Urteil des BVerwG vom 08.05.2003

Anerkennung, Widerruf, Bundesamt, Änderung der Verhältnisse

B
U
N
D
E
S
V
E
R
W
A
L
T
U
N
G
S
G
E
R
I
C
H
T
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 C 15.02
Verkündet
OVG 8 LB 13/02
am 8. Mai 2003
Battiege
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
- 2 -
hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 8. Mai 2003
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r ,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht H u n d und R i c h t e r , die Richterin
am Bundesverwaltungsgericht B e c k und den Richter am Bundesverwaltungsgericht
Prof. Dr. D ö r i g
für Recht erkannt:
Die Revision des Klägers gegen den Beschluss des
Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 21. Februar 2002
wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I.
Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf seiner Anerkennung als politischer Flüchtling
nach § 51 Abs. 1 AuslG.
Der 1980 geborene Kläger ist Staatsangehöriger der Republik Serbien und Montenegro (frü-
her Jugoslawien), er ist albanischer Volkszugehöriger und stammt aus dem Kosovo. Er reiste
im Juli 1998 auf dem Landweg nach Deutschland ein und beantragte zunächst erfolglos die
Anerkennung als Asylberechtigter. Mit Urteil vom 14. Mai 1999 verpflichtete das Verwal-
tungsgericht die Beklagte zur Gewährung von asylrechtlichem Abschiebungsschutz nach
§ 51 Abs. 1 AuslG, weil albanische Volkszugehörige im Kosovo einer ethnischen Gruppen-
verfolgung unterlägen. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bun-
desamt) ließ die Entscheidung unanfechtbar werden und erteilte dem Kläger am 22. Juni
1999 unter Hinweis auf das rechtskräftige Verpflichtungsurteil einen Anerkennungsbescheid
nach § 51 Abs. 1 AuslG. Im Februar 2000 leitete das Bundesamt ein Widerrufsverfahren ein
und hörte den Kläger hierzu an. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 27. Juni 2000 wider-
rief das Bundesamt die Anerkennung nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG und stellte fest, dass
Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht bestehen. Bei einer Rückkehr in den
Kosovo müsse der Kläger derzeit nicht mehr mit Verfolgung rechnen.
Mit der hiergegen gerichteten Klage hat der Kläger vor allem geltend gemacht, eine zum
Widerruf berechtigende Änderung der Sachlage sei seit dem Erlass des Anerkennungsbe-
scheids nicht eingetreten. Die Klage ist in beiden Vorinstanzen erfolglos geblieben. Das
- 3 -
Oberverwaltungsgericht Lüneburg (AuAS 2002, 90) hat sie als unbegründet angesehen,
weil für die Änderung der Sachlage auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Verurteilung zur An-
erkennung abzustellen sei. Dafür spreche, dass die Entscheidung über das Vorliegen der
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG getroffen worden sei
aufgrund der Verhältnisse, die bei Erlass des Verpflichtungsurteils bestanden hätten. Au-
ßerdem stehe mit Erlass des Verpflichtungsurteils zwischen den Beteiligten rechtskräftig
fest, dass nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ein
Anspruch auf Feststellung von asylrechtlichem Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG
bestanden habe. Die gegenteilige Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs München (AuAS
2001, 23 f.) berücksichtige nicht hinreichend, dass das Bundesamt den Feststellungsbe-
scheid in Vollzug des Verpflichtungsurteils erlassen und nicht geprüft habe, ob die Voraus-
setzungen des § 51 Abs. 1 AuslG noch vorliegen. Ausgehend vom Zeitpunkt der verwal-
tungsgerichtlichen Verpflichtungsentscheidung hätten sich die tatsächlichen Verhältnisse
seit dem Einmarsch der KFOR-Friedenstruppen im Kosovo geändert.
Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Anfechtungsbegehren weiter. Er hält daran fest,
dass für die Beurteilung einer nachträglichen Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 73
Abs. 1 Satz 1 AsylVfG der Zeitpunkt des Erlasses des Bundesamtsbescheids auch dann
maßgeblich sei, wenn die Anerkennung wie hier auf einem Verpflichtungsurteil beruhe. Das
Bundesamt dürfe dem Ausländer nichts geben, was es sofort wieder zurücknehmen müsse.
Außerdem stehe dem Widerruf die Rechtskraft des Verpflichtungsurteils entgegen.
Die Beklagte verteidigt die angefochtenen Entscheidungen und verweist auf die Rechtspre-
chung des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim, nach der das Bundesamt nicht - jedenfalls
nicht gegenüber dem Kläger - verpflichtet gewesen sei, das rechtskräftige Verpflichtungsur-
teil mit einer Vollstreckungsgegenklage anzugreifen. Außerdem sei nicht festgestellt und äu-
ßerst zweifelhaft, dass zum Zeitpunkt des Erlasses des Anerkennungsbescheids überhaupt
schon alle tatsächlichen Voraussetzungen für eine Ablehnung vorgelegen hätten.
II.
Die Revision ist nicht begründet. Sie bezieht sich nur auf den Widerruf der Asylanerkennung
nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, zu der der Senat die Revision zugelassen hat. Die im Wi-
derrufsbescheid ferner enthaltene negative Feststellung zu § 53 AuslG ist nicht Gegenstand
des Revisionsverfahrens; insoweit hat die Revision Einwände auch nicht erhoben. Das
Oberverwaltungsgericht hat den Widerruf in Übereinstimmung mit Bundesrecht als rechtmä-
ßig angesehen.
- 4 -
1. Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Fest-
stellung, dass die Voraussetzungen des § 51 AuslG vorliegen, unverzüglich zu widerrufen,
wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen, also insbesondere dann, wenn die
Gefahr politischer Verfolgung im Herkunftsstaat nicht mehr besteht. Das Oberverwaltungsge-
richt ist zutreffend davon ausgegangen, dass der angefochtene Widerrufsbescheid diesen
Anforderungen entspricht und rechtmäßig ist. Auch die Revision behauptet nicht, dass dem
Kläger als albanischem Volkszugehörigen zum maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsent-
scheidung im Kosovo (immer noch) die Gefahr einer ethnischen Gruppenverfolgung gedroht
hat. Sie wendet sich vielmehr dagegen, dass die Vorinstanzen eine den Widerruf legitimie-
rende Änderung der Sachlage im Zeitpunkt des Erlasses des Widerrufsbescheids ange-
nommen haben, obwohl sich die tatsächlichen Verhältnisse im Kosovo nach dem Ende des
Kosovo-Konflikts ab etwa 10. Juni 1999 und seit dem Erlass des Anerkennungsbescheids
am 22. Juni 1999 durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
(Bundesamt) nicht mehr wesentlich verändert hätten. Mit diesem Vorbringen verkennt die
Revision, dass für die rechtliche Beurteilung, ob ein Widerrufsgrund nach § 73 Abs. 1 Satz 1
AsylVfG in Gestalt einer Änderung der Sachlage vorliegt, nicht von der bei Erlass des Aner-
kennungsbescheids am 22. Juni 1999 bestehenden, sondern von der in dem zur Asylaner-
kennung verpflichtenden Urteil des Verwaltungsgerichts vom 14. Mai 1999 zugrunde geleg-
ten Sachlage auszugehen ist.
a) Auf welchen Zeitpunkt bei der Prüfung der Frage abzustellen ist, ob eine zum Widerruf
nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG berechtigende und verpflichtende Änderung der Sachlage
eingetreten ist, hat das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 19. September 2000
(- BVerwG 9 C 12.00 - BVerwGE 112, 80) nicht generell, sondern lediglich für die damalige
Fallkonstellation entschieden. Die Revision und der von ihr angeführte Beschluss des Ver-
waltungsgerichtshofs München vom 16. November 2000 (- 20 ZBH 00.32237 - AuAS 2001,
23 = BayVBl 2001, 534) können sich zur Begründung ihrer Rechtsansicht auf diese Ent-
scheidung des früher für das Asylrecht zuständigen 9. Senats des Bundesverwaltungsge-
richts nicht berufen. Nur wenn das Bundesamt die Anerkennung von sich aus ausgespro-
chen hat, kommt es im Widerrufsverfahren darauf an, ob sich "die für die Beurteilung der
Verfolgungslage maßgeblichen Verhältnisse nach Ergehen des bestandskräftigen Anerken-
nungsbescheids erheblich geändert haben … und die Anerkennung als Asylberechtigter oder
die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 51 Abs. 1 AuslG deswegen nunmehr
ausgeschlossen ist" (BVerwG a.a.O. S. 84). Für den Widerruf solcher Anerkennungsbe-
scheide, die - wie hier - in Erfüllung eines rechtskräftigen Verpflichtungsurteils erlassen wor-
den sind, ist dagegen auf den Zeitpunkt zurückzugreifen, zu dem das zur Anerkennung ver-
- 5 -
pflichtende Urteil ergangen ist (vgl. außer den Berufungsentscheidungen des OVG Lüneburg
im Ausgangsverfahren und in den Parallelverfahren BVerwG 1 C 16.02 und 36.02 auch
VGH Mannheim, Urteil vom 19. September 2002 - A 14 S 457/02 - ). Maßgeblich für
die Prüfung der Voraussetzungen des Widerrufs von Asylanerkennungen, die in Erfüllung
eines rechtskräftigen Verpflichtungsurteils ergangen sind, ist mithin nicht der Zeitpunkt des
Ergehens des Anerkennungsbescheids, sondern des rechtskräftig gewordenen Verpflich-
tungsurteils. Abzustellen ist danach auf die für das rechtskräftig gewordene Verpflichtungs-
urteil maßgeblichen Verhältnisse, d.h. auf die Sach-und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten
mündlichen Verhandlung des Tatsachengerichts bzw. - bei Entscheidungen ohne mündliche
Verhandlung - des Fällens seiner Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG und Urteil
vom 18. September 2001 - BVerwG 1 C 7.01 - BVerwGE 115, 118 <120 f.>). Alle späteren
Tatsachenlagen sind von dem rechtskräftigen Verpflichtungsurteil und demzufolge auch von
dem in Erfüllung eines solchen Urteils ergehenden Bescheids regelmäßig nicht erfasst. Dem
entspricht im Übrigen die Begründung des hier widerrufenen Anerkennungsbescheids, die
ausschließlich darauf abstellt, dass die Anerkennung in Erfüllung des rechtskräftigen Urteils
ergehe. Mit diesem Erklärungsinhalt ist der Anerkennungsbescheid bestandskräftig gewor-
den. Auch daher ist es nur folgerichtig, für den Widerruf von den tatsächlichen Verhältnissen
in dem Zeitpunkt auszugehen, der schon der Anerkennung durch das Bundesamt zugrunde
lag.
b) Bei diesem Ergebnis kann offen bleiben, ob sich die Maßgeblichkeit des Zeitpunkts der
gerichtlichen Verpflichtung zur Anerkennung als politischer Flüchtling nach § 51 Abs. 1
AuslG für die Prüfung der Widerrufsvoraussetzungen in Fällen wie dem vorliegenden auch
daraus ergibt, dass der Gesetzgeber den Eintritt wesentlicher Rechtswirkungen der Flücht-
lingsanerkennung auf den Zeitpunkt der Unanfechtbarkeit eines zur Anerkennung verpflich-
tenden verwaltungsgerichtlichen Urteils vorgezogen hat (vgl. § 3 und § 70 Abs. 1 AsylVfG in
der ab 1. Juli 1992 geltenden Fassung).
c) Dass eine erhebliche Sachlagenänderung nach dem Ende des Kosovo-Konflikts (durch
das Militärabkommen zwischen Jugoslawien und der NATO vom 9. Juni 1999, die nachfol-
gende UN-Resolution 1244 vom 10. Juni 1999 und den danach beginnenden Einmarsch der
KFOR-Truppen) anzunehmen ist, stellt auch die Revision nicht in Abrede. Auf der Grundlage
der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts ist mithin nicht zweifelhaft, dass die gesetz-
lichen Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG für den Widerruf vorgelegen haben.
Dabei bedarf es keiner weiteren Prüfung, ob - wie die Revision meint - zum Zeitpunkt des
Erlasses des widerrufenen Anerkennungsbescheids am 22. Juni 1999 die tatsächlichen Ver-
hältnisse bereits so waren, dass schon damals ein Widerruf möglich und geboten gewesen
- 6 -
wäre. Dazu fehlen hinreichende Feststellungen des Berufungsgerichts, worauf die Beklagte
in der Revisionsverhandlung zutreffend hingewiesen hat. Sie sind entbehrlich, weil es hierauf
nicht ankommt. Die Beklagte wäre nämlich zum einen, wie noch auszuführen ist, selbst dann
grundsätzlich nicht verpflichtet gewesen, die rechtskräftige Verpflichtung zur Anerkennung
des Klägers aus dem verwaltungsgerichtlichen Urteil vom 14. Mai 1999 durch die Inan-
spruchnahme der Gerichte wieder aufheben zu lassen. Zum anderen ist auch auszuschlie-
ßen, dass die hier angefochtene Widerrufsverfügung etwa noch deshalb rechtswidrig sein
könnte, weil das Bundesamt - unterstellt, die Widerrufsvoraussetzungen hätten bereits bei
Erlass des Anerkennungsbescheids am 22. Juni 1999 vorgelegen - bei Erlass des Wider-
rufsbescheids am 27. Juni 2000 die Jahresfrist für einen Widerruf nach § 49 Abs. 2 Satz 2,
§ 48 Abs. 4 VwVfG versäumt hätte. Das folgt schon daraus, dass die Jahresfrist frühestens
nach einer Anhörung des Klägers mit einer angemessenen Frist zur Stellungnahme zu lau-
fen begonnen hätte (vgl. Urteil vom 20. September 2001 - BVerwG 7 C 6.01 - Buchholz 316
§ 48 VwVfG Nr. 103 = NVwZ 2002, 485). Davon abgesehen kann offen bleiben, ob die Jah-
resfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs. 4 VwVfG bei einem Widerruf nach § 73 Abs. 1
Satz 1 AsylVfG überhaupt anwendbar ist (vgl. bisher nur Urteil vom 19. September 2000
- BVerwG 9 C 12.00 - BVerwGE 112, 80).
2. Der Widerrufsbescheid ist auch nicht aus anderen Gründen zum Nachteil des Klägers
rechtswidrig. Namentlich war die Beklagte entgegen der Ansicht der Revision nicht verpflich-
tet, eine Vollstreckungsabwehrklage nach § 167 VwGO, § 767 ZPO zu erheben, um die
Vollstreckbarkeit des rechtskräftigen Verpflichtungsurteils zu beseitigen, anstatt diese Ent-
scheidung zu vollziehen und den Kläger nach § 51 Abs. 1 AuslG als politischen Flüchtling
anzuerkennen. Ziel der in § 767 ZPO geregelten Klage ist es zwar, Veränderungen Rech-
nung zu tragen, die die Vollstreckbarkeit des Titels betreffen, sofern Umstände geltend ge-
macht werden, die den durch das Urteil festgestellten sachlich-rechtlichen Anspruch als sol-
chen erfassen und geeignet sind, den rechtskräftig zuerkannten Anspruch nachträglich zu
vernichten oder in seiner Durchsetzbarkeit zu hemmen (vgl. zuletzt das Urteil vom 19. Sep-
tember 2002 - BVerwG 4 C 10.01 - Buchholz 303 § 767 ZPO Nr. 5 = DVBl 2003, 201). Da-
gegen ist die Verwaltung nicht befugt, die Erfüllung eines rechtskräftigen Verpflichtungsur-
teils allein unter Berufung auf eine wesentliche Änderung der Sach- oder Rechtslage zu un-
terlassen, ohne die Aufhebung des unbedingten Leistungsbefehls durch eine Vollstre-
ckungsabwehrklage zu betreiben. Damit würde die Rechtskraftwirkung von Leistungsurteilen
verkannt und unnötig ausgehöhlt. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Urteil vom
23. November 1999 (- BVerwG 9 C 16.99 - BVerwGE 110, 111). Es ist zur Frage der Über-
windung der Rechtskraft eines Feststellungsurteils - und zwar einer fehlerhaft selbst Ab-
schiebungshindernisse nach § 53 AuslG feststellenden erstinstanzlichen Entscheidung - er-
- 7 -
gangen. Die vom Senat in jener Entscheidung betonte zeitliche Grenze der Rechtskraft gilt
auch für Verpflichtungsurteile. Entfällt die materielle Rechtskraft eines Verpflichtungsurteils
durch nachträgliche Änderung der Sachlage, so folgt daraus allerdings - mit Wirkung für die
Zukunft - nur, dass der mit dem Urteil zugesprochene Anspruch auf Erlass des Verwaltungs-
akts nicht mehr als bestehend anzusehen ist; das entbindet die Behörde aber nicht von der
im rechtskräftigen Urteil ausgesprochenen Verpflichtung zum Erlass des begehrten Verwal-
tungsakts. Die Behörde ist befugt, die Rechtsfolge der zeitlichen Überholung der Rechtskraft
selbst festzustellen und ihrem weiteren Handeln - auch einem Widerruf (vgl. Urteil vom
18. September 2001 - BVerwG 1 C 7.01 - BVerwGE 115, 118 <121>; ebenso VGH
Mannheim, Urteil vom 14. Februar 2001 - A 9 S 2007/99 - ESVGH 51, 186 = InfAuslR 2001,
406 und OVG Münster, Urteil vom 20. Februar 2002 – 21 A 613/02 A - ) - zugrunde zu
legen; insoweit ist die Rechtslage mit derjenigen im Urteil des Senats vom 23. November
1999 a.a.O. vergleichbar (zu Leistungsurteilen im Zivilprozess vgl. Münzberg in: Stein/Jonas,
ZPO, 21. Aufl., § 767 Rn. 3). Ein unerfüllter Verpflichtungsausspruch bleibt jedoch vollstreck-
bar, wenn und solange nicht eine Vollstreckungsabwehrklage erfolgreich durchgeführt wird.
Grundsätzlich ist aber niemand verpflichtet, Rechtsmittel gegen gerichtliche Entscheidungen
einzulegen und rechtskräftige Urteile wegen nachträglich eintretender Änderungen mit der
Vollstreckungsabwehrklage anzufechten. Ob es Sonderfälle geben mag, in denen eine Be-
hörde nach Treu und Glauben verpflichtet sein kann, Rechtsmittel auszuschöpfen und auch
eine Vollstreckungsgegenklage zu erheben, um irreversiblen Schaden von der Allgemeinheit
oder von Einzelnen abzuwenden, kann dahinstehen (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom
19. September 2002 a.a.O. mit Erwägungen zur Entstehung irreparabel rechtswidriger Zu-
stände im Baurecht). Anhaltspunkte für eine ausnahmsweise bestehende Verpflichtung der
Beklagten zu einem solchen Vorgehen sind hier nicht erkennbar, weder im öffentlichen noch
im privaten Interesse des Klägers. In Fällen wie dem vorliegenden liegt es vielmehr gerade
im Interesse des Asylbewerbers, dass das Bundesamt zu seinen Gunsten zunächst die kon-
stitutiv wirkende (vgl. § 3 AsylVfG und zum Asylgrundrecht BVerfG, Urteil vom 4. Mai 1996
- 2 BvR 1516/93 - BVerfGE 94, 166 <199>) Anerkennung ausspricht. Nur dann kommt er
nämlich in den Genuss sämtlicher Rechtswirkungen der Flüchtlingsanerkennung, die über
die erwähnten Begünstigungen durch die gerichtliche Entscheidung weit hinausgehen und
ihm auch bei einem späteren Widerruf durch die aufschiebende Wirkung von Rechtsmitteln
(§ 75 AsylVfG) oder im Falle der Anordnung sofortiger Vollziehung durch die erfolgreiche
Inanspruchnahme verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutzes bis zur Entscheidung in der
Hauptsache vorläufig erhalten bleiben.
- 8 -
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß
§ 83 b Abs. 1 AsylVfG nicht erhoben; der Gegenstandswert ergibt sich aus § 83 b Abs. 2
AsylVfG.
Eckertz-Höfer Hund Richter
Beck Prof. Dr. Dörig
Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
Asylverfahrensrecht
Fachpresse: ja
Ausländerrecht
Verwaltungsprozessrecht
Rechtsquellen:
AsylVfG § 73 Abs. 1
AuslG § 51 Abs. 1
VwGO § 167
VwVfG § 48 Abs. 4, § 49 Abs. 2
ZPO § 767
Stichworte:
Asylrechtlicher Abschiebungsschutz; Anerkennung als politischer Flüchtling; rechtskräftiges
Verpflichtungsurteil; Widerruf wegen nachträglicher Änderung der tatsächlichen Verhältnisse
im Heimatstaat (hier: Jugoslawien/Kosovo); maßgeblicher Zeitpunkt; Jahresfrist für Widerruf;
Vollstreckungsabwehrklage; Vollstreckungsgegenklage.
Leitsätze:
1. Maßgeblich für die Prüfung der Voraussetzungen des Widerrufs von Asylanerkennungen,
die in Erfüllung eines rechtskräftigen Verpflichtungsurteils ergangen sind, ist nicht der Zeit-
punkt des Ergehens des Anerkennungsbescheids, sondern des rechtskräftig gewordenen
Verpflichtungsurteils.
2. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ist bei einer nachträgli-
chen Änderung der Sachlage (hier: durch das Ende des Kosovo-Konflikts im Juni 1999) an
einem Widerruf der Asylanerkennung nicht gehindert, wenn es das zur Asylanerkennung
verpflichtende Urteil nicht mit einer Vollstreckungsabwehrklage angegriffen, sondern zu-
nächst die Anerkennung ausgesprochen hat.
Urteil des 1. Senats vom 8. Mai 2003 - BVerwG 1 C 15.02
I. VG Osnabrück vom 23.01.2001 - Az.: VG 5 A 329/00 -
II. OVG Lüneburg vom 21.02.2002 - Az.: OVG 8 LB 13/02 -