Urteil des BVerwG vom 17.01.2012

Ausreise, Unwiderlegbare Vermutung, Begriff, Auslieferung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 C 1.11
VGH 11 S 1089/10
Verkündet
am 17. Januar 2012
Werner
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 17. Januar 2012
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Richter,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
für Recht erkannt:
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Verwal-
tungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 29. November
2010 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Der Kläger erstrebt die Feststellung, dass seine Niederlassungserlaubnis nicht
erloschen ist.
Der 1967 geborene Kläger, ein kosovarischer Staatsangehöriger, kam 1992
nach Deutschland. 1996 heiratete er eine deutsche Staatsangehörige, mit der
er drei Kinder hat. 2002 wurde ihm eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt,
die ab Januar 2005 als Niederlassungserlaubnis fortgalt. Im November 2005
wurde er aufgrund eines Europäischen Haftbefehls wegen Mordverdachts an
die Niederlande ausgeliefert und dort in Untersuchungshaft genommen. Nach-
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dem er im Oktober 2008 in den Niederlanden freigesprochen und aus der Haft
entlassen worden war, teilte die beklagte Ausländerbehörde dem inzwischen
geschiedenen Kläger mit, dass seine Niederlassungserlaubnis erloschen sei.
Daraufhin kehrte er in den Kosovo zurück, wo er sich seither aufhält.
2009 erhob er Klage auf Feststellung, dass seine Niederlassungserlaubnis nicht
erloschen sei. Sowohl das Verwaltungsgericht als auch der Verwaltungsge-
richtshof haben der Klage stattgegeben. Der Verwaltungsgerichtshof hat dies im
Wesentlichen wie folgt begründet: Die Erlöschensvorschrift des § 51 Abs. 1
Nr. 6 AufenthG sei schon deshalb nicht anwendbar, weil der Kläger das Bun-
desgebiet zur Durchführung eines Strafverfahrens und damit aus einem seiner
Natur nach grundsätzlich nur vorübergehenden Grund verlassen musste.
Außerdem setzten die Erlöschenstatbestände des § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7
AufenthG eine freiwillige Ausreise voraus. Daran fehle es, weil der Kläger aus-
geliefert worden sei.
Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision beanstandet die Beklag-
te vor allem, das Berufungsgericht habe verkannt, dass das Aufenthaltsgesetz
von einem einheitlichen, weiten Ausreisebegriff ausgehe, der auch die zwangs-
weise Ausreise einschließe.
II
Die Revision der Beklagten ist unbegründet.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist allein das Feststellungsbegehren des
Klägers, dass seine Niederlassungserlaubnis nicht erloschen ist. Soweit der
Kläger im Berufungsverfahren zusätzlich begehrt hat, dass ihm die Beklagte
eine Bescheinigung über den Fortbestand seiner Niederlassungserlaubnis aus-
stellt, hat das Berufungsgericht hierüber rechtskräftig zu Lasten des Klägers
entschieden. Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, dass die Nie-
derlassungserlaubnis des Klägers nicht erloschen ist. Zwar ist die hierfür ange-
führte Begründung, dass die einschlägigen Erlöschenstatbestände des § 51
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Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG nur freiwillige Ausreisen erfassen, nicht in vollem
Umfang mit Bundesrecht vereinbar. Denn diese Vorschriften erfassen alle Aus-
reisen bis auf die staatlich veranlassten oder erzwungenen Ausreisen. Da es
sich bei der Auslieferung des Klägers um eine solche staatlich erzwungene
Ausreise handelt, ist die weitergehende - fehlerhafte - Rechtsauffassung des
Berufungsgerichts aber nicht entscheidungstragend. Das Urteil beruht daher
nicht auf einer Verletzung von Bundesrecht.
Nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG erlischt der Aufenthaltstitel, wenn der Auslän-
der aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund ausreist. Au-
ßerdem erlischt der Aufenthaltstitel nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG, wenn der
Ausländer ausgereist und nicht innerhalb von sechs Monaten oder einer von
der Ausländerbehörde bestimmten längeren Frist wieder eingereist ist. Der in
beiden Regelungen enthaltene Begriff der Ausreise kann nicht unterschiedlich,
sondern nur einheitlich ausgelegt werden. Beide Regelungen hängen eng mit-
einander zusammen. Die Nummer 6 bezieht sich auf Ausreisen, bei denen der
Zweck, sich im Ausland aufzuhalten, seiner Natur nach nicht nur vorüberge-
hend ist. Die Nummer 7 ergänzt diese Regelung und erfasst grundsätzlich alle
Ausreisen unabhängig vom Ausreisegrund.
Entgegen der Auffassung der Beklagten liegt dem Aufenthaltsrecht kein einheit-
licher, weiter Ausreisebegriff zugrunde. Es trifft zwar zu, dass das Gesetz an
anderer Stelle durchaus einen weiten Begriff verwendet, der sowohl die freiwilli-
ge als auch die zwangsweise Ausreise umfasst (vgl. etwa § 11 Abs. 1 Satz 1
und 4, § 25 Abs. 3 und 5 sowie § 58 Abs. 3 AufenthG). Andererseits setzt aber
beispielsweise das Wiederkehrrecht gemäß § 37 AufenthG voraus, dass die
Ausreise freiwillig erfolgt ist (vgl. dazu Urteil des Senats vom 6. März 2008
- BVerwG 1 C 16.06 - BVerwGE 130, 284 = Buchholz 402.242 § 37 AufenthG
Nr. 1, jeweils Rn. 15). Insofern ist der Begriff der Ausreise aus dem jeweiligen
Regelungszusammenhang der einschlägigen Vorschrift heraus auszulegen.
Dies bedeutet für die Auslegung von § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG, dass
der dort jeweils verwendete Begriff der Ausreise grundsätzlich alle Ausreisen
mit Ausnahme der staatlich veranlassten erfasst.
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Sinn und Zweck der Erlöschensregelungen in § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG
ist es, Rechtsklarheit zu schaffen, ob ein Ausländer, der für längere Zeit aus-
reist, seinen Aufenthaltstitel weiter besitzt oder nicht (vgl. die Begründung zu
dem gleichlautenden § 44 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AuslG 1990 in BTDrucks 11/6321
S. 71). Im Interesse einer effektiven Steuerung der Migration (§ 1 Abs. 1 Satz 1
AufenthG) soll einer zeitlich unbegrenzten Möglichkeit der Abwesenheit und
Wiedereinreise entgegengewirkt werden. Steht von vornherein fest, dass der
Ausländer das Bundesgebiet aus einem seiner Natur nach nicht nur vorüberge-
henden Grund verlässt, erlischt der Aufenthaltstitel mit der Ausreise (Nr. 6). Hält
sich der Ausländer länger als sechs Monate außerhalb des Bundesgebietes
auf, wird - von den Fällen der Fristverlängerung abgesehen - unwiderleglich
angenommen, dass er aus einem seiner Natur nach nicht nur vorübergehenden
Grund ausgereist und sein Aufenthaltstitel damit ebenfalls erloschen ist (Nr. 7).
Der Regelungszweck der beiden Erlöschenstatbestände ist es daher, die Auf-
enthaltstitel in den Fällen zum Erlöschen zu bringen, in denen das Verhalten
des Ausländers typischerweise den Schluss rechtfertigt, dass er von seinem
Aufenthaltsrecht keinen Gebrauch mehr machen will.
Verlässt der Ausländer das Bundesgebiet aufgrund staatlicher Zwangsmaß-
nahmen - wie hier der Auslieferung in die Niederlande -, ist die im Gesetz ange-
legte unwiderlegbare Vermutung eines Wegfalls des Interesses am Fortbestand
des Aufenthaltstitels nicht gerechtfertigt. Es bedarf auch nicht im Interesse einer
effektiven Steuerung der Migration eines gesetzlichen Erlöschenstatbestandes.
In einem derartigen Fall hat es der Staat selbst veranlasst, dass der Ausländer
das Bundesgebiet verlassen musste. In diesem Fall erlischt der Aufenthaltstitel
nicht, weil es - bezogen auf den gesetzlichen Regelungszweck - an einer Aus-
reise im Sinne der beiden Erlöschenstatbestände fehlt (a.A. VGH München,
Urteil vom 10. Januar 2007 - 24 BV 03.722 - juris; Hailbronner, AuslR, Stand
September 2011, § 51 AufenthG Rn. 20; Schäfer, in: GK-AufenthG, Stand Ja-
nuar 2012, § 51 Rn. 62).
Sollten bei einer staatlich veranlassten Ausreise Gründe bestehen oder sich
später ergeben, das Aufenthaltsrecht des Ausländers zu beenden, ist es der
Ausländerbehörde unbenommen, auf andere Weise vorzugehen. Hierzu kann
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sie alle aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen treffen, die sie auch bei einem Aus-
länder, der nicht ausgereist ist, ergreifen kann. Insofern bleibt das staatliche
Interesse, den Aufenthalt eines Ausländers unter den gesetzlich vorgesehenen
Voraussetzungen beenden zu können, durch die einschränkende Auslegung
des Ausreisebegriffs in § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG unberührt. So wäre es
der Beklagten hier unbenommen gewesen, eine Ausweisung des Klägers zu
betreiben, wenn es in den Niederlanden zu einer Verurteilung wegen Mordes
gekommen wäre.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts sind dagegen privat erzwun-
gene Ausreisen (etwa durch Entführung oder Nötigung) nicht von vornherein
vom Anwendungsbereich des § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG ausgenommen.
Es scheint auf den ersten Blick zwar nahezuliegen, privat erzwungene Ausrei-
sen rechtlich nicht anders zu behandeln als staatlich erzwungene Ausreisen. Im
Hinblick auf den Regelungszweck der beiden Erlöschensvorschriften, Rechts-
klarheit darüber zu schaffen, ob ein Aufenthaltstitel fortbesteht oder nicht, ergibt
sich aber doch ein erheblicher Unterschied zwischen beiden Fallkonstellatio-
nen. Denn bei einer privat erzwungenen Ausreise fehlt es an einer Mitwirkung
des Staates. Der Staat hat regelmäßig noch nicht einmal Kenntnis von den Um-
ständen, auf denen die Ausreise und der Auslandsaufenthalt des Ausländers
beruhen. Eine privat erzwungene Ausreise stellt daher - anders als eine staat-
lich erzwungene Ausreise - eine Ausreise im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7
AufenthG dar und führt demnach unter den in den Vorschriften geregelten Vor-
aussetzungen zu einem Erlöschen des Aufenthaltstitels. In derartigen Fällen
kommen allerdings - sei es über eine erweiternde Auslegung der Verlänge-
rungsmöglichkeit nach § 51 Abs. 4 AufenthG, sei es über eine Rückkehrmög-
lichkeit nach § 7 Abs. 1 Satz 3 oder § 37 AufenthG - andere Lösungen in Be-
tracht, um dem Ausländer eine legale Wiedereinreise zu ermöglichen. Dies be-
darf hier keiner Vertiefung.
Auf den Privilegierungstatbestand des § 51 Abs. 2 Satz 2 AufenthG und dessen
Voraussetzungen kommt es bei dieser Sachlage nicht an.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Prof. Dr. Dörig
Richter
Beck
Prof. Dr. Kraft
Fricke
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 5 000 €
festgesetzt (§ 47 Abs. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG).
Prof. Dr. Dörig
Richter
Fricke
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Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
Ausländerrecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquellen:
AufenthG
§ 7 Abs. 1 Satz 3, § 11 Abs. 1, § 25 Abs. 3 und 5,
§§ 37, 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7, Abs. 2 und 4,
§ 58 Abs. 3
AuslG 1990
§ 44 Abs. 1
Stichworte:
Niederlassungserlaubnis; Aufenthaltstitel; Ausreise; freiwillige Ausreise; er-
zwungene Ausreise; staatlich erzwungene Ausreise; privat erzwungene Ausrei-
se; Auslieferung; Erlöschen; vorübergehender Grund; längerer Auslandsaufent-
halt; Strafverfahren im Ausland; Fortbestand des Aufenthaltstitels; effektive
Steuerung der Migration; Wiedereinreise.
Leitsatz:
Der Begriff der Ausreise in § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG erfasst nicht staat-
lich erzwungene bzw. veranlasste Ausreisen (hier durch Auslieferung).
Urteil des 1. Senats vom 17. Januar 2012 - BVerwG 1 C 1.11
I. VG Karlsruhe vom 10.02.2010 - Az.: VG 1 K 676/09 -
II. VGH Mannheim vom 29.11.2010 - Az.: VGH 11 S 1089/10 -