Urteil des BVerwG vom 27.01.2006

Schweizerische Asylrekurskommission, Hauptsache, Gefährdung, Gewährleistung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 89.05
VGH 14 B 02.30937
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 27. Januar 2006
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. M a l l m a n n und
Prof. Dr. D ö r i g
beschlossen:
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des
Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 30. Mai 2005 aufge-
hoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entschei-
dung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten in der Hauptsache bleibt der
Schlussentscheidung vorbehalten.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens
folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache.
G r ü n d e :
Die Beschwerde hat mit einer Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) Erfolg. Der
Kläger rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht seinen Anspruch auf Gewährung
rechtlichen Gehörs verletzt hat (Art. 103 Abs. 1 GG). Denn das Berufungsgericht hat
wesentliches Vorbringen des Klägers nicht in der gebotenen Weise zur Kenntnis ge-
nommen und erwogen.
Zwar ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Gerichte das Vorbringen der Be-
teiligten, wie es Art. 103 Abs. 1 GG vorschreibt, zur Kenntnis genommen und in Er-
wägung gezogen haben. Etwas anderes gilt aber, wenn besondere Umstände deut-
lich ergeben, dass das Gericht bestimmtes Vorbringen nicht berücksichtigt hat
(stRspr, vgl. etwa BVerfGE 86, 133, 145 f.). Das ist hier der Fall.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat auf die Ankündigung des Berufungsge-
richts, möglicherweise im Beschlusswege nach § 130 a VwGO zu entscheiden, in
dem von der Beschwerde zitierten Schriftsatz vom 1. März 2005 ausgeführt, aus den
vorliegenden Auskünften ergebe sich eine "massive Gefährdung" von Apostaten im
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Iran. Er hat sich insbesondere auf die in der Anlage zur Stellungnahme des UNHCR
übersandte Stellungnahme von Prof. Dr. S. von der Universität Zürich bezogen, aus
der sich ergebe, dass Apostasie mit dem Tode bedroht werde. Prof. Dr. S. hat in sei-
nem für die Schweizerische Asylrekurskommission am 28. März 2003 erstatteten
Gutachten, das dem Berufungsgericht vorlag, unter anderem ausgeführt:
"Nicht nur gemäß der schiitischen Auslegung des Islams sondern für alle
Moslems ist der Konvertit ein Ketzer, der für seine Apostasie mit dem Tod
bestraft werden muss. Die Rückschaffung von Herrn … in den Iran ist mit
dem Vollzug des Todesurteils gegen ihn gleichzusetzen."
Die Beschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht dieses Vorbringen des
Klägers sowie die von ihr zitierte Stellungnahme des Prof. Dr. S. nicht zur Kenntnis
genommen hat. Entsprechendes gilt für die vom Prozessbevollmächtigten in dem
bereits genannten Schriftsatz vom 1. März 2005 zitierten Aussagen im erstatteten
Gutachten des Deutschen Orient-Instituts, wonach Apostaten ungeachtet der Rege-
lung im staatlichen Recht regelmäßig andere Formen der Bestrafung zu gewärtigen
hätten (vgl. insbesondere S. 2 des erstatteten Gutachtens). Das Berufungsgericht
erwähnt die Stellungnahme von Prof. Dr. S. überhaupt nicht und die Ausführungen
des Deutschen Orient-Instituts nur insoweit, als es um die Gewährleistung des religi-
ösen Existenzminimums für Apostaten im Iran geht (BA S. 7). Im Rahmen seiner
Würdigung der Verfolgungsgefahr wegen der Apostasie beschränkt sich das Beru-
fungsgericht auf die Aussage, dass es an seiner ständigen Rechtsprechung festhalte,
wonach der Abfall vom islamischen Glauben im Iran kein Straftatbestand sei, son-
dern als religiöses und gesellschaftliches Fehlverhalten anzusehen sei, dass jedoch
erst bei einer über den bloßen Besuch öffentlicher Gottesdienste hinausgehenden,
öffentlichkeitswirksamen religiösen Betätigung oder bei missionierender Tätigkeit ei-
ne Gefährdung durch Dritte befürchten lasse (BA S. 5 bis 6). Das Berufungsgericht
verletzt das rechtliche Gehör des Klägers, indem es diese Feststellungen ohne Ein-
beziehung der erwähnten Stellungnahmen von Prof. Dr. S. und des Deutschen
Orient-Instituts trifft.
Auf die von der Beschwerde weiter geltend gemachte Aufklärungsrüge kommt es
nicht mehr entscheidend an. Allerdings bemerkt der Senat, dass gemäß § 60 Abs. 1
Satz 4 lit. c AufenthG auch Gefährdungen durch nichtstaatliche Akteure zu berück-
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sichtigen sind, der Gutachtenauftrag gemäß Beweisbeschluss des Berufungsgerichts
vom 12. Juli 2004 aber noch auf der Grundlage der bis zum Jahresende 2004 maß-
geblichen Rechtslage erging. Die erhobene Grundsatzrüge bleibt mangels hinrei-
chender Darlegungen zur Entscheidungserheblichkeit der aufgeworfenen Frage ohne
Erfolg. Sie zeigt insbesondere nicht auf, wieso es auf eine "europafreundliche" Aus-
legung des Begriffs der Religion im Sinne der am 29. April 2004 verabschiedeten und
bis 10. Oktober 2006 umzusetzenden Richtlinie 2004/83/EG für den Kläger ankommt.
Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit
Gebrauch, den Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsgericht zu-
rückzuverweisen.
Eckertz-Höfer
Dr. Mallmann
Prof. Dr. Dörig
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