt habe, diese
zu konkretisieren. Daran gemessen hätten die Klägerinnen ihre Mitwirkungs-
pflichten nachhaltig und andauernd verletzt; das Verhalten der Klägerin zu 1 sei
ihrer minderjährigen und von ihr vertretenen Tochter zuzurechnen. Die dagegen
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gerichteten Einwände der Klägerinnen griffen nicht durch. Die Klägerin zu 1
brauche keinen Pass ausgestellt zu bekommen, sondern könne zur Beschaf-
fung von Identitätsnachweisen wie z.B. einer Abschrift ihrer Geburtsurkunde
etc. einen Rechtsanwalt einschalten. Sie habe aber keinerlei Bemühungen in
dieser Richtung entfaltet. Unerheblich sei, ob dem Beklagten alle für die Pass-
beantragung notwendigen Angaben bekannt seien. Jedenfalls fehle weiterhin
die Unterschrift der Klägerin auf dem Antragsformular. Aufgrund der von ihr
angeführten Bemühungen des Caritasverbands hätte nicht ernsthaft mit der
Ausstellung von Personalpapieren gerechnet werden können, denn in dem
Schreiben vom 29. Mai 2007 seien nicht einmal die Namen der Klägerinnen
genannt worden. Die Motive der Klägerinnen minderten das Gewicht ihres Ver-
haltens nicht, denn ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer dürfe seine
Mitwirkung nicht unter Berufung auf zielstaatsbezogene Umstände verweigern,
hinsichtlich derer das Bundesamt das Vorliegen eines Abschiebungsverbots
verneint habe. Für die notwendige Kausalität reiche es aus, wenn keine konkre-
ten Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass trotz ordnungsgemäßer Mitwirkung eine
Aufenthaltsbeendigung unmöglich gewesen wäre. Nicht erforderlich seien Kon-
sequenzen für bereits eingeleitete aufenthaltsbeendende Maßnahmen. Der
Ausschlussgrund greife trotz der geäußerten Bedenken an der marokkanischen
Staatsangehörigkeit der Klägerin zu 2. Es sei davon auszugehen, dass sie die-
se bereits mit Geburt gemäß Art. 6 des marokkanischen Staatsangehörigkeits-
gesetzes von 1958 erworben habe. Andernfalls wäre sie inzwischen, seit In-
krafttreten der Neufassung des Gesetzes aus dem Jahre 2007, marokkanische
Staatsangehörige.
Wegen ihrer beharrlichen Weigerung, an der Passbeschaffung mitzuwirken,
hätten die Klägerinnen auch keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltser-
laubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG i.V.m. der Bleiberechtsanordnung. Insofern
könne dahinstehen, ob die Bleiberechtsanordnung aus dem Jahr 2006 noch
anwendbar sei. Schließlich stehe den Klägerinnen auch kein Anspruch auf Er-
teilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu. Zwar könnten
sie gegenwärtig ohne Pass oder Passersatzpapier nicht freiwillig nach Marokko
ausreisen. Bei ernsthafter Mitwirkung der Klägerin zu 1 sei jedoch mit dem
Wegfall des Ausreisehindernisses in absehbarer Zeit zu rechnen, sodass sie
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nicht unverschuldet an ihrer freiwilligen Ausreise gehindert seien. Der Klägerin
zu 2 sei auch kein Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8
EMRK zu erteilen. Eine rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise und Abschiebung
im Hinblick auf den Schutz ihre Privatlebens könne jedenfalls für ausländische
Kinder, die in Haushaltsgemeinschaft mit ihren in Deutschland geduldeten
Eltern lebten, nicht allein aus ihrem langjährigen Aufenthalt in Deutschland und
ihrer Integration in die hiesigen Verhältnisse abgeleitet werden.
Hiergegen richten sich die vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revisio-
nen der Klägerinnen.
II
Der Senat konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters des Beklagten verhandeln
und entscheiden, weil dieser in der Ladung darauf hingewiesen worden ist
(§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die zulässigen Revisionen der Klägerinnen sind unbegründet. Das Berufungs-
gericht hat Ansprüche der Klägerinnen auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnis-
sen aus humanitären Gründen in Übereinstimmung mit Bundesrecht (§ 137
Abs. 1 Nr. 1 VwGO) abgelehnt. Ihrem Begehren steht mit Blick auf die An-
spruchsgrundlagen sowohl des § 104a AufenthG (1.) als auch des § 25 Abs. 5
AufenthG (2.) entgegen, dass die Klägerin zu 1 die gebotene und zumutbare
Mitwirkung an der Beschaffung von Passersatzpapieren verweigert hat.
1. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin-
nen keinen Anspruch auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 104a
Abs. 1 AufenthG haben, da sie den in § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Halbs. 2 der
Vorschrift enthaltenen Versagungstatbestand erfüllen. Danach ist die Erteilung
einer Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage der gesetzlichen Altfallregelung
nur möglich, wenn der Ausländer behördliche Maßnahmen zur Aufenthaltsbe-
endigung nicht vorsätzlich hinausgezögert oder behindert hat.
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a) § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG setzt voraus, dass die Aufenthaltsbe-
endigung als solche rechtmäßig ist. Das ist hier der Fall. Sämtliche Asylanträge
der Klägerinnen hatten keinen Erfolg. Hat das Bundesamt festgestellt, dass
zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote gemäß § 60 AufenthG nicht beste-
hen, ist sowohl die Ausländerbehörde im Aufenthaltserlaubnisverfahren wie
auch das Gericht in einem sich daran anschließenden Prozess an diese Ent-
scheidung gebunden (§ 42 Satz 1 AsylVfG; vgl. dazu Urteil vom 27. Juni 2006
- BVerwG 1 C 14.05 - BVerwGE 126, 192 Rn. 12 und 17). Die Verwaltungsge-
richte haben gegenüber den Klägerinnen mehrfach rechtskräftig festgestellt,
dass ihrer Abschiebung nach Marokko keine zielstaatsbezogenen Abschie-
bungsverbote entgegenstehen. Daher kann ihr Vorbringen, die Gefahr einer
geschlechtsspezifischen Verfolgung sei bislang nicht geprüft worden, ihrem
Begehren nicht zum Erfolg verhelfen.
Das Berufungsgericht hat auch zu Recht entschieden, dass keine inlandsbezo-
genen Abschiebungsverbote vorliegen. Entgegen dem Vorbringen der Revision
lässt sich im vorliegenden Fall aus Art. 2 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK
kein Abschiebungsverbot zugunsten der Klägerin zu 2 ableiten. Das von diesen
Bestimmungen u.a. geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens umfasst,
auch soweit es keinen familiären Bezug hat, die Summe der persönlichen, ge-
sellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines
jeden Menschen konstitutiv sind und denen - angesichts der zentralen Bedeu-
tung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen -
bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt
(Urteil vom 27. Januar 2009 - BVerwG 1 C 40.07 - BVerwGE 133, 72 Rn. 21;
BVerfG, Kammerbeschluss vom 10. Mai 2007 - 2 BvR 304/07 - NVwZ 2007,
946 <947>; EGMR, Urteil vom 23. Juni 2008 - 1638/03 - Maslov - InfAuslR
2008, 333). Ein Privatleben im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK, das den Schutz-
bereich der Vorschrift eröffnet und eine Verwurzelung im Sinne der Rechtspre-
chung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte begründet, kommt
grundsätzlich nur auf der Grundlage eines rechtmäßigen Aufenthalts und eines
schutzwürdigen Vertrauens auf den Fortbestand des Aufenthalts in Betracht
(Urteil vom 30. April 2009 - BVerwG 1 C 3.08 - NVwZ 2009, 1239 Rn. 20;
offengelassen in: EGMR, Urteile vom 16. September 2004 - 11103/03 -
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Ghiban - NVwZ 2005, 1046 und vom 8. April 2008 - 21878/06 - Nnyanzi - ZAR
2010, 189 <190 f.>). Da der Klägerin zu 2 - wie ihrer Mutter - ausschließlich
asylverfahrensrechtliche Aufenthaltsgestattungen und Duldungen erteilt worden
sind, wurde ihr zu keiner Zeit ein Aufenthaltsrecht eingeräumt, das ein berech-
tigtes Vertrauen auf Fortbestand hätte begründen können. Der Beklagte hat den
Klägerinnen nie eine Verfestigung ihres Aufenthalts in Aussicht gestellt;
vielmehr hat er seit Abschluss des ersten Asylverfahrens konsequent auf die
Beendigung ihres Aufenthalts hingewirkt.
Selbst wenn man zugunsten der Klägerin zu 2 unterstellt, dass die Beendigung
des Aufenthalts in ihre Rechte aus Art. 2 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK
eingreifen würde, wäre der Eingriff gerechtfertigt (Art. 8 Abs. 2 EMRK). Die
Aufenthaltsbeendigung der Klägerin zu 2 steht in Einklang mit geltendem Recht
und dient einem legitimen Ziel, nämlich der Steuerung und Begrenzung des
Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland (§ 1 Abs. 1 Satz 1
AufenthG). Sie erweist sich mit Blick darauf als „in einer demokratischen Ge-
sellschaft notwendig“ und verhältnismäßig. Zwar ist die im Zeitpunkt der Ent-
scheidung des Berufungsgerichts neun Jahre alte Klägerin zu 2 in Deutschland
geboren und hier aufgewachsen. Aber auch wenn die Jahre der Kindheit die
Persönlichkeit in besonderer Weise prägen, kann in diesem Alter angesichts
des fortschreitenden Sozialisationsprozesses noch nicht von einer irreversiblen
Verwurzelung in die deutschen Lebensverhältnisse ausgegangen werden. In-
soweit räumt die Revision selbst ein, dass die Klägerin zu 2 rudimentär arabisch
spricht; zudem lässt sich in ihrem Alter Sprachkompetenz gut erwerben. Im
Rahmen der Abwägung ist außerdem zu berücksichtigen, dass bei Minder-
jährigen das Aufenthaltsbestimmungsrecht der Eltern im Vordergrund steht. Die
von Art. 6 Abs. 2 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Beziehung zwischen
Eltern und Kindern führt dazu, dass Kinder in der familiären Gemeinschaft
grundsätzlich das aufenthaltsrechtliche Schicksal ihrer Erziehungsberechtigten
teilen. In aller Regel - und so auch hier - erscheint es selbst einem in Deutsch-
land geborenen ausländischen Kind zumutbar, nach mehrjährigem asylverfah-
rensbedingtem Aufenthalt das Land zusammen mit seinen Eltern bzw. einem
Elternteil wieder zu verlassen und sich in dem Land seiner Staatsangehörigkeit
zu integrieren. Dabei kann im vorliegenden Fall nicht unberücksichtigt bleiben,
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dass die Verzögerung der Aufenthaltsbeendigung auf der mangelnden Mitwir-
kung der Klägerin zu 1 bei der Passbeschaffung beruht; dieses Verhalten ihrer
Mutter als ihrer gesetzlichen Vertreterin muss sich die Klägerin zu 2 zurechnen
lassen.
b) Der objektive Tatbestand des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG knüpft an
aufenthaltsbeendende Maßnahmen an. Entgegen der Auffassung der Revision
setzt die Vorschrift nicht voraus, dass eine behördliche Maßnahme zur Aufent-
haltsbeendigung bereits konkret eingeleitet worden war (so aber Fränkel, in:
HK-AuslR, § 104a AufenthG Rn. 13). Andernfalls würde dieser Ausschluss-
grund in besonders qualifizierten Fällen, wenn der ausreisepflichtige Ausländer
z.B. noch vor der Möglichkeit einer Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnah-
men untergetaucht ist, nicht greifen. Diese Auffassung verfehlt den Zweck der
Vorschrift, aufenthaltsrechtliche Pflichtverletzungen des Ausländers nicht durch
die Gewährung eines Bleiberechts zu honorieren.
c) Hinauszögern oder Behindern behördlicher Maßnahmen zur Aufenthaltsbe-
endigung im Sinne des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG setzt kein aktives
Tun des Ausländers voraus. Vielmehr greift der Ausschlusstatbestand grund-
sätzlich auch dann, wenn die Erfüllung von Mitwirkungspflichten verweigert wird
und die mangelnde Mitwirkung ein gewisses Gewicht erreicht, sodass es ge-
rechtfertigt erscheint, sie aktivem Handeln gleichzustellen und ein Bleiberecht
zu versagen. Allerdings muss die Ausländerbehörde gesetzliche Mitwirkungs-
pflichten z.B. zur Beschaffung von Identitätspapieren (§ 48 Abs. 3 AufenthG)
konkret gegenüber dem Betroffenen aktualisiert haben, um aus der mangeln-
den Mitwirkung negative aufenthaltsrechtliche Folgen ziehen zu können. Das
Berufungsgericht hat in der angefochtenen Entscheidung (BA S. 16 f.) festge-
stellt, dass die Klägerin zu 1 seitens des Beklagten aufgefordert worden ist,
Pass- bzw. Passersatzpapieranträge zu unterschreiben und ihre Mitwirkung
andauernd verletzt hat. An diese tatsächliche Feststellung ist das Revisionsge-
richt gebunden, da die Revision keine Verfahrensrügen erhoben hat (§ 137
Abs. 2 VwGO). Mit ihrem Vorbringen, der Beklagte habe nicht vorgetragen,
wann konkret er die Klägerin zur Unterschrift aufgefordert habe, vermag die
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Revision die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts nicht erfolgreich infrage
zu stellen.
Die konkret eingeforderte Mitwirkungshandlung muss rechtmäßig, insbesondere
dem Betroffenen zumutbar gewesen sein (Urteil vom 10. November 2009
- BVerwG 1 C 19.08 - BVerwGE 135, 219 Rn. 20). Der Umstand, dass die Klä-
gerinnen sich auf das Vorliegen zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote be-
rufen, stellt die Zumutbarkeit der geforderten Mitwirkungshandlungen nicht in-
frage. Denn insoweit sind die Ausländerbehörde und die Verwaltungsgerichte
gemäß § 42 Satz 1 AsylVfG an die Feststellungsbescheide des Bundesamtes
gebunden.
d) Die Revision wendet ein, dass auch dann, wenn die Klägerin zu 1 das An-
tragsformular unterschrieben hätte, zumindest für die Klägerin zu 2 keine Pa-
piere ausgestellt worden wären. Die gegenteilige Annahme des Berufungsge-
richts erweise sich als nicht verifizierbare Annahme. Mit diesem Vorbringen
stellt die Revision infrage, dass die Unmöglichkeit der Aufenthaltsbeendigung
auf dem Verhalten der Klägerin zu 1 beruht; sie verfehlt jedoch den Maßstab,
nach dem sich die Kausalität beurteilt.
Im Ansatz trifft es zu, dass die Tatbestandsmerkmale „hinauszögern“ und „be-
hindern“ eine Kausalbeziehung zwischen dem Verhalten des Ausländers und
dem Misserfolg der behördlichen Aufenthaltsbeendigung voraussetzen. Das
Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass eine Aufenthaltsbeendigung
möglich ist, wenn keine konkreten Anhaltspunkte für das Gegenteil vorliegen
(BA S. 8). Das entspricht der Rechtsprechung des erkennenden Senats, derzu-
folge dem Ausländer keine Handlungen abverlangt werden dürfen, die von
vornherein ohne Einfluss auf die Möglichkeit der Ausreise oder erkennbar aus-
sichtslos sind (Beschlüsse vom 3. Juni 2006 - BVerwG 1 B 132.05 - und vom
10. März 2009 - BVerwG 1 B 4.09 - Buchholz 402.242 § 25 AufenthG Nr. 3
und 11 zu § 25 Abs. 5 Satz 4 AufenthG). Unterhalb dieser Schwelle besteht
hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen einer Verletzung von Mitwirkungs-
pflichten und der Erfolglosigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen, der immer
nur hypothetisch beurteilt werden kann, eine tatsächliche widerlegbare
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Vermutung zulasten des Ausländers (vgl. auch Urteil vom 10. November 2009
a.a.O. Rn. 20).
Legt man diesen Maßstab zugrunde, ist das Berufungsgericht im Rahmen sei-
ner Beweiswürdigung in nachvollziehbarer Weise zu der Feststellung gelangt,
dass die Klägerinnen die tatsächliche Kausalitätsvermutung nicht widerlegt ha-
ben. Ihre Einwände, die sie gegen die ausführliche Würdigung des Berufungs-
gerichts zum Erwerb der marokkanische Staatsangehörigkeit der Klägerin zu 2
(BA S. 19 ff.) erheben, greifen nicht durch. Zum einen wiederholt die Revision
nur ihr Berufungsvorbringen, ohne sich mit der Begründung der angefochtenen
Entscheidung auseinander zu setzen. Zum anderen übersieht sie, dass die
Anwendung ausländischen Rechts zur Tatsachenfeststellung zählt (§ 173
VwGO i.V.m. § 293 ZPO), an die das Revisionsgericht gebunden ist, wenn kei-
ne durchgreifenden Verfahrensrügen erhoben werden (§ 137 Abs. 2 VwGO).
e) § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG setzt subjektiv ein vorsätzliches Verhal-
ten des Ausländers voraus. Eine wissentliche und willentliche Behinderung oder
Verzögerung aufenthaltsbeendender Maßnahmen liegt jedenfalls dann vor,
wenn der Betroffene von der Ausländerbehörde ausdrücklich zur (zumutbaren
und erheblichen) Mitwirkung angehalten wird und sich der Mitwirkung ver-
weigert (Urteil vom 10. November 2009 a.a.O. Rn. 21). Im vorliegenden Fall hat
das Berufungsgericht - wie bereits ausgeführt - festgestellt, dass der Beklagte
die Klägerin zu 1 aufgefordert hat, das Antragsformular zur Ausstellung von
Passersatzpapieren zu unterschreiben. Dem hat sich die Klägerin zu 1 verwei-
gert. Ihre Motive sind, da sie sich auf das Vorliegen zielstaatsbezogener Ab-
schiebungsverbote beruft, aufenthaltsrechtlich unbeachtlich, da (mehrfach)
rechtskräftig festgestellt worden ist, dass keines der in § 60 AufenthG geregel-
ten Abschiebungsverbote greift. Im Übrigen schließt die gesetzliche Ausreise-
pflicht die Obliegenheit für den Ausländer ein, sich auf seine Ausreise einzu-
stellen, zur Ausreise bereit zu sein und einen dahingehenden Willen zu bilden.
In diesem Rahmen ist ein ausreisepflichtiger Ausländer gehalten, zur Ausreise
nicht nur willens und bereit zu sein, sondern auch an darauf zielenden Maß-
nahmen mitzuwirken (vgl. Urteil vom 10. November 2009 a.a.O. Rn. 14). Mit
ihrem Verhalten, das sich die Klägerin zu 2 als gesetzlich Vertretene zurechnen
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lassen muss, hat die Klägerin zu 1 die Ausstellung von Passersatzpapieren
vorsätzlich vereitelt.
f) Da bereits § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG dem geltend gemachten An-
spruch entgegensteht, bedarf es im vorliegenden Fall keiner weiteren Erörte-
rung, wie sich die Regelung des § 104a Abs. 5 Satz 1 AufenthG auf den Prü-
fungsmaßstab für das streitgegenständliche Begehren auswirkt. Danach darf
eine Aufenthaltserlaubnis nach der gesetzlichen Altfallregelung nur mit einer
Gültigkeit bis zum 31. Dezember 2009 erteilt werden. Diese Vorschrift schließt
die (erstmalige) Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage des
§ 104a AufenthG für einen nach dem 31. Dezember 2009 liegenden Zeitraum
aus. Die Konsequenzen aus der zeitlichen Beschränkung der erstrebten
Rechtsfolge, die während des Revisionsverfahrens aktuell geworden ist, kann
im vorliegenden Verfahren dahinstehen (vgl. aber Urteil vom 26. Oktober 2010
- BVerwG 1 C 19.09 -).
2. Ein Anspruch der Klägerinnen nach § 25 Abs. 5 AufenthG scheidet aus, da
bereits die Tatbestandsvoraussetzungen der Bestimmung nicht vorliegen. Nach
dieser Vorschrift kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist,
abweichend von § 11 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden,
wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist
und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rech-
nen ist. Die Aufenthaltserlaubnis soll erteilt werden, wenn die Abschiebung seit
18 Monaten ausgesetzt ist. Gemäß Satz 3 der Vorschrift darf eine Aufenthalts-
erlaubnis nur erteilt werden, wenn der Ausländer unverschuldet an der Ausreise
gehindert ist. Ein Verschulden des Ausländers liegt nach Satz 4 insbesondere
vor, wenn er falsche Angaben macht oder über seine Identität oder Staatsan-
gehörigkeit täuscht oder zumutbare Anforderungen zur Beseitigung der Ausrei-
sehindernisse nicht erfüllt.
Die Klägerinnen sind vollziehbar ausreisepflichtig (§ 50 Abs. 1 AufenthG). Die
rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise kann sich auch aus zielstaatsbezogenen
Abschiebungsverboten ergeben, weil dann eine freiwillige Rückkehr grundsätz-
lich unzumutbar ist. Aber auch bei der Entscheidung über eine Aufenthalts-
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erlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG ist die Ausländerbehörde bei ehemaligen
Asylbewerbern gemäß § 42 Satz 1 AsylVfG an die (positive oder negative)
Feststellung des Bundesamtes gebunden (Urteil vom 27. Juni 2006 a.a.O. Rn.
17). Demzufolge kann die Berufung auf zielstaatsbezogene Abschiebungsver-
bote auch insoweit der Revision nicht zum Erfolg verhelfen. Jedoch ist davon
auszugehen, dass die Klägerinnen tatsächlich nicht über gültige Reisedoku-
mente verfügen (§ 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG). Damit erscheint ihre Ausreise
derzeit und auf absehbare Zeit unmöglich.
Die Klägerinnen sind allerdings nicht unverschuldet an ihrer Ausreise gehindert.
Ein Verschulden im Sinne dieser Vorschrift liegt vor, da die Klägerinnen zumut-
bare Anforderungen zur Beseitigung des Ausreisehindernisses vorsätzlich nicht
erfüllt haben (§ 25 Abs. 5 Satz 3 und 4 AufenthG). Insoweit kann auf die Aus-
führungen zu § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG verwiesen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO und
§ 100 Abs. 1 ZPO.
Eckertz-Höfer Prof. Dr. Dörig Richter
Prof. Dr. Kraft Fricke
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstands wird für das Revisionsverfahren auf 10 000 €
festgesetzt (§ 47 Abs. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2 und § 39 Abs. 1 GKG).
Eckertz-Höfer Richter Prof. Dr. Kraft
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Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Ausländerrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
AsylVfG
§ 42 Satz 1
AufenthG
§ 1 Abs. 1 Satz 1, § 25 Abs. 5, § 48 Abs. 3,
§§ 60, 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, Abs. 5
EMRK
Art. 8
GG
Art. 2 Abs. 1, Art. 6
VwGO
§ 137 Abs. 2, § 173
ZPO
§ 293
Stichworte:
Abschiebungsverbot; Aufenthaltsbeendigung; Aufenthaltserlaubnis; ausländi-
sches Recht; Altfallregelung; Behindern; Bleiberecht; Ausschlussgrund; Hin-
auszögern; Mitwirkung; Privatleben; Verwurzelung; Verschulden; Vorsatz.
Leitsätze:
1. Fordert die Ausländerbehörde einen vollziehbar ausreisepflichtigen Auslän-
der auf, eine ihm zumutbare Mitwirkungshandlung zur Beseitigung eines Aus-
reisehindernisses vorzunehmen (hier: einen Antrag auf Ausstellung eines
Passersatzpapiers zu unterschreiben), und verweigert der Ausländer diese
Mitwirkung, dann behindert er vorsätzlich behördliche Maßnahmen zur Aufent-
haltsbeendigung im Sinne von § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG (wie Urteil
vom 10. November 2009 - BVerwG 1 C 19.08 - BVerwGE 135, 219).
2. § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG setzt nicht voraus, dass eine behördli-
che Maßnahme zur Aufenthaltsbeendigung bereits konkret eingeleitet worden
war.
Urteil des 1. Senats vom 26. Oktober 2010 - BVerwG 1 C 18.09
I. VG Münster vom 28.10.2008 - Az.: VG 5 K 1819/07 -
II. OVG Münster vom 19.08.2009 - Az.: OVG 18 A 3049/08 -