Urteil des BVerwG vom 11.01.2011

Achtung des Familienlebens, Wohl des Kindes, Visum, Schengen

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 C 1.10
OVG 3 B 6.09
Verkündet
am 11. Januar 2011
Wahl
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 11. Januar 2011
durch die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Richter sowie
die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Beck und Fricke
für Recht erkannt:
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Oberver-
waltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 18. Dezember
2009 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Die Klägerin, eine marokkanische Staatsangehörige, begehrt die Erteilung ei-
nes Schengen-Visums zum Besuch ihrer beiden im Bundesgebiet beim Vater
lebenden minderjährigen Kinder.
Die Klägerin war bis Juni 2002 mit einem marokkanischen Staatsangehörigen
verheiratet. Bei der Scheidung erhielt sie das Sorgerecht für die beiden - 1998
und 2001 geborenen - gemeinsamen Kinder. Der geschiedene Ehemann der
Klägerin lebt seit Juli 2002 in Deutschland. Mit notarieller, richterlich beglaubig-
ter Urkunde bewilligte die Klägerin im Dezember 2004 die Einreise ihrer beiden
Kinder zum Vater nach Deutschland, wo dieser für sie sorgen sollte. Seit Ju-
ni 2005 leben die Kinder beim Vater und besitzen eine Aufenthaltserlaubnis.
Im Dezember 2007 beantragte die Klägerin bei der Deutschen Botschaft in Ra-
bat die Erteilung eines Schengen-Visums für einen Aufenthalt aus „touristi-
schen Gründen“ in Deutschland ab dem 25. Januar 2008. Diesen Antrag lehnte
die Botschaft wegen Zweifeln am angegebenen Reisezweck ab. Hiergegen re-
monstrierte die Klägerin und machte geltend, sie wolle ihre beiden Kinder be-
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suchen. Mit Bescheid vom 15. Februar 2008 lehnte die Botschaft den Antrag
erneut ab. Die Klägerin habe keine konkrete und glaubwürdige Rückkehrper-
spektive dargelegt. Damit lägen die Erteilungsvoraussetzungen des Art. 5
Abs. 1 Buchst. e Schengener Grenzkodex - SGK - und des § 6 Abs. 1
AufenthG nicht vor. Außerdem rechtfertigten die Gesamtumstände eine negati-
ve Ermessensausübung. Die Klägerin könne den Kontakt mit ihren Kindern
durch Schriftwechsel, Telefonverkehr oder Besuche der Kinder in Marokko auf-
rechterhalten.
Im Klageverfahren hat das Verwaltungsgericht die Beklagte zur Erteilung eines
Besuchsvisums verpflichtet. Das Begehren habe sich nicht erledigt, da es sich
nicht auf einen bestimmten, bereits abgelaufenen Besuchszeitraum oder einen
bestimmten Anlass beziehe. Die Erteilungsvoraussetzungen lägen vor. Die von
der Beklagten aufgezeigten Zweifel an der Rückkehrbereitschaft seien nicht
von solchem Gewicht, dass ein dauerhafter Verbleib im Bundesgebiet wesent-
lich wahrscheinlicher sei als eine Rückkehr. Das in § 6 Abs. 1 AufenthG eröff-
nete Ermessen sei insbesondere mit Blick auf das durch Art. 6 GG geschützte
Umgangsrecht auf Null reduziert.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-
Brandenburg mit Urteil vom 18. Dezember 2009 die Klage - sowohl hinsichtlich
der begehrten Verpflichtung als auch hinsichtlich der im Berufungsverfahren
hilfsweise für den Fall der Erledigung beantragten Feststellung der Rechtswid-
rigkeit der Antragsablehnung - abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt, das
auf Erteilung eines Besuchsvisums gerichtete Begehren habe sich durch Zeit-
ablauf erledigt. Der Visumantrag betreffe den Zeitraum vom 25. Januar 2008
bis zum 24. April 2008. Ein auf einen kalendarisch bestimmten oder bestimm-
baren Zeitraum bezogenes Visumbegehren erledige sich nicht nur, wenn der
Besuch zu einem zeitlich gebundenen oder seiner Natur nach nicht wiederkeh-
renden Ereignis stattfinden solle. Auch wenn der Ausländer prinzipiell an sei-
nem Besuchswunsch festhalte, fehle es am erforderlichen Antrag.
Die Klage habe auch mit dem Hilfsantrag keinen Erfolg. Die Ablehnung des
Visumantrags sei nicht rechtswidrig gewesen. Eine Gefahr für die öffentliche
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Ordnung im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG i.V.m. Art. 5 Abs. 1
Buchst. e SKG sei anzunehmen, wenn die Rückkehrbereitschaft fehle und be-
absichtigt sei, das Visum zu einem anderen als dem angegebenen Aufenthalts-
zweck zu nutzen. Die Rückkehrprognose sei negativ, wenn die Wahrscheinlich-
keit eines dauerhaften Aufenthalts wesentlich höher einzuschätzen sei als die
Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr. Unterhalb dieser Schwelle verbleibende
Zweifel seien im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigen. Bei der Klägerin
könne die Rückkehrprognose nur zu ihren Ungunsten ausfallen. Auch bei Be-
rücksichtigung des Gewichts, das Art. 6 Abs. 1 GG ihrem Besuchswunsch ver-
leihe, sei bei der gebotenen Gesamtschau mit hoher Wahrscheinlichkeit davon
auszugehen, dass sie das Visum dazu nutzen würde, einen ihr sonst verwehr-
ten Daueraufenthalt im Bundesgebiet zu begründen. Selbst bei Vorliegen der
Tatbestandsvoraussetzungen des Schengener Grenzkodexes wäre die Ableh-
nung nicht rechtswidrig, da jedenfalls die von der Botschaft hilfsweise getroffe-
ne Ermessensentscheidung nicht fehlerhaft sei. Dem Einreisewunsch der Klä-
gerin sei mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG hohes Gewicht beigemessen worden.
Dass die Botschaft bei ihrer Interessenabwägung zu dem Ergebnis gelangt sei,
die Klägerin könne den Kontakt mit ihren Kindern auf andere Weise aufrechter-
halten, sei nicht zu beanstanden, zumal sie nach eigenen Angaben über ein für
marokkanische Verhältnisse mehr als ausreichendes Einkommen und Erspar-
nisse für Besuchsreisen der Kinder verfüge.
Mit der Revision verfolgt die Klägerin weiterhin ihr Verpflichtungsbegehren. Die-
ses habe sich nicht durch Zeitablauf erledigt. Sie habe auch einen Anspruch
auf Erteilung eines Besuchsvisums, da eine Gesamtschau aller Umstände eine
deutliche Rückkehrbereitschaft erkennen lasse.
Die Beklagte verteidigt das angegriffene Urteil.
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II
Die Revision der Klägerin hat keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat die Kla-
ge im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Die von der Klägerin erhobene Verpflich-
tungsklage ist zulässig, insbesondere fehlt es nicht am erforderlichen Rechts-
schutzbedürfnis. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts hat sich das
Begehren der Klägerin nicht durch Zeitablauf erledigt. Die Klage ist aber unbe-
gründet, da die Klägerin keinen Anspruch auf Erteilung eines Schengen-Visums
zum Besuch ihrer im Bundesgebiet lebenden Kinder hat und die Ablehnung der
Beklagten nicht rechtswidrig ist (§ 113 Abs. 5 VwGO). Damit stellt sich die Ent-
scheidung des Berufungsgerichts jedenfalls aus einem anderen Grund als rich-
tig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO).
1. Maßgebend für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei Klagen auf
Verpflichtung zur Erteilung eines Aufenthaltstitels grundsätzlich der Zeitpunkt
der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz (hier: 18. Dezem-
ber 2009). Rechtsänderungen während des Revisionsverfahrens sind nach der
Rechtsprechung des Senats allerdings zu beachten, wenn das Berufungsge-
richt - entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - sie zu berück-
sichtigen hätte (stRspr, vgl. Urteil vom 1. November 2005 - BVerwG 1 C 21.04 -
BVerwGE 124, 276 <279 f.>).
Maßgebliche Rechtsgrundlage für die Erteilung des streitgegenständlichen
Visums ist daher nunmehr die Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäi-
schen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der
Gemeinschaft (ABl EU vom 15. September 2009 Nr. L 243 S. 1) - Visakodex
(VK). Diese Verordnung regelt seit dem 5. April 2010 (Art. 58 Abs. 2 VK) u.a.
das Verfahren und die Voraussetzungen für die Erteilung von Visa für geplante
Aufenthalte im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten von höchstens drei Monaten
je Sechsmonatszeitraum (Art. 1 Abs. 1 VK). Sie ist in allen ihren Teilen verbind-
lich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat (vgl. den entsprechenden Hin-
weis am Ende der Verordnung). Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Uni-
onsrechts verdrängt sie die bisherige nationale Regelung in § 6 Abs. 1 bis 3
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AufenthG (so auch OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24. Juni 2010 - 2 B
16.09 - juris Rn. 22).
Diese während des Revisionsverfahrens eingetretene Rechtsänderung ist vor-
liegend beachtlich, weil das Berufungsgericht - entschiede es heute anstelle
des Bundesverwaltungsgerichts - den Visakodex berücksichtigen müsste. Dem
steht nicht entgegen, dass die Ablehnung des Visumantrags und die Klageer-
hebung vor dem 5. April 2010 erfolgten. Der Visakodex enthält für diesen Fall
keine ausdrückliche Übergangsregelung. Nach der Rechtsprechung des Ge-
richtshofs der Europäischen Union (EuGH) ist die zeitliche Geltung einer
Rechtsvorschrift der Union nach allgemein anerkannten Auslegungsgrundsät-
zen zu ermitteln (EuGH, Urteil vom 12. November 1981 - Rs. 212 - 217/80,
Salumi - Slg. 1981, 2735 Rn. 8). Dabei differenziert der Gerichtshof zwischen
Verfahrensvorschriften und materiell-rechtlichen Vorschriften. Während bei Ver-
fahrensvorschriften im Allgemeinen davon auszugehen ist, dass sie auf alle
zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens anhängigen Rechtsstreitigkeiten anwendbar
sind, sind materiell-rechtliche Vorschriften im Allgemeinen dahin auszulegen,
dass sie für vor ihrem Inkrafttreten entstandene Sachverhalte nur gelten, wenn
aus ihrem Wortlaut, ihrer Zielsetzung oder ihrem Aufbau eindeutig hervorgeht,
dass ihnen eine solche Wirkung beizumessen ist. Diese Auslegung gewährleis-
tet die Beachtung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauens-
schutzes. Danach muss die Gesetzgebung klar und für die Betroffenen vorher-
sehbar sein. Der Grundsatz der Rechtssicherheit verbietet es im Allgemeinen,
den Beginn der Geltungsdauer eines Rechtsakts auf einen Zeitpunkt vor des-
sen Veröffentlichung zu verlegen; dies kann ausnahmsweise nur dann anders
sein, wenn das angestrebte Ziel es verlangt und das berechtigte Vertrauen der
Betroffenen gebührend beachtet ist (EuGH, Urteile vom 12. November 1981
a.a.O. Rn. 9 f. m.w.N. und vom 10. Februar 1982 - Rs. 21/81, Bout - Slg. 1982,
381 Rn. 13).
Auch wenn damit bei materiell-rechtlichen Vorschriften vom Grundsatz der
Nicht-Rückwirkung auszugehen ist, finden vorliegend die materiell-rechtlichen
Regelungen des Visakodexes ausnahmsweise Anwendung. Bei der Erteilung
eines Visums geht es nicht um einen Eingriff in eine bestehende Position, son-
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dern um die Gewährung einer zukunftsgerichteten Begünstigung. Hier kommt
den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes allenfalls
eine untergeordnete Bedeutung zu, da der Betroffene regelmäßig mit Rechts-
änderungen rechnen muss. Dies gilt auch für die Neuordnung des Systems der
Schengen-Visa durch den Visakodex. Hierdurch sind mit Wirkung ab dem
5. April 2010 nicht nur das zu beachtende Verfahren und die einzuhaltenden
Formvorschriften, sondern auch die materiellen Erteilungsvoraussetzungen neu
und eigenständig gegenüber dem nationalen Recht geregelt worden. Damit
dürfen die Mitgliedstaaten inzwischen ein Visum, das vom sachlichen Gel-
tungsbereich des Visakodexes erfasst ist, nur noch unter Beachtung der dorti-
gen materiell-rechtlichen Vorgaben erteilen. Dies gilt auch in Fällen, in denen
die Erteilung eines Visums - wie hier - noch nach altem Recht abgelehnt wor-
den ist und der Betroffene hiergegen Rechtsmittel eingelegt hat.
2. Das angegriffene Urteil verstößt gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1
VwGO), soweit das Berufungsgericht davon ausgegangen ist, dass sich das
Verpflichtungsbegehren der Klägerin durch Zeitablauf erledigt habe. Entgegen
der Auffassung des Berufungsgerichts bezieht sich der Visumantrag der Kläge-
rin aufgrund der im Antragsformular angegebenen Reisedaten nicht auf einen
kalendarisch fest umrissenen, inzwischen abgelaufenen Zeitraum. Ein Antrag
auf Erteilung eines Schengen-Visums für einen kurzfristigen Besuchsaufenthalt
ist bei Fehlen gegenteiliger Anhaltspunkte vielmehr dahin auszulegen, dass der
Antragsteller auch nach Ablauf des geplanten Aufenthaltszeitraums an seinem
Besuchswunsch festhält. Die gegenteilige Auslegung des Berufungsgerichts
verletzt § 133 BGB.
Der Senat ist befugt, die Auslegung des Visumantrags durch die Vorinstanz im
Revisionsverfahren am Maßstab dieser im öffentlichen Recht entsprechend
anzuwendenden gesetzlichen Auslegungsregel zu überprüfen. Der Inhalt eines
bei der Behörde gestellten Antrags betrifft zwar vor allem die grundsätzlich den
Tatsachengerichten vorbehaltene und im Revisionsverfahren nur einer einge-
schränkten Überprüfung (vgl. § 137 Abs. 2 VwGO) unterliegende Tatsachen-
feststellung. Die tatrichterliche Sachverhalts- und Beweiswürdigung ist nach
einhelliger Auffassung vom Revisionsgericht aber - ohne Rügevorbehalt - in
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ihrem Rechtsanwendungsteil darauf zu überprüfen, ob sie auf einem Rechtsirr-
tum beruht, gegen gesetzliche Auslegungsregeln verstößt oder allgemeine Er-
fahrungssätze oder Denkgesetze verletzt (vgl. Eichberger, in: Schoch/Schmidt-
Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand Mai 2010, § 137 Rn. 153 ff. und 168 ff. m.w.N.
aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts). Ist die Auslegung
des Berufungsgerichts dergestalt fehlerhaft, ist das Revisionsgericht zur eige-
nen Auslegung befugt.
Die Erteilung eines Visums ist antragsgebunden (§ 81 Abs. 1 AufenthG;
Art. 9 ff. VK). Dabei kann der Antragsteller bei der Beantragung eines Schen-
gen-Visums für einen kurzfristigen Aufenthalt im Rahmen der bestehenden
Rechtsvorschriften vorgeben, wann, wie oft und für wie lange er in den Schen-
gen-Raum einreisen möchte. Stellt er einen Antrag, richtet sich dessen Inhalt
daher in erster Linie nach seinem konkreten Begehren. Dieses ist nach § 133
BGB auszulegen. Danach ist bei der Auslegung einer Willenserklärung der
wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Aus-
drucks zu haften. Dieser Auslegungsgrundsatz gilt auch bei der Auslegung von
Anträgen eines Bürgers gegenüber einer Behörde (Urteil vom 10. Juli 1963
- BVerwG 6 C 91.60 - BVerwGE 16, 198 <203>). Dabei ist maßgebend, wie die
Behörde den Antrag bei objektiver Würdigung verstehen musste („objektivierter
Empfängerhorizont“).
Weder den bei Antragstellung geltenden Bestimmungen des Aufenthaltsgeset-
zes noch dem zwischenzeitlich zu beachtenden Visakodex ist zu entnehmen,
dass ein Schengen-Visum nur für einen kalendarisch bestimmten Zeitraum be-
antragt werden kann. Die Einschränkung, dass es nur für geplante Aufenthalte
von höchstens drei Monaten je Sechsmonatszeitraum erteilt werden darf (Art. 1
Abs. 1 VK; § 6 Abs. 2 AufenthG), bezieht sich auf die Aufenthaltsdauer in An-
knüpfung an den Zeitpunkt der ersten Einreise. Unerheblich ist auch, dass An-
träge inzwischen frühestens drei Monate vor Antritt der geplanten Reise einge-
reicht werden können (Art. 9 Abs. 1 VK) und die Gültigkeitsdauer eines Visums
fünf Jahre nicht überschreiten darf (Art. 24 Abs. 1 Satz 3 VK; § 6 Abs. 2
AufenthG). Dem ist lediglich zu entnehmen, dass ein Schengen-Visum nicht auf
Vorrat, sondern nur im konkreten zeitlichen Zusammenhang mit einer geplan-
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ten Reise beantragt werden kann und - insbesondere bei mehreren beabsich-
tigten Einreisen - maximal mit einer Gültigkeitsdauer von fünf Jahren ausge-
stellt werden darf.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ergibt sich auch nicht aus den
im Antragsformular anzugebenden geplanten Reisedaten, dass der Antragstel-
ler bei Besuchsreisen nur ein Visum für einen bestimmten kalendarisch festge-
legten Zeitraum beantragt. Mit diesen Angaben konkretisiert der Antragsteller
zwar seinen Aufenthaltswunsch in zeitlicher Hinsicht. Dies erleichtert der Aus-
landsvertretung bei zeitnaher Erteilung des Visums die Entscheidung, ab wann
und für welchen Zeitraum das Visum gültig sein soll. Kommt es bei der Ertei-
lung zu Verzögerungen, ergibt sich allein aus dem Verstreichen der angegebe-
nen Reisedaten indes nicht, dass sich das Begehren des Ausländers auf Ertei-
lung eines Besuchsvisums damit erledigt. Liegen - wie hier - keine Anhaltspunk-
te für einen termingebundenen Besuchsanlass (z.B. Beerdigung, Hochzeit, Ge-
burtstag) vor, ist der Antrag auf Erteilung eines Schengen-Visums für einen
kurzfristigen Besuchsaufenthalt demnach dahin auszulegen, dass der An-
tragsteller auch nach Ablauf der angegebenen Reisedaten weiterhin an seinem
Besuchswunsch und dessen zeitnaher Verwirklichung festhält und den Beginn
der Gültigkeit des beantragten Visums auf den Zeitpunkt der Erteilung hinaus-
geschoben wissen möchte.
Diese Auslegung des Antragsbegehrens führt - entgegen der Auffassung des
Berufungsgerichts - nicht zu einem Visum ohne zeitliche Begrenzung. Das Be-
gehren bleibt weiterhin auf die Erteilung eines Visums mit der beantragten Auf-
enthaltsdauer gerichtet; lediglich der gewünschte Gültigkeitsbeginn ändert sich.
Der Annahme, dass das Begehren in zeitlicher Hinsicht über den im Antrags-
formular angegebenen Reisezeitraum hinaus fortbesteht, steht auch nicht ent-
gegen, dass die bei Visumanträgen zu Besuchszwecken von nahen Angehöri-
gen regelmäßig vorgelegten Verpflichtungserklärungen nicht ohne jegliche zeit-
liche Begrenzung rechtsverbindlich bleiben und die erforderliche Auslandskran-
kenversicherung in aller Regel in zeitlicher Übereinstimmung mit dem geplanten
Auslandsaufenthalt abgeschlossen wird. Kommt es bei der Erteilung des
Visums zu Verzögerungen, hat der Antragsteller ggf. für eine Aktualisierung
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seiner Angaben und der von ihm zu erbringenden Nachweise zu sorgen, da die
Auslandsvertretung ein Visum nur erteilen darf, wenn im Zeitpunkt ihrer Ent-
scheidung die Erteilungsvoraussetzungen vorliegen. Gleiches gilt im Rahmen
einer Verpflichtungsklage, bei der - wie oben dargelegt - grundsätzlich auf die
Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der
Tatsacheninstanz abzustellen ist.
Auch die von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung geltend gemachten
praktischen Probleme stehen der Zulässigkeit einer Verpflichtungsklage nicht
entgegen. Nach Rechtskraft eines stattgebenden Urteils ist die Beklagte ver-
pflichtet, umgehend ein Visum mit der begehrten Gültigkeitsdauer zu erteilen.
Sollten die Erteilungsvoraussetzungen nach Schluss der mündlichen Verhand-
lung entfallen sein, hat sie über § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 767 ZPO die Mög-
lichkeit einer Vollstreckungsabwehrklage. Der Visakodex steht der Zulässigkeit
einer Verpflichtungsklage ebenfalls nicht entgegen. Wie sich aus Art. 32 Abs. 3
VK ergibt, der allerdings erst ab dem 5. April 2011 gilt (Art. 58 Abs. 5 VK), ver-
weist das Unionsrecht hinsichtlich der Rechtsschutzmöglichkeiten gegen eine
Ablehnung auf das innerstaatliche Recht.
In dieser Situation widerspräche es der Verpflichtung der Gerichte zur Gewäh-
rung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG), das Visumbegehren allein
wegen des Antragserfordernisses und der bei Antragstellung anzugebenden
Reisedaten nach deren Ablauf als erledigt anzusehen. Dem Betroffenen würde
damit eine Rechtsverfolgung mittels einer Verpflichtungsklage verwehrt, und er
würde stattdessen auf die rechtsschutzschwächere Fortsetzungsfeststellungs-
klage (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO in entsprechender Anwendung) verwiesen,
die zudem ein besonderes Fortsetzungsfeststellungsinteresse voraussetzt.
3. Die Klage hat aber dennoch keinen Erfolg, da die Klägerin im maßgeblichen
Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht keinen An-
spruch auf Erteilung eines Schengen-Visums hat und die Ablehnung nicht
rechtswidrig ist. Dabei kann dahinstehen, ob der Auslandsvertretung nach dem
Visakodex - wie bislang nach § 6 Abs. 1 AufenthG - auf der Rechtsfolgenseite
ein Ermessen verbleibt oder ob bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen
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ein gebundener Anspruch auf Erteilung eines Visums besteht (vgl. dazu OVG
Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24. Juni 2010 a.a.O. Rn. 23). Denn die Klägerin
erfüllt die Tatbestandsvoraussetzungen weder für die Erteilung eines für das
gesamte Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten gültigen einheitlichen Visums (Art. 2
Nr. 3 VK) noch für die Erteilung eines Visums mit räumlich beschränkter Gültig-
keit nur für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland (Art. 2 Nr. 4
VK).
a) Nach Art. 23 Abs. 4 i.V.m. Art. 21 und Art. 32 VK setzt die Erteilung eines
einheitlichen Visums - neben der Zuständigkeit der Auslandsvertretung (Art. 18
VK) und der formellen Zulässigkeit des Antrags (Art. 19 VK) - voraus, dass der
Antragsteller in materieller Hinsicht die Einreisevoraussetzungen erfüllt und kein
Verweigerungsgrund vorliegt (Art. 21, 32 VK).
Nach Art. 21 Abs. 1 VK ist bei der Prüfung eines Antrags auf ein einheitliches
Visum festzustellen, ob der Antragsteller die Einreisevoraussetzungen nach
Art. 5 Abs. 1 Buchst. a, c, d und e der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Ge-
meinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (ABl EU
Nr. L 105 S. 1) - Schengener Grenzkodex (SGK) - erfüllt. Danach muss ein
Drittstaatsangehöriger u.a. den Zweck und die Umstände des beabsichtigten
Aufenthalts belegen (Art. 5 Abs. 1 Buchst. c SGK) und darf keine Gefahr für die
öffentliche Ordnung darstellen (Art. 5 Abs. 1 Buchst. e SGK). Die Auslandsver-
tretung hat daher bei der Prüfung eines Antrags auf Erteilung eines einheitli-
chen Visums insbesondere zu beurteilen, ob beim Antragsteller das Risiko der
rechtswidrigen Einwanderung besteht, ob er eine Gefahr für die Mitgliedstaaten
darstellt und ob er beabsichtigt, vor Ablauf der Gültigkeit des beantragten
Visums das Hoheitsgebiet zu verlassen (Art. 21 Abs. 1 Halbs. 2 VK). Sie muss
das Visum nach Art. 32 Abs. 1 VK u.a. verweigern, wenn der Antragsteller als
eine Gefahr für die öffentliche Ordnung eingestuft wird (Buchst. a Nr. vi) oder
begründete Zweifel an der vom Antragsteller bekundeten Absicht bestehen, das
Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf des beantragten Visums zu ver-
lassen (Buchst. b).
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Aufgrund dieser materiellen Vorgaben darf der Klägerin kein einheitliches
Visum erteilt werden. Bei Zugrundelegung der nicht mit Verfahrensrügen ange-
griffenen tatrichterlichen Feststellungen des Berufungsgerichts (UA S. 14 f.), an
die der Senat nach § 137 Abs. 2 VwGO gebunden ist, bestehen konkrete An-
haltspunkte, die gegen die von der Klägerin behauptete Rückkehrbereitschaft
sprechen. Die Klägerin hat - obwohl sie zu ihren Kindern will - im Visumverfah-
ren zunächst angegeben, sie wolle zu touristischen Zwecken nach Deutschland
einreisen, und damit den wahren Grund ihrer Einreise verschwiegen. Gegen
ihre Rückkehrbereitschaft spricht auch, dass die bei ihren Kindern diagnosti-
zierten neurotischen Störungen nach den Feststellungen des Berufungsgerichts
auf die Trennung von der Mutter zurückzuführen sind und sich durch einen
kurzfristigen, von vornherein mit der Aussicht auf eine erneute Trennung be-
lasteten Aufenthalt der Klägerin nicht bessern würden. Zudem erhärten Äuße-
rungen des geschiedenen Ehemanns und eines der Kinder den Eindruck, dass
sie dauerhaft im Bundesgebiet bleiben will. Dem stehen keine vergleichbar ge-
wichtigen Bindungen in Marokko gegenüber (Miteigentum an dem von ihr be-
wohnten Gebäude, eigener Schneidereibetrieb, Mutter und beide Schwestern
leben in Marokko). Außerdem hat die Klägerin nach den Feststellungen des
Berufungsgerichts schon bei einem früheren Aufenthalt die Gültigkeitsdauer
ihres Visums überschritten.
Unter den hier gegebenen Umständen ist unerheblich, dass sich die Feststel-
lungen des Berufungsgerichts zur fehlenden Rückkehrwilligkeit der Klägerin bei
den Ausführungen zur Unbegründetheit ihres hilfsweise gestellten Feststel-
lungsantrags finden und sich damit in zeitlicher Hinsicht vor allem auf den Zeit-
punkt der letzten Behördenentscheidung (15. Februar 2008) beziehen. Denn
das Berufungsgericht hat bei seinen Feststellungen - wie sich aus der Ausei-
nandersetzung mit dem von der Klägerin vorgelegten ärztlichen Bericht vom
16. Oktober 2008 ergibt - neuere Erkenntnisse mitberücksichtigt. Im Übrigen
hat die Klägerin während des Gerichtsverfahrens bis zum hier maßgeblichen
Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht
(18. Dezember 2009) keine neuen Gründe geltend gemacht, die eine andere
Würdigung ihrer Rückkehrwilligkeit rechtfertigen könnten. Damit haben im Zeit-
punkt der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht (weiterhin) be-
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gründete Zweifel
bestanden, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf der Gültigkeit des
beantragten Visums zu verlassen.
b) Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf ein Visum mit beschränkter Gül-
tigkeit nur für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 25
VK. Die Erteilung eines solchen Visums ist im Antrag auf Erteilung eines
Schengen-Visums mit enthalten, da es gegenüber dem einheitlichen, für das
gesamte Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten gültigen Visum in räumlicher Hin-
sicht ein Minus darstellt. Entsprechend sieht der Visakodex ein einheitliches
Antragsformular vor. Liegen die Voraussetzungen für ein einheitliches Visum
nicht vor, ist daher zu prüfen, ob (wenigstens) die Erteilung eines Visums mit
räumlich beschränkter Gültigkeit in Betracht kommt.
Der Erteilung eines räumlich nur für das Bundesgebiet gültigen Visums steht
Art. 32 VK nicht entgegen. Aus dem Hinweis in Art. 32 Abs. 1 VK, dass das
Visum in den Fällen des Art. 32 VK „unbeschadet“ des Art. 25 Abs. 1 VK ver-
weigert wird, ergibt sich, dass Art. 32 VK zwar die Erteilung eines einheitlichen
Visums zwingend ausschließt. Trotz Vorliegen eines Verweigerungsgrundes ist
es jedoch möglich, über Art. 25 Abs. 1 VK in bestimmten, abschließend aufge-
führten Ausnahmefällen dennoch ein räumlich beschränktes Visum zu erteilen.
Nach Art. 25 Abs. 1 Buchst. a Nr. i VK wird ausnahmsweise ein Visum mit
räumlich beschränkter Gültigkeit erteilt, wenn der betreffende Mitgliedstaat es
aus humanitären Gründen, aus Gründen des nationalen Interesses oder auf-
grund internationaler Verpflichtungen für erforderlich hält, von dem Grundsatz
abzuweichen, dass die in Art. 5 Abs. 1 Buchst. a, c, d und e SGK festgelegten
Einreisevoraussetzungen erfüllt sein müssen. Wie dargelegt, ist nach Art. 5
Abs. 1 Buchst. e SGK Voraussetzung für eine Einreise (u.a.), dass von dem
Drittstaatsangehörigen keine Gefahr für die öffentliche Ordnung ausgeht. Eine
Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne der Vorschrift ist auch dann anzu-
nehmen, wenn der Drittstaatsangehörige nicht bereit ist, das Hoheitsgebiet der
Mitgliedstaaten vor Ablauf der Gültigkeit des von ihm beantragten Visums zu
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verlassen. Es besteht ein erhebliches Interesse der Mitgliedstaaten der Europä-
ischen Union an der Verhinderung illegaler Einwanderungen.
Auch bei Vorliegen einer Gefahr für die öffentliche Ordnung verbleibt den Mit-
gliedstaaten allerdings die Möglichkeit, ausnahmsweise aus den in Art. 25
Abs. 1 Buchst. a VK aufgeführten Gründen ein auf das eigene Hoheitsgebiet
beschränktes Visum zu erteilen. Hierbei können familiäre Bindungen des An-
tragstellers an berechtigterweise im Bundesgebiet lebende Familienangehörige
sowohl aus humanitären Gründen als auch aufgrund internationaler Verpflich-
tungen berücksichtigt werden. Ausgehend von dem öffentlichen Interesse an
der Verhinderung einer ungesteuerten Einwanderung setzt die Erteilung eines
beschränkten Visums auf der Tatbestandsseite aber voraus, dass auch mit
Blick auf den besonderen Schutz familiärer Beziehungen nach Art. 6 GG, Art. 8
EMRK und Art. 7 GR-Charta die Erteilung eines Besuchsvisums ausnahmswei-
se trotz der vom Antragsteller ausgehenden Gefahr für die öffentliche Ordnung
erforderlich ist.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gewähren weder der
Schutz der Familie nach Art. 6 GG noch das Recht auf Achtung des Familien-
lebens nach Art. 8 EMRK einen unmittelbaren Anspruch auf Einreise und Auf-
enthalt. Dies gilt über Art. 52 Abs. 3 GR-Charta auch für das Recht auf Achtung
des Familienlebens nach Art. 7 GR-Charta. Allerdings verpflichtet die in Art. 6
Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach
welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Behörden, bei
der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren familiäre Bindungen des Aus-
länders an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu
berücksichtigen und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Er-
wägungen zur Geltung zu bringen; der Grundrechtsträger hat einen Anspruch
auf eine solche angemessene Berücksichtigung seiner familiären Bindungen
(BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1987 - 2 BvR 1226/83 u.a. - BVerfGE 76, 1
<47 ff.>). Dies gilt auch bei Entscheidungen über die Erteilung eines Visums für
einen Ausländer zum Zwecke des Besuchs seiner in Deutschland beim ande-
ren Elternteil lebenden minderjährigen Kinder. Hierzu bedarf es grundsätzlich
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einer einzelfallbezogenen Abwägung der betroffenen familiären Belange mit
gegenläufigen öffentlichen Interessen unter Beachtung des Grundsatzes der
Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots. Auch das Recht auf Achtung
des Familienlebens nach Art. 8 EMRK und Art. 7 GR-Charta verpflichtet im Er-
gebnis zu einer solchen Abwägung nach Verhältnismäßigkeitsgrundsätzen.
Dabei sind auch hier - einzelfallbezogen - die besonderen Umstände der Betei-
ligten zu berücksichtigen (vgl. Urteil vom 30. März 2010 - BVerwG 1 C 8.09 -
Buchholz 402.242 § 30 AufenthG Nr. 2 m.w.N.).
Bei dieser Interessenabwägung ist zu berücksichtigen, dass sowohl auf Unions-
als auch auf nationaler Ebene ein erhebliches öffentliches Interesse an der Un-
terbindung rechtswidriger Einwanderungen besteht. Strebt ein Drittstaatsange-
höriger einen Daueraufenthalt im Bundesgebiet zum Zwecke der Familienzu-
sammenführung mit einem Drittstaatsangehörigen an, müssen materiell die
entsprechenden Einreisevoraussetzungen nach der Richtlinie 2003/86/EG
(Familienzusammenführungsrichtlinie) und/oder dem nationalen Recht vorlie-
gen. Zudem bedarf er für die Einreise und den Aufenthalt eines - von der Klä-
gerin nicht beantragten - nationalen Visums für einen längerfristigen Aufenthalt
(vgl. § 6 Abs. 4 i.V.m. §§ 27 ff. AufenthG). Bei begründeten Zweifeln an der
Rückkehrwilligkeit des Ausländers kommt daher auch die Erteilung eines Be-
suchsvisums mit beschränkter Gültigkeit nur in Ausnahmefällen in Betracht.
Von einem Ausnahmefall ist vorliegend auch mit Blick auf die familiären Bin-
dungen der Klägerin an ihre sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten-
den minderjährigen Kinder nicht auszugehen.
Bei der Bewertung der familiären Beziehungen kommt es nicht auf die formal-
rechtlichen familiären Bindungen an, entscheidend ist vielmehr die tatsächliche
Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern. Dabei ist unerheblich, ob
eine Hausgemeinschaft vorliegt und ob die von einem Familienmitglied erbrach-
te Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte. Geht es
- wie hier - um den persönlichen Kontakt eines Elternteils mit dem Kind, ist zu
berücksichtigen, dass dies - auch in Fällen, in denen dem Elternteil kein Sorge-
recht zusteht - Ausdruck und Folge des natürlichen Elternrechts und der damit
verbundenen Elternverantwortung ist. Der spezifische Erziehungsbeitrag eines
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Elternteils wird durch die Betreuung des Kindes durch den anderen Elternteil
nicht entbehrlich. Die Entwicklung eines Kindes wird nicht nur durch quantifi-
zierbare Betreuungsbeiträge der Eltern, sondern auch durch die geistige und
emotionale Auseinandersetzung geprägt. Die familiäre (Lebens-)Gemeinschaft
zwischen einem Elternteil und seinem minderjährigen Kind ist getragen von tat-
sächlicher Anteilnahme am Leben und Aufwachsen des Kindes (BVerfG, Be-
schlüsse vom 8. Dezember 2005 - 2 BvR 1001/04 - InfAuslR 2006, 122 m.w.N.
und vom 9. Januar 2009 - 2 BvR 1064/08 - NVwZ 2009, 387 m.w.N.). Nach
§ 1626 Abs. 3 Satz 1 BGB gehört zum Wohl des Kindes in der Regel der Um-
gang mit beiden Elternteilen. Entsprechend hat ein Kind gemäß § 1684 Abs. 1
BGB ein Recht auf Umgang mit jedem Elternteil, und jeder Elternteil ist zum
Umgang mit ihm nicht nur berechtigt, sondern im Interesse des Kindes auch
verpflichtet. Diese gewachsene Einsicht in die Bedeutung des Umgangsrechts
eines Kindes mit beiden Elternteilen ist bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidun-
gen, die die tatsächliche Ausübung des Umgangsrechts berühren, zu beachten.
Dabei ist zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit be-
steht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist.
Hierzu sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berück-
sichtigen. Es ist zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausge-
übt wird und welche Folgen eine negative Entscheidung für die gelebte Eltern-
Kind-Beziehung und das Wohl des Kindes hätte. Auch ist zu berücksichtigen,
dass der persönliche Kontakt des Kindes zu dem getrennt lebenden Elternteil
und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen
zu Vater und Mutter in aller Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes
dient und ein Kind beide Eltern braucht (BVerfG, Beschluss vom 8. Dezember
2005 a.a.O.).
In Anwendung dieser Grundsätze unterfällt der von der Klägerin mit ihrem Auf-
enthalt angestrebte persönliche Kontakt mit ihren Kindern dem Schutzbereich
des Art. 6 GG, des Art. 8 EMRK und des Art. 7 GR-Charta. Die Kinder haben
bis 2005 bei der Klägerin in Marokko gelebt und wurden von ihr versorgt. Bei
dieser Sachlage ist davon auszugehen, dass trotz der von der Klägerin selbst
herbeigeführten räumlichen Trennung weiterhin eine durch geistige und emoti-
onale Auseinandersetzung geprägte und von tatsächlicher Anteilnahme am
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Leben und Aufwachsen der Kinder getragene Verbundenheit und familiäre (Le-
bens-)Gemeinschaft besteht. Dennoch ist die Ablehnung der Erteilung eines
Besuchsvisums hier nicht unverhältnismäßig. Nach den Feststellungen des Be-
rufungsgerichts hat die Klägerin die bestehende räumliche Trennung von ihren
Kindern selbst dadurch herbeigeführt, dass sie, obwohl sie 2002 nach der
Scheidung der Ehe das Sorgerecht für die Kinder erhielt, 2005 der Übersied-
lung der Kinder nach Deutschland zustimmte. Soweit die Kinder unter der hier-
durch herbeigeführten Trennung von ihrer Mutter leiden, stand und steht es den
Eltern frei, diese Entscheidung zum Wohl der Kinder wieder rückgängig zu ma-
chen. Im Übrigen sind die Klägerin und ihre beiden - im maßgeblichen Zeit-
punkt der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht - 11 bzw. 8 Jahre
alten Kinder zur Aufrechterhaltung der familiären Bindungen nicht zwingend auf
einen Besuch der Klägerin im Bundesgebiet angewiesen. Die Klägerin kann
den Kontakt mit ihren Kindern von Marokko aus sowohl über das Internet als
auch über Briefe und Telefonate aufrechterhalten. Außerdem können die Kin-
der ihre Mutter während der Ferien in Marokko besuchen. Beides ist der Fami-
lie angesichts des Alters der Kinder und des Umstandes, dass die Klägerin
nach den Feststellungen des Berufungsgerichts in Marokko über ein über-
durchschnittliches Einkommen und nicht unerhebliche Ersparnisse verfügt,
nicht unzumutbar.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Eckertz-Höfer
Prof. Dr. Dörig
Richter
Beck
Fricke
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B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstands wird für das Revisionsverfahren auf 5 000 €
festgesetzt (§ 47 Abs. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG).
Eckertz-Höfer
Prof. Dr. Dörig
Fricke
Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
Ausländerrecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquellen:
GG
Art. 6
AufenthG
§§ 6, 81 Abs. 1
BGB
§ 133
ZPO
§ 767
EMRK
Art. 8
GR-Charta
Art. 7
VO (EG) Nr. 810/2009
Art. 1, 2, 9, 18, 19, 21, 23, 24, 25, 32, 56, 58
VO (EG) Nr. 562/2006
Art. 5 Abs. 1
Stichworte:
Schengen-Visum; Besuchsvisum; kurzfristiger Aufenthalt; einheitliches Visum;
Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit; Visumantrag; Besuchswunsch;
Auslegung; Reisedaten; Verpflichtungsklage; Erledigung; Rechtsschutzbedürf-
nis; Fortsetzungsfeststellungsklage; Rückkehrbereitschaft; rechtswidrige Ein-
wanderung; Gefahr für die öffentliche Ordnung; familiäre Bindungen; Familie;
nahe Familienangehörige; elterliches Umgangsrecht; Wohl des Kindes.
Leitsätze:
1. Ein Antrag auf Erteilung eines Schengen-Visums für einen kurzfristigen Be-
suchsaufenthalt ist bei Fehlen gegenteiliger Anhaltspunkte dahin auszulegen,
dass der Antragsteller auch nach Ablauf des bei Antragstellung angegebenen
geplanten Aufenthaltszeitraums an seinem Besuchswunsch festhält.
2. Begründete Zweifel an der Rückkehrbereitschaft stehen nach dem Visako-
dex der Erteilung eines einheitlichen, für das gesamte Gebiet der Mitgliedstaa-
ten gültigen Visums zwingend entgegen.
3. In diesen Fällen verbleibt den Mitgliedstaaten nach Art. 25 Abs. 1 Buchst. a
Nr. i Visakodex die Befugnis, in Ausnahmefällen ein Visum mit räumlich be-
schränkter Gültigkeit für ihr Hoheitsgebiet zu erteilen, etwa zum Besuch eines
nahen Familienangehörigen, wenn dies mit Blick auf den besonderen Schutz
familiärer Bindungen nach Art. 6 GG, Art. 8 EMRK und Art. 7 GR-Charta erfor-
derlich ist (hier: verneint).
Urteil des 1. Senats vom 11. Januar 2011 - BVerwG 1 C 1.10
I. VG Berlin vom 10.12.2008 - Az.: VG 7 V 16.08 -
II. OVG Berlin-Brandenburg vom 18.12.2009 - Az.: OVG 3 B 6.09 -