Urteil des BVerwG vom 16.08.2011

Aufenthaltserlaubnis, Lebensgemeinschaft, Erfüllung, Familiennachzug

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 C 12.10
VGH 6 A 140/10
Verkündet
am 16. August 2011
Werner
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 16. August 2011
durch die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Richter,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck
sowie den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft
für Recht erkannt:
Die Revision der Beklagten gegen den Beschluss des
Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 23. Juni 2010
wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Die Klägerin, eine 1960 geborene iranische Staatsangehörige, erstrebt die Er-
teilung einer Niederlassungserlaubnis aus familiären Gründen nach § 28 Abs. 2
Satz 1 AufenthG.
Die Klägerin reiste 1996 mit ihrem Sohn nach Deutschland ein, um hier mit ih-
rem damaligen iranischen Ehemann zusammenzuleben. Sie erhielt von August
1996 bis Juli 1999 befristete Aufenthaltserlaubnisse zur Führung der familiären
Lebensgemeinschaft. Im Oktober 1997 wurde ein weiterer Sohn geboren. Mitt-
lerweile sind beide Söhne deutsche Staatsangehörige. Die Klägerin ist geschie-
den.
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Im Juni 1999 zog die Klägerin mit beiden Kindern wegen Misshandlungen durch
ihren damaligen Ehemann aus der Familienwohnung aus. Auf ihren Antrag auf
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis wurde ihr im April 2000 eine eheunab-
hängige Aufenthaltserlaubnis nach § 19 AuslG erteilt und in der Folgezeit je-
weils um zwei bzw. drei Jahre verlängert. Ab Juli 2005 wurden die der Klägerin
weiter erteilten befristeten Aufenthaltserlaubnisse auf § 28 Abs. 1 Nr. 3
AufenthG gestützt.
Im Dezember 2008 beantragte die Klägerin die Erteilung einer Niederlassungs-
erlaubnis nach § 28 Abs. 2 AufenthG. Sie wies darauf hin, dass sie als Küchen-
helferin im Kindergarten erwerbstätig sei und mit diesen Einkünften ihren eige-
nen Lebensunterhalt sichern könne. Zwar beziehe sie ergänzend Arbeitslosen-
geld II, um auch den Lebensunterhalt für ihre beiden Kinder bestreiten zu kön-
nen. Für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2
AufenthG komme es aber nur auf die Sicherung des Lebensunterhalts des
Nachziehenden an, nicht dagegen auch auf die Sicherung des Lebensunter-
halts für Familienangehörige mit deutscher Staatsangehörigkeit. Die Beklagte
lehnte den Antrag mit Bescheid vom 12. Februar 2009 ab und berief sich dar-
auf, dass auch der Unterhalt der Kinder gesichert sein müsse. Ein atypischer
Fall, der ein Absehen von der Sicherung des Lebensunterhalts rechtfertigen
könne, liege nicht vor.
Die hiergegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Der
Verwaltungsgerichtshof hat die Beklagte verpflichtet, der Klägerin die beantrag-
te Niederlassungserlaubnis zu erteilen. Er hat dies im Wesentlichen wie folgt
begründet: Zwar sei das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen,
dass ein Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis gemäß § 28
Abs. 2 Satz 1 AufenthG auch das Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraus-
setzungen des § 5 AufenthG, insbesondere die Sicherung des Lebensunter-
halts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, erfordere. Hierfür reiche aber aus, dass
der die Niederlassungserlaubnis begehrende Ausländer seinen eigenen Le-
bensunterhalt sichern könne. Auf die familiäre Bedarfsgemeinschaft sei nur
dann abzustellen, wenn die begehrte Aufenthaltsverfestigung die fiskalischen
Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtige. Das sei dann der
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Fall, wenn die Aufenthaltsverfestigung des jeweiligen Antragstellers zugleich
aufenthaltsrechtliche Wirkungen für dessen Familienangehörige habe. Demge-
genüber seien die fiskalischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland
dann nicht nachteilig betroffen, wenn der aufenthaltsrechtliche Status der Fami-
lienangehörigen von der Rechtsstellung des Ausländers unabhängig sei, der die
Aufenthaltsverfestigung begehre. Das sei hier der Fall. Die Beteiligten gingen
übereinstimmend davon aus, dass der Verdienst der Klägerin ausreiche, um
ihren eigenen Lebensunterhalt zu sichern. Bei einem Nettoverdienst von
885,95 € verblieben nach Abzug des Freibetrags nach § 11 Abs. 2 Satz 2
SGB II (heute: § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II) in Höhe von 100 € und des auf sie
entfallenden Teils der Kosten für Unterkunft und Heizung von 133,96 € der Klä-
gerin für sich selbst 651,99 € und damit nahezu das Doppelte des Regelsatzes
für Alleinstehende nach § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II.
Gegen diese Entscheidung wendet sich die Beklagte mit ihrer Revision. Sie ist
der Auffassung, dass bei der Sicherung des Lebensunterhalts auf die familiäre
Bedarfsgemeinschaft abzustellen sei. Denn § 28 Abs. 2 AufenthG setze die
Führung einer familiären Lebensgemeinschaft voraus. Art. 6 GG werde durch
die Versagung der Niederlassungserlaubnis nicht verletzt. Die Klägerin könne
die familiäre Lebensgemeinschaft mit ihren Kindern auch ohne einen Titel zum
Daueraufenthalt fortsetzen.
Die Klägerin tritt der Revision entgegen und verteidigt das angegriffene Urteil.
Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat sich
an dem Verfahren beteiligt und sich im Wesentlichen der Auffassung der Be-
klagten angeschlossen.
II
Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat die Be-
klagte im Ergebnis zu Recht verpflichtet, der Klägerin die begehrte Niederlas-
sungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu erteilen. Entgegen der
Auffassung des Berufungsgerichts genügt es für die Sicherung des Lebensun-
terhalts im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG zwar nicht,
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dass die Klägerin mit ihrem Einkommen ihren eigenen Bedarf decken könnte,
für den Lebensunterhalt ihrer Kinder aber auf Leistungen nach dem Zweiten
Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II) angewiesen ist; denn insoweit ist für die
Berechnung auf die Regelungen über die Bedarfsgemeinschaft nach dem
SGB II abzustellen. Die Entscheidung erweist sich jedoch im Ergebnis als rich-
tig (§ 144 Abs. 4 VwGO), weil eine Ausnahme vom Regelfall des § 5 Abs. 1
Nr. 1 AufenthG vorliegt.
Maßgebend für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei Klagen auf
Verpflichtung zur Erteilung eines Aufenthaltstitels grundsätzlich der Zeitpunkt
der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz (hier: 23. Juni
2010). Zugrunde zu legen sind daher die Bestimmungen des Aufenthaltsgeset-
zes in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I
S. 162), die - soweit hier einschlägig - auch derzeit noch unverändert gelten.
1. Das Berufungsgericht ist ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, dass die
besonderen Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis
gemäß § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorliegen. Nach § 28 Abs. 2 Satz 1
AufenthG ist dem ausländischen Familienangehörigen eines Deutschen im Sin-
ne von § 28 Abs. 1 AufenthG in der Regel eine Niederlassungserlaubnis zu er-
teilen, wenn er drei Jahre im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist, die familiäre
Lebensgemeinschaft mit dem Deutschen im Bundesgebiet fortbesteht, kein
Ausweisungsgrund vorliegt und er sich auf einfache Art in deutscher Sprache
verständigen kann.
2. Das Berufungsgericht hat weiterhin zu Recht angenommen, dass ein An-
spruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 Satz 1
AufenthG neben den dort genannten Voraussetzungen auch das Vorliegen der
allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG, insbesondere die
Sicherung des Lebensunterhalts gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, erfordert.
Zwar ergibt sich dies nicht aus dem Wortlaut des § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG.
Dieser greift vielmehr mit dem Tatbestandsmerkmal des Nichtvorliegens eines
Ausweisungsgrundes ausdrücklich nur eine der allgemeinen Erteilungsvoraus-
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setzungen (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) auf, lässt alle anderen hingegen uner-
wähnt. Gesetzessystematik sowie Sinn und Zweck der Norm sprechen jedoch
dafür, dass für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2
Satz 1 AufenthG auch das in § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG geregelte Erfordernis
der Sicherung des Lebensunterhalts erfüllt sein muss.
Der Gesetzgeber hat nach der Konzeption des Aufenthaltsgesetzes die Fälle, in
denen er von der Erfüllung bestimmter allgemeiner Erteilungsvoraussetzungen
abweichen wollte, ausdrücklich im Wortlaut der jeweiligen Vorschrift kenntlich
gemacht (beispielsweise in § 29 Abs. 4, § 30 Abs. 3, § 34 Abs. 1 und § 36
Abs. 1 AufenthG). Eine entsprechende Regelung hat er auch in § 28 Abs. 1
AufenthG für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Ehegatten eines
Deutschen, das minderjährige ledige Kind eines Deutschen bzw. den Elternteil
eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge ge-
troffen. Im Gegensatz dazu fehlt in § 28 Abs. 2 AufenthG für den Anspruch auf
Erteilung einer Niederlassungserlaubnis eine entsprechende Formulierung.
Daraus folgt, dass neben den in § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG genannten Tatbe-
standsmerkmalen die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5
AufenthG - insbesondere die Regelerteilungsvoraussetzung der Sicherung des
Lebensunterhalts gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG - erfüllt sein müssen (so
auch OVG Münster, Beschluss vom 6. Juli 2006 - 18 E 1500/05 - InfAuslR
2006, 407; OVG Bremen, Beschluss vom 13. August 2009 - 1 S 223.09 -
InfAuslR 2010, 25; OVG Bautzen, Beschluss vom 3. Februar 2010 - 3 D 70.09 -
juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22. Februar 2011 - 12 B 20.08 - juris;
Hailbronner, Ausländerrecht Kommentar, Stand: Februar 2008, § 28 AufenthG
Rn. 27; Marx, in: GK-AufenthG, Stand: Mai 2008, § 28 Rn. 245; Huber, Aufent-
haltsgesetz, § 28 Rn. 10 f.; Dienelt, in: Renner, Ausländerrecht Kommentar,
9. Aufl. § 28 AufenthG Rn. 20). Dem steht nicht entgegen, dass § 28 Abs. 2
Satz 1 AufenthG ausdrücklich das Fehlen eines Ausweisungsgrundes als Ertei-
lungsvoraussetzung erwähnt, die anderen Voraussetzungen des § 5 Abs. 1
Nr. 1 AufenthG jedoch unerwähnt lässt. Vielmehr wird durch diese Formulierung
die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG verschärft,
weil von einem Ausweisungsgrund auch bei einer atypischen Fallgestaltung
nicht mehr abgesehen werden kann. Daraus kann nicht auf eine Absicht des
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Gesetzgebers geschlossen werden, er habe durch die Verschärfung einer Re-
gelerteilungsvoraussetzung auf die Erfüllung der übrigen Regelerteilungsvor-
aussetzungen verzichten wollen. Für das Erfordernis der Sicherung des Le-
bensunterhalts als Voraussetzung für die Erteilung einer Niederlassungserlaub-
nis nach § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG spricht auch die Bedeutung, die der Ge-
setzgeber der Unterhaltssicherung generell beimisst. Er sieht hierin eine Ertei-
lungsvoraussetzung von grundlegendem staatlichen Interesse und zugleich die
wichtigste Voraussetzung, um die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel zu ver-
hindern (vgl. Urteil vom 30. April 2009 - BVerwG 1 C 3.08 - Buchholz 402.242
§ 5 AufenthG Nr. 5 Rn. 11). Angesichts dieser gesetzgeberischen Wertung
kann nicht angenommen werden, dass von der Unterhaltssicherung bei Ertei-
lung einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt nach § 28 Abs. 2 AufenthG abgese-
hen werden sollte. Der Gesetzgeber hat allerdings die Niederlassungserlaubnis
bei familiärer Lebensgemeinschaft mit Deutschen insofern gegenüber einer sol-
chen mit Ausländern privilegiert, als für die Unterhaltssicherung § 5 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG und nicht § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG maßgeblich ist. Das hat
zur Folge, dass für die Familienangehörigen Deutscher die Sicherung des Le-
bensunterhalts nur eine Regelerteilungsvoraussetzung darstellt und nicht wie
für die Familienangehörigen von Ausländern eine zwingende Voraussetzung.
3. Allerdings verletzt die Entscheidung des Berufungsgerichts Bundesrecht, in-
dem sie für die Sicherung des Lebensunterhalts im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG nur auf den eigenen Bedarf der Klägerin abstellt, nicht aber auf den
Gesamtbedarf der aus der Klägerin und ihren beiden Kindern bestehenden Be-
darfsgemeinschaft. Nach der Rechtsprechung des Senats ist der Lebensunter-
halt eines Ausländers im Sinne von § 2 Abs. 3 AufenthG nämlich nicht schon
dann gesichert ist, wenn der Ausländer mit seinem Erwerbseinkommen seinen
eigenen Bedarf decken könnte, er für seinen Ehepartner und seine Kinder aber
auf Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II) ange-
wiesen ist (vgl. Urteil vom 16. November 2010 - BVerwG 1 C 21.09 - InfAuslR
2011, 182 Rn. 14 ff. - zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung
BVerwGE vorgesehen). Vielmehr sind für die Berechnung, ob ein Anspruch auf
öffentliche Leistungen besteht, grundsätzlich die sozialrechtlichen Regelungen
über die Bedarfsgemeinschaft nach § 9 Abs. 2 SGB II maßgeblich.
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In dem vom Senat entschiedenen Fall ging es zwar um eine Niederlassungser-
laubnis aus humanitären Gründen nach § 26 Abs. 4 AufenthG und nicht - wie
hier - um eine solche aus familiären Gründen. In dem Urteil wird jedoch aus-
drücklich hervorgehoben, dass sich aus der Verweisung des § 2 Abs. 3 Satz 1
AufenthG auf das Sozialrecht allgemein - und nicht nur für besondere Fall-
konstellationen wie den Familiennachzug - ergibt, dass die Sicherung des Le-
bensunterhalts bei einem erwerbsfähigen Ausländer auch den Lebensunterhalt
des mit ihm in familiärer Gemeinschaft lebenden Ehepartners und der unverhei-
rateten Kinder bis zum 25. Lebensjahr umfasst (Urteil vom 16. November 2010
a.a.O. Rn. 16). Zur Begründung hat der Senat maßgeblich auf Sinn und Zweck
der Regelung abgestellt, die dazu dient, (neue) Belastungen für die öffentlichen
Haushalte zu vermeiden. Und er hat darauf hingewiesen, dass eine Niederlas-
sungserlaubnis die Berechtigung zum Daueraufenthalt begründet und daher
vom Gesetzgeber in § 26 Abs. 4 AufenthG und § 9 Abs. 2 AufenthG von erhöh-
ten Integrationsvoraussetzungen abhängig gemacht wurde, die über die allge-
meinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG hinausge-
hen (Urteil vom 16. November a.a.O. Rn. 17).
Für Aufenthaltstitel zum Zweck des Familiennachzugs hat der Senat in seinem
Urteil vom gleichen Tag in der Sache BVerwG 1 C 20.09 (zur Aufnahme in die
Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen, Rn. 22 f.) ausgeführt, dass
sich auch aus der in § 2 Abs. 3 Satz 4 AufenthG getroffenen Regelung ergibt,
dass bei der Sicherung des Lebensunterhalts auf den Gesamtbedarf der Kern-
familie des Ausländers abzustellen ist. Nach dieser Vorschrift werden bei der
Erteilung und Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug
„Beiträge der Familienangehörigen zum Haushaltseinkommen berücksichtigt“.
Die Verwendung des Begriffs „Haushaltseinkommen“ macht deutlich, dass der
Gesetzgeber insoweit von einer einheitlichen Betrachtung der häuslichen Fami-
liengemeinschaft ausgeht. Ferner hat der Senat ausgeführt, dass nur das Ab-
stellen auf die familiäre Bedarfsgemeinschaft der Lebenswirklichkeit gerecht
wird. Es wäre lebensfremd, wenn man annähme, ein Ausländer, der Alleinver-
diener ist, würde von seinem Einkommen zunächst seinen eigenen Bedarf de-
cken und seiner Familie lediglich die verbleibenden Mittel zukommen lassen.
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Als wirklichkeitsfremd hat er daher die fiktive Berechnung angesehen, ob der
einzelne Ausländer - für sich gesehen - seinen Lebensunterhalt ohne Inan-
spruchnahme von Sozialleistungen bestreiten könnte (Urteil vom 16. November
2010 a.a.O. Rn. 19).
An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Soweit im Einzelfall oder in einer
typisierten Gruppe von Einzelfällen eine Ausnahme vom Abstellen auf die fami-
liäre Bedarfsgemeinschaft zu machen ist, kann dem durch Annahme einer Ab-
weichung vom Regelfall Rechnung getragen werden.
4. Der angegriffene Beschluss des Berufungsgerichts erweist sich jedoch im
Ergebnis als richtig, weil eine Ausnahme vom Regelfall des § 5 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG vorliegt. Von einer solchen Ausnahme ist bei besonderen, atypischen
Umständen auszugehen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst aus-
schlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen (vgl. Urteil vom
26. August 2008 - BVerwG 1 C 32.07 - BVerwGE 131, 370 Rn. 27). Ob ein
Ausnahmefall vorliegt, ist gerichtlich voll überprüfbar (vgl. Urteil vom 30. April
2009 a.a.O. Rn. 15). Besondere Umstände, die eine Ausnahme vom Regelfall
begründen, liegen hier in der Tatsache, dass das Einkommen der Klägerin nach
den Feststellungen des Berufungsgerichts ausreicht, ihren eigenen Lebensun-
terhalt zu sichern, und die Bedarfslücke nur durch den Unterhaltsbedarf ihrer
beiden deutschen Kinder entsteht. Für die Kinder bedeutet die Erteilung einer
Niederlassungserlaubnis an ihre Mutter aber keine Verfestigung des Aufent-
halts, da sie als Deutsche ohnehin Anspruch auf dauerhaften Verbleib in der
Bundesrepublik haben.
Der Senat hat als einen Grund für das Abstellen auf die Bedarfsgemeinschaft
- wie bereits dargelegt - die Vermeidung zusätzlicher Belastungen der öffentli-
chen Haushalte angeführt, die auch durch eine Verfestigung des Aufenthalts
hilfebedürftiger ausländischer Familienangehöriger eintritt (Urteil vom 16. No-
vember 2010 a.a.O. Rn. 18). Dieser Grund für das Abstellen auf die familiäre
Bedarfsgemeinschaft liegt bei deutschen Familienangehörigen nicht vor. Das
Aufenthaltsrecht eines Deutschen im Land seiner Staatsangehörigkeit kann
nicht weiter verfestigt werden. Deutsche sind auch dann nicht zur Ausreise ver-
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pflichtet, wenn sie Sozialleistungen beziehen. Daher führt die mit einer Nieder-
lassungserlaubnis verbundene Verfestigung des Aufenthalts der Klägerin nicht
zu einer Verstetigung der Belastung öffentlicher Haushalte durch die Verpflich-
tung zur Gewährung von Sozialleistungen. In der aus der Klägerin und ihren
Kindern bestehenden Bedarfsgemeinschaft ist sie die einzige Ausländerin. Sie
erzielt aber ein ihren Bedarf deckendes Einkommen. In diesem Fall greift die
allgemeine Regel nicht, dass die Verfestigung des Aufenthalts eines Mitglieds
der auf Sozialleistungen angewiesenen Bedarfsgemeinschaft zu einer zusätzli-
chen Belastung der öffentlichen Haushalte führt und daher der Erteilung einer
Niederlassungserlaubnis entgegensteht. Der gleiche Gedanke lag auch der
Rechtsprechung des Senats zur einschränkenden Auslegung des Versagungs-
und Ausweisungsgrundes nach § 46 Nr. 6 AuslG 1990 (jetzt: § 55 Abs. 2 Nr. 6
AufenthG) wegen Sozialhilfebezugs unterhaltsberechtigter Familienangehöriger
zugrunde. In seinem Urteil vom 28. September 2004 (BVerwG 1 C 10.03 -
BVerwGE 122, 94 <101>) hat der Senat ausgeführt, dass die Erteilung einer
unbefristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 1 AuslG die durch diesen
Ausweisungstatbestand geschützten fiskalischen Interessen dann nicht beein-
trächtigt, wenn ein deutscher Familienangehöriger des Ausländers Sozialhilfe
bezieht. Der Verweis auf § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG verliert durch die vorste-
hend näher beschriebene Ausnahme im Fall einer durch deutsche Familienan-
gehörige entstehenden Bedarfslücke nicht seine Bedeutung, da weiterhin der
Lebensunterhalt des die Niederlassungserlaubnis begehrenden Ausländers
selbst - sowie gegebenenfalls weiterer in die Bedarfsgemeinschaft einbezoge-
ner ausländischer Familienangehöriger - gesichert sein muss.
Da eine Ausnahme vom Regelfall des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG schon aus den
vorstehend dargelegten Gründen zu machen ist, kam es für die Entscheidung
des Senats nicht mehr auf die von der Revision aufgeworfene Frage an, ob eine
Ausnahme auch dann vorläge, wenn der Lebensunterhalt der familiären Be-
darfsgemeinschaft nur deshalb nicht gedeckt wäre, weil der geschiedene Ehe-
mann der Klägerin - was bisher nicht festgestellt ist - seinen Unterhaltspflichten
gegenüber den gemeinsamen Kindern nicht nachkommt.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Eckertz-Höfer
Prof. Dr. Dörig
Richter
Beck
Prof. Dr. Kraft
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstands wird für das Revisionsverfahren auf 5 000 €
festgesetzt (§ 47 Abs. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG).
Eckertz-Höfer
Prof. Dr. Dörig
Beck
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Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Ausländerrecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquellen:
AufenthG
§ 2 Abs. 3; § 5 Abs. 1 Nr. 1; § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2;
§ 28 Abs. 1 und 2; § 55 Abs. 2 Nr. 6
AuslG 1990 § 35 Abs. 1; § 46 Nr. 6
SGB II
§ 9 Abs. 2
Stichworte:
Niederlassungserlaubnis; Sicherung des Lebensunterhalts; Erteilungsvoraus-
setzung; Ausnahme vom Regelfall; Einkommensberechnung; Hilfebedürftigkeit;
Unterhaltsbedarf; Bedarfsgemeinschaft; familiäre Lebensgemeinschaft; deut-
sche Familienangehörige; öffentliche Mittel; Sozialhilfebezug.
Leitsätze:
1. Für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 Satz 1
AufenthG ist neben der Erfüllung der dort genannten speziellen Voraussetzun-
gen auch erforderlich, dass die allgemeine Erteilungsvoraussetzung der Siche-
rung des Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erfüllt ist.
2. Ist der Ausländer nur deshalb auf Leistungen nach dem Zweiten Buch des
Sozialgesetzbuchs (SGB II) angewiesen, weil er mit seinen deutschen Famili-
enangehörigen in einer Bedarfsgemeinschaft lebt, könnte er aber mit seinem
Erwerbseinkommen seinen eigenen Bedarf decken, so ist bei Erteilung einer
Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG eine Ausnahme
von der Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zu ma-
chen.
Urteil des 1. Senats vom 16. August 2011 - BVerwG 1 C 12.10
I. VG Frankfurt vom 24.09.2009 - Az.: VG 11 K 555/09.F -
II. VGH Kassel vom 23.06.2010 - Az.: VGH 6 A 140/10 -