Urteil des BVerwG vom 22.03.2007

Russische Föderation, Berg, Genfer Flüchtlingskonvention, Armenien

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 97.06
VGH 9 B 02.31748
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 22. März 2007
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann und Prof. Dr. Dörig
beschlossen:
Die Beschwerde der Beklagten wird verworfen.
Auf die Beschwerde des Beteiligten wird das Urteil des
Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 20. Februar
2006 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwie-
sen.
Die Kostenentscheidung in der Hauptsache bleibt der
Schlussentscheidung vorbehalten.
Von den Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Be-
klagte die Hälfte. Die Entscheidung über die restlichen
Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der vorbehalte-
nen Kostenentscheidung in der Hauptsache.
G r ü n d e :
I
Die Klägerin zu 1 und ihre Tochter, die Klägerin zu 2, stammen aus Aserbai-
dschan. Die Klägerin zu 1 reiste nach eigenen Angaben aus Furcht vor Verfol-
gung wegen ihrer armenischen Volkszugehörigkeit im Mai 1999 gemeinsam mit
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ihrer Tochter in die Russische Föderation aus. Von dort kamen die Klägerinnen
im März 2001 nach Deutschland und beantragten Asyl. Das Bundesamt für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte die Asylanträge ab,
stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 1
AufenthG) und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 2
bis 7 AufenthG) nicht vorliegen und drohte den Klägerinnen die Abschiebung
nach Armenien oder in die Russische Föderation an.
Das Verwaltungsgericht hat der hiergegen gerichteten Klage teilweise stattge-
geben und die Beklagte verpflichtet festzustellen, dass bei den Klägerinnen die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und bei der Klägerin zu 1 im Hinblick
auf ihre epileptische Erkrankung zusätzlich die Voraussetzungen des § 53
Abs. 6 Satz 1 AuslG vorliegen. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung
des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten (Bundesbeauftragten), die
sich gegen die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1
AufenthG richtet, zurückgewiesen. Er ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die
Klägerinnen wegen der Gefahr asylerheblicher Verfolgung aus Aserbaidschan
ausgereist sind, aber unabhängig davon Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1
AufenthG genießen, weil sie wegen ihrer armenischen Volkszugehörigkeit von
Aserbaidschan ausgebürgert worden seien und ihnen die Wiedereinreise dort-
hin verwehrt werde. Wegen dieser Ausbürgerung und Einreiseverweigerung
komme es nicht mehr darauf an, ob ihnen heute in Berg-Karabach eine zumut-
bare Fluchtalternative offenstehe. Ein gesicherter Aufenthalt dort sei kein Aus-
gleich der asylerheblichen Rechtsbeeinträchtigung, die durch den Entzug der
aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit und des Rechts auf Wiedereinreise
entstanden sei. Allerdings sei die Einreise nach Berg-Karabach nur von Arme-
nien aus möglich und setze dort zunächst den Erwerb der armenischen Staats-
angehörigkeit oder die Stellung eines Asylantrags voraus. Gegen die Nichtzu-
lassung der Revision wendet sich die Beklagte mit einer Gehörsrüge, der Bun-
desbeauftragte mit Grundsatz-, Divergenz- und Verfahrensrügen.
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II
1. Die Beschwerde der Beklagten ist unzulässig. Sie legt den geltend gemach-
ten Verfahrensmangel einer Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtli-
chen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) nicht den Anforderungen des § 133 Abs. 3
Satz 3 VwGO entsprechend dar. Dies hat der Senat bereits in seinem Be-
schluss vom 17. September 2006 auf eine Beschwerde der Beklagten gleichen
Inhalts entschieden (BVerwG 1 B 102.06 - juris). Auf die Gründe dieses Be-
schlusses wird zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen.
2. Die Beschwerde des beteiligten Bundesbeauftragten hat hingegen mit einer
Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) Erfolg. Er rügt zu Recht, dass das
Berufungsgericht seiner Begründungspflicht nach § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO
zur Frage einer den Verfolgungsschutz ausschließenden Sicherheit der Kläge-
rinnen in der Russischen Föderation nicht nachgekommen ist (s.u. 2 c): Im Inte-
resse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit
Gebrauch, den Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsge-
richt zurückzuverweisen. Demgegenüber greifen die vom Bundesbeauftragten
erhobenen Divergenz- und Grundsatzrügen nicht durch (s.u. 2 a, b).
a) Der Bundesbeauftragte rügt, das Berufungsgericht weiche von der Recht-
sprechung des Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgerichts ab, indem
es die folgenden Rechtssätze aufstelle (Beschwerdebegründung S. 3):
(1) Es spiele für die Flüchtlingsstellung nach § 60 Abs. 1
AufenthG keine Rolle, ob ein Flüchtling anderweitig Schutz
vor politischer Verfolgung gefunden habe.
(2) Es bestehe für den Flüchtling bei politischer Verfolgung
ein freies Wahlrecht des Ziel- bzw. Schutzstaates.
Und, da das Berufungsgericht einer für möglich gehaltenen Fluchtalternative
keine Bedeutung zuerkenne,
(3) eine inländische Fluchtalternative biete nur einge-
schränkt Verfolgungsschutz, schütze bzw. greife aber nicht
bei jeder Art politischer Verfolgung.
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Mit diesem Vorbringen kann eine Zulassung der Revision wegen Divergenz
nicht erreicht werden, weil es nicht den Begründungsanforderungen des § 133
Abs. 3 Satz 3 VwGO genügt.
Was die erste Divergenzrüge angeht, könnte das Berufungsgericht zwar dahin-
gehend verstanden werden, dass es für die Flüchtlingsstellung nach § 60 Abs. 1
AufenthG unerheblich sei, ob der Flüchtling anderweitig Schutz vor politischer
Verfolgung gefunden habe. Denn es vertritt die Rechtsauffassung, dass nach
der Genfer Flüchtlingskonvention und dem nationalen Recht es Sache des
Flüchtlings sei, den Zielstaat seiner Flucht zu bestimmen; es sei „nur für die An-
erkennung als Asylberechtigter erheblich, ob ein Flüchtling aus einem sicheren
Drittstaat eingereist ist oder auf der Flucht anderweitig Sicherheit vor Verfolgung
gefunden hat“ (UA S. 13). Diese Auffassung steht im Widerspruch zu dem vom
Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 8. Februar 2005 - BVerwG 1 C
29.03 - (BVerwGE 122, 376 <387>) aufgestellten Rechtssatz, dass der Grund-
satz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes eine Anerkennung
als Flüchtling im Sinne von § 51 Abs. 1 AuslG (heute: § 60 Abs. 1 AufenthG)
ausschließt, wenn der Flüchtling bereits ausreichende Sicherheit vor Verfolgung
in einem anderen Staat gefunden hat. Darauf kommt es hier indessen nicht an,
da sich der Beschwerde nicht entnehmen lässt, dass die Entscheidung des Be-
rufungsgerichts auf dieser Divergenz beruht. Denn der genannte Rechtssatz
dient dem Berufungsgericht lediglich zur Begründung der Aussage, dass den
Klägerinnen die Flüchtlingsanerkennung nicht unter Hinweis darauf verwehrt
werden dürfe, dass sie Zuflucht in Armenien oder Berg-Karabach finden könn-
ten, aber bisher nicht gefunden haben (UA S.13). Er dient hingegen nicht als
Begründung dazu, dass ein möglicherweise in der Russischen Föderation er-
langter Schutz der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nach § 60 Abs. 1
AufenthG nicht entgegenstehe.
Mit seiner zweiten Divergenzrüge hat der Bundesbeauftragte schon keinen
Rechtssatz bezeichnet, der der berufungsgerichtlichen Entscheidung in dieser
Allgemeinheit zu entnehmen wäre. Soweit dem Berufungsurteil allerdings die
Rechtsauffassung zugrunde liegen sollte, dass die Klägerinnen wegen eines
Wahlrechts bezüglich des Ziel- bzw. Schutzstaates von vornherein nicht auf die
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Möglichkeit einer inländischen Fluchtalternative in Berg-Karabach verwiesen
werden können, wäre dies mit den bisher in der Rechtsprechung zur inländi-
schen Fluchtalternative entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar. Eine zumut-
bare inländische Fluchtalternative schließt grundsätzlich die Möglichkeit der
Flüchtlingsanerkennung aus (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR
502, 1000, 961/86 - BVerfGE 80, 315 <342 f.>; BVerwG, Urteil vom
8. Dezember 1998 - BVerwG 9 C 17.98 - BVerwGE 108, 84 <89 f.>). Das Urteil
würde allerdings nicht auf dieser Abweichung beruhen, weil Berg-Karabach
- wie noch auszuführen ist (unter 2 b) - auf der Grundlage der tatsächlichen
Feststellungen des Berufungsgerichts für die Klägerinnen nicht zumutbar zu
erreichen ist.
Auch hinsichtlich der dritten Divergenzrüge zeigt die Beschwerde nicht auf, dass
die Rechtsfrage, für die sie eine Divergenz sieht, entscheidungserheblich ist.
Denn auch diese Frage bezieht sich konkret nur auf das nach den Feststellun-
gen des Berufungsgerichts nicht zumutbar erreichbare Berg-Karabach.
b) Der Bundesbeauftragte wirft im Übrigen als Fragen von grundsätzlicher Be-
deutung auf (Beschwerdebegründung S. 10), ob - soweit man nicht davon aus-
zugehen habe, dass „in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bereits ausrei-
chend geklärt“ sei, dass eine inländische Fluchtalternative „umfassend Schutz
vor bzw. bei jeder Art von Verfolgungshandlungen“ biete -
(1) eine inländische Fluchtalternative untrennbar mit dem
Verständnis eines umfassenden Schutzes verbunden sei
oder bei bestimmten Arten von Verfolgungshandlungen,
insbesondere bei Ausbürgerung und Wiedereinreisever-
weigerung generell nicht eingreifen könne,
und ob
(2) eine inländische Fluchtalternative bestehe, wenn das
diesbezügliche Gebiet nur dadurch erreichbar sei, wenn
zuvor in einem notwendig zu durchquerenden Staat der
Flüchtlingsstatus oder unter Inkaufnahme eines längeren
Zwischenaufenthalts Einreisepapiere beantragt und erwor-
ben werden müssten.
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Auch diese Rügen rechtfertigen die Zulassung der Revision nicht. Die Be-
schwerde zeigt nicht auf, dass sie der Klärung in einem Revisionsverfahren be-
dürfen.
Die erste aufgeworfene Frage bezieht sich darauf, ob eine inländische Fluchtal-
ternative bei bestimmten Arten von Verfolgungshandlungen nicht greifen kann
mit der Folge, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG anzu-
nehmen ist. Auf diese Frage kommt es deshalb nicht an, weil das Berufungsge-
richt festgestellt hat, dass die Einreise nach Berg-Karabach als Ort einer mögli-
chen (inländischen) Fluchtalternative nur - wenn überhaupt - von Armenien aus
möglich ist und dort zunächst den Erwerb der armenischen Staatsangehörigkeit
oder die Stellung eines Asylantrags voraussetzt. Das ist den Klägerinnen aber
nicht zumutbar. Ein Asylsuchender kann nach der Rechtsprechung nur dann auf
das Gebiet einer inländischen Fluchtalternative verwiesen werden, wenn dieses
zumutbar erreichbar ist (Urteil vom 16. Januar 2001 - BVerwG 9 C 16.00 -
BVerwGE 112, 345). Zwar ist es für einen Asylsuchenden nicht generell unzu-
mutbar, in das Zufluchtsgebiet im Wege des Transits durch einen anderen Staat
und erforderlichenfalls mit Hilfe dort zu beschaffender Transitpapiere einzurei-
sen. Es ist hingegen nicht zumutbar, auf ein Gebiet verwiesen zu werden, das
der Ausländer erst nach Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit oder des
Flüchtlingsstatus in einem Drittstaat erreichen kann. Der Verweis des Flücht-
lings darauf, eine Fluchtalternative innerhalb seines Herkunftslandes in An-
spruch zu nehmen, bevor er Schutz durch einen Staat der internationalen Staa-
tengemeinschaft in Anspruch nehmen kann, ist eine Ausprägung des Grundsat-
zes der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes. Nach der Recht-
sprechung des Bundesverwaltungsgerichts gilt der Grundsatz der Subsidiarität
des Konventionsschutzes aber nur im Verhältnis zum Schutz durch den Staat
oder die Staaten der Staatsangehörigkeit der Betroffenen - bei Staatenlosen im
Verhältnis zum Staat des gewöhnlichen Aufenthalts - wie auch im Verhältnis
zum einmal erlangten Schutz in einem anderen Staat (vgl. Urteil vom 8. Februar
2005, a.a.O.). Demgemäß darf ein Schutzsuchender nicht darauf verwiesen
werden, in einem sonstigen Drittland (hier: Armenien) zunächst die dortige
Staatsangehörigkeit oder den Flüchtlingsstatus zu erwerben, um anschließend
ein inländisches Zufluchtsgebiet zu erreichen.
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Im Hinblick auf die Rechtslage und die Feststellungen des Berufungsgerichts
kann der Bundesbeauftragte nichts aus der Zulassung der Revision in dem von
ihm angesprochenen Verfahren BVerwG 1 B 122.05 (1 C 12.06 - Beschluss
vom 15. Juni 2006) herleiten. In dem genannten Verfahren geht es allein um die
Frage, ob die Fluchtalternative Berg-Karabach zumutbar erreichbar ist, wenn
der Zuflucht Suchende zuvor in Armenien den Flüchtlingsstatus oder unter In-
kaufnahme eines längeren Zwischenaufenthalts Einreisepapiere beantragen
und erwerben muss. Im vorliegenden Verfahren hat das Berufungsgericht hin-
gegen festgestellt, dass entweder die armenische Staatsangehörigkeit oder
aber der Flüchtlingsstatus erworben werden müssten, um nach Berg-Karabach
einreisen zu dürfen. Aus diesem Grunde ist auch die vom Bundesbeauftragten
aufgeworfene zweite Grundsatzfrage (2) nicht entscheidungserheblich. Denn sie
stellt sich nur in dem vom Bundesbeauftragten zitierten Revisionsverfahren
BVerwG 1 C 12.06, nicht aber im vorliegenden Verfahren.
Allerdings bemerkt der Senat, dass die mit der ersten Grundsatzrüge (1) ange-
sprochene (nicht entscheidungserhebliche) Rechtsauffassung des Berufungsge-
richts, bei aus asylerheblichen Gründen ausgebürgerten Flüchtlingen, denen
außerdem die Wiedereinreise in ihr Herkunftsland verweigert werde, komme es
nicht darauf an, ob ihnen eine zumutbare inländische Fluchtalternative offenste-
he (UA S. 12), der bisherigen Rechtsprechung des Senats so nicht zu entneh-
men ist. Zwar wird der Ausgebürgerte in der Regel, d.h. bei einem Verfolger-
staat mit uneingeschränkter Gebietsgewalt über sein Territorium, schon wegen
der durch das Wiedereinreiseverbot bedingten Unerreichbarkeit des gesamten
Staatsgebiets nicht auf eine inländische Fluchtalternative verwiesen werden
können. Sofern es sich bei dem als inländische Fluchtalternative in Betracht
kommenden Teil des Herkunftsstaates aber um ein Gebiet handelt, in dem der
Herkunftsstaat keine Gebietsgewalt mehr ausübt und in dem der Betroffene vor
erneuter Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm auch keine asylgleichen
sonstigen Gefahren drohen, ist auf der Grundlage der bisherigen Rechtspre-
chung nicht ersichtlich, dass und aus welchen Gründen dieses Gebiet - seine
Erreichbarkeit für den Betroffenen unterstellt - für aus politischen Gründen aus-
gebürgerte Staatsangehörige des Herkunftsstaats von vornherein als inländi-
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sche Fluchtalternative ausscheiden sollte. Nach der Rechtsprechung des Bun-
desverwaltungsgerichts gilt der Grundsatz der Subsidiarität des internationalen
Flüchtlingsschutzes auch für staatenlose Flüchtlinge. Auch sie können den Ab-
schiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG grundsätzlich nicht in Anspruch
nehmen, wenn ihnen eine zumutbare inländische Fluchtalternative im Staat ih-
res bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts offensteht. Die in Art. 8 der Richtlinie
2004/83/EG eröffnete Möglichkeit, einen Flüchtling auf den „internen Schutz“ in
seinem Herkunftsland zu verweisen, ist ebenfalls nicht auf Staatsangehörige
des Herkunftslandes beschränkt, sondern erfasst auch staatenlose Flüchtlinge.
c) Erfolg hat der Bundesbeauftragte aber mit der von ihm erhobenen Verfah-
rensrüge. Denn das Berufungsgericht ist seiner Begründungspflicht nach § 108
Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Frage einer den Verfolgungsschutz ausschließenden
Sicherheit der Klägerinnen in der Russischen Föderation nicht nachgekommen.
Das Berufungsgericht hat im Tatbestand des angefochtenen Urteils festgestellt,
dass die Klägerinnen aus der Russischen Föderation kommend nach Deutsch-
land eingereist sind (UA S. 2). Das Urteil gibt weiter das Vorbringen der Klägerin
zu 1 wieder, sie habe Aserbaidschan im Mai 1999 verlassen und sich nach
Saratov in der Russischen Föderation zu Bekannten der Familie ihres Lebens-
gefährten begeben. Wegen ihrer Erkrankung an Epilepsie sei sie etwa ein hal-
bes Jahr in der psychiatrischen Klinik in Engels gewesen. Auch in Saratov sei
sie - weil sie keine Papiere hatte - von der Polizei festgenommen und geschla-
gen worden. Man habe dort Armenier nicht gemocht. Sie habe schließlich mit
ihrer Tochter Saratov verlassen und sei am 5. März 2001 von Moskau nach
Frankfurt a.M. geflogen (UA S. 3). Der Bundesbeauftragte rügt zu Recht, dass
sich das Berufungsgericht in dem angegriffenen Urteil nicht mit dem (angebli-
chen) Aufenthalt der Klägerin zu 1 in der Russischen Föderation befasst und
namentlich nicht begründet hat, weshalb dort keine anderweitige Verfolgungssi-
cherheit bestand. In seinem Urteil vom 8. Februar 2005 hat der Senat entschie-
den, dass ein Ausländer keinen Anspruch auf Anerkennung als Flüchtling nach
§ 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG hat, wenn er in einem anderen Staat bereits
Schutz vor politischer Verfolgung gefunden hat und diesen Schutz weiterhin
erlangen kann (BVerwGE 122, 376, Leitsatz 2). Er hat damals im Falle einer
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aus Syrien stammenden Klägerin mit türkischer Staatsangehörigkeit ausgeführt,
das Berufungsgericht hätte prüfen und feststellen müssen, ob diese in Syrien
vor asylrelevanten Übergriffen tatsächlich sicher war und weiterhin sicher wäre
und ob sie nach Syrien zurückkehren könne (BVerwGE 122, 376 <388>). Es ist
im vorliegenden Fall nicht erkennbar, dass das Berufungsgericht von einer an-
deren Rechtsauffassung ausgegangen ist, nach der sich eine solche Prüfung
erübrigen würde. Danach hätte das Berufungsgericht die erforderlichen Fest-
stellungen zum vorgetragenen nahezu zweijährigen Aufenthalt der Klägerinnen
in Saratov treffen und begründen müssen, ob sie hierdurch Schutz vor Verfol-
gung in der Russischen Föderation gefunden haben, diesen weiterhin finden
können und ob sie wieder dorthin zurückkehren könnten. Das Unterlassen jegli-
cher Begründung, warum der erwähnte Aufenthalt dem Abschiebungsschutz
nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht entgegensteht, stellt einen Verstoß gegen
§ 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO dar.
Bei seiner erneuten Entscheidung im Rahmen des zurückverwiesenen Verfah-
rens wird das Berufungsgericht auch zu berücksichtigen haben, dass bei der
Prüfung einer inländischen Fluchtalternative jetzt auch Art. 8 der Richtlinie
2004/83/EG zu beachten ist, nachdem die Umsetzungsfrist für die Richtlinie ab-
gelaufen ist (vgl. Art. 38 Abs. 1).
Eckertz-Höfer Dr. Mallmann Prof. Dr. Dörig
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