Urteil des BVerwG vom 28.10.2005

Verfahrensmangel, Ausweisung, Inhaftierung, Unterlassen

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 97.05
VGH 11 S 1140/04
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 28. Oktober 2005
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht H u n d und R i c h t e r
beschlossen:
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Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der
Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-
Württemberg vom 22. Juni 2005 wird verworfen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5 000 €
festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO),
eine Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) und einen Verfahrensmangel (§ 132
Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg. Sie entspricht weitge-
hend schon nicht den Anforderungen an die Darlegung der geltend gemachten Zu-
lassungsgründe aus § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO.
1. Die Beschwerde rügt zunächst (unter II.1 der Beschwerdebegründung, S. 4 f.) die
Abweichung des Berufungsurteils von den Entscheidungen des Bundesverwaltungs-
gerichts vom 29. September 1998 - BVerwG 1 C 8.96 - (Buchholz 402.240 § 45
AuslG Nr. 16), vom 26. Februar 2002 - BVerwG 1 C 21.00 - (BVerwGE 116, 155) und
vom 28. Januar 1997 - BVerwG 1 C 17.94 - (Buchholz 402.240 § 48 AuslG Nr. 10).
Dieser Rechtsprechung widerspreche die der Berufungsentscheidung zugrunde
liegende Prämisse, nicht der Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung selbst, sondern
ein späterer Zeitpunkt sei für die Frage der Anwendbarkeit von Assoziationsrecht
maßgeblich. Das Berufungsgericht stelle in seiner Entscheidung für die Frage der
Anwendbarkeit von Assoziationsrecht (Recht aus Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich
ARB 1/80) maßgeblich auf die Tatsache ab, dass der Kläger nach seiner Haftentlas-
sung nicht beim gleichen Arbeitgeber weiter gearbeitet habe. Nach der Auffassung
des Berufungsgerichts sei also nicht das Bestehen eines Assoziationsrechts zum
Zeitpunkt der Ausweisung maßgeblich, sondern ob dieses Recht auch nach einer
erfolgten Ausweisung fortbestehe. Bei dieser Auslegung könnten sich privilegierte
Assoziationsfreizügige niemals auf den Schutz des Assoziationsrechts, insbesondere
aus Art. 14 ARB 1/80 berufen.
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Mit diesen und den weiteren Ausführungen zum Inhalt der nach Auffassung der Be-
schwerde abweichenden Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts ist die
behauptete Abweichung nicht dargetan. Eine die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2
VwGO eröffnende Divergenz ist nur dann im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO
hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die an-
gefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die
Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestell-
ten ebensolchen die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts tragenden
Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (vgl. Be-
schluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - NJW 1997, 3328 = Buchholz
310 § 133 VwGO n.F. Nr. 26 m.w.N.). Das Aufzeigen einer fehlerhaften oder unter-
bliebenen Anwendung von Rechtssätzen, die das Bundesverwaltungsgericht in sei-
ner Rechtsprechung aufgestellt hat, genügt weder den Zulässigkeitsanforderungen
einer Divergenz- noch denen einer Grundsatzrüge. Die Beschwerde erfüllt diese An-
forderungen nicht. Sie behauptet zwar eine Abweichung der berufungsgerichtlichen
Entscheidung von den zitierten Entscheidungen des erkennenden Senats, führt aber
keine einander widersprechenden Rechtssätze an. Die Beschwerde erkennt auch
nicht, dass die von ihr als entgegenstehend bezeichnete frühere Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts zum allgemein maßgeblichen Zeitpunkt für die ge-
richtliche Überprüfung von Ausweisungen türkischer Arbeitnehmer, die sich auf ein
Aufenthaltsrecht aus dem ARB 1/80 berufen können, überholt ist und insoweit eine
Divergenz im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO von vornherein ausscheidet. Mit
den von der Beschwerde beanstandeten Ausführungen weicht das Berufungsgericht
im Übrigen, wie klarstellend bemerkt wird, nicht von der Rechtsprechung des erken-
nenden Senats ab.
2. Die Beschwerde hält die Sache außerdem für grundsätzlich bedeutsam (Be-
schwerdebegründung unter II.2 a, S. 6 f.) hinsichtlich der Frage, ob ein Anspruch
nach Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 durch die Inhaftierung eines Asso-
ziationsfreizügigen untergeht. Die Beschwerde zeigt indessen nicht auf, dass die an-
gefochtene Entscheidung auf der Beantwortung dieser Rechtsfrage beruhen kann.
Der Verwaltungsgerichtshof hat nämlich ausdrücklich offen gelassen, welche Aus-
wirkungen die Haft auf die Rechtsposition des Klägers nach Art. 6 Abs. 1 erster
Spiegelstrich ARB 1/80 hatte (UA S. 15 f.), und seine Entscheidung darauf gestützt,
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dass dem Kläger "auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80
lediglich insoweit ein Aufenthaltsrecht" zugestanden habe, als es um "die Fortset-
zung des Arbeitsverhältnisses bei demselben Arbeitgeber" gegangen sei (UA S. 16).
Die von der Beschwerde aufgeworfene Frage würde sich daher in dem angestrebten
Revisionsverfahren nicht stellen.
3. Die weiter als grundsätzlich bedeutsam angesehene Frage (Beschwerdebegrün-
dung unter II.2 b, S. 7 ff.), ob "das Vorliegen der Voraussetzungen von Art. 8 EMRK
eine Verlagerung des für die Beurteilung einer Ausweisungsverfügung maßgeblichen
Zeitpunkts auf den in der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht"
gebietet, ist ebenfalls nicht geeignet, zur Zulassung der Revision zu führen. Auch
insoweit lässt die Beschwerde eine Auseinandersetzung mit den Entschei-
dungsgründen des angefochtenen Berufungsurteils vermissen. Die Beschwerde legt
insoweit auch nicht dar, inwiefern die Entscheidung des Berufungsgerichts von der
angesprochenen Rechtsfrage abhängen soll. Hiermit hätte sich die Beschwerde aber
schon deshalb näher befassen müssen, weil der Verwaltungsgerichtshof die Zeit-
punktfrage ausdrücklich aufgeworfen und letztlich mit (Hilfs-)Erwägungen dazu für
nicht entscheidungserheblich angesehen und offen gelassen hat (vgl. UA S. 22 f.).
4. Soweit die Beschwerde schließlich noch eine Verletzung des Rechtes auf den ge-
setzlichen Richter rügt, weil das Berufungsgericht eine Vorlage der "Frage, ob Art. 6
Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 aufgrund der Inhaftierung des Klägers unterge-
gangen ist" an den EuGH unterlassen habe, wird auch dieser angebliche Verfah-
rensmangel nicht schlüssig bezeichnet. Abgesehen davon, dass - wie oben bereits
ausgeführt - das Berufungsurteil auf der damit angesprochenen Frage nicht beruht,
verkennt die Beschwerde, dass eine Pflicht zur Einholung einer Vorabentscheidung
nach Art. 234 EG nur für das letztinstanzliche Hauptsachegericht, hier also das Bun-
desverwaltungsgericht und nicht das Berufungsgericht, besteht (vgl. BVerfGE 82,
159 <192 ff., 196>).
Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2
VwGO).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung
ergibt sich aus § 52 Abs. 2, § 72 Nr. 1 GKG.
Eckertz-Höfer Hund Richter
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