Urteil des BVerwG vom 01.03.2006

Ausreise, Gefährdung, Existenzminimum, Wahrscheinlichkeit

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 85.05
OVG 2 A 114/03.A
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 1. März 2006
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r ,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. M a l l m a n n und die Richterin
am Bundesverwaltungsgericht B e c k
beschlossen:
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt
Bremen vom 16. März 2005 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entschei-
dung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten in der Hauptsache bleibt der
Schlussentscheidung vorbehalten.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens
folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache.
G r ü n d e :
Die zulässige Beschwerde der Beklagten hat mit der von ihr erhobenen Verfahrens-
rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 138 Nr. 3 VwGO,
Art. 103 Abs. 1 GG) Erfolg. Sie macht zu Recht geltend, dass das Berufungsgericht
wesentliches entscheidungserhebliches Vorbringen der Beklagten nicht ernsthaft in
Erwägung gezogen hat und das Berufungsurteil auf diesem Mangel beruhen kann.
1. Die von der Beschwerde erhobene Grundsatzrüge greift allerdings nicht durch.
Denn die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132
Abs. 2 Nr. 1 VwGO) ist nicht den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO ent-
sprechend dargetan.
Das Berufungsgericht hat den im Jahre 2001 aus Tschetschenien ausgereisten Klä-
gern Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG zugesprochen. Es ist dabei
von einer örtlich begrenzten Gruppenverfolgung tschetschenischer Volkszugehöriger
in Tschetschenien ausgegangen und hat eine inländische Fluchtalternative in den
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übrigen Gebieten der Russischen Föderation sowohl für den Zeitpunkt der Ausreise
als auch für den Zeitpunkt seiner Entscheidung verneint, weil die Kläger dort ein wirt-
schaftliches Existenzminimum nicht erlangen könnten; einer derartigen wirtschaftli-
chen Notlage seien sie an ihrem Herkunftsort in Tschetschenien in dem gewachse-
nen sozialen Beziehungsgeflecht so weder bei ihrer Ausreise ausgesetzt gewesen
noch wären sie ihr jetzt dort ausgesetzt.
Vor dem Hintergrund, dass mehrere andere Oberverwaltungsgerichte (Oberverwal-
tungsgericht Schleswig, Urteil vom 24. April 2003 - 1 LB 212/01 -, Oberverwaltungs-
gericht Weimar, Urteil vom 16. Dezember 2004 - 3 KO 1003/04 - , Verwal-
tungsgerichtshof München, Urteil vom 31. Januar 2005 - 11 B 02.31597 - ,
nunmehr auch Oberverwaltungsgericht Saarlouis, Urteil vom 23. Juni 2005 - 2 R
11.03 - und Oberverwaltungsgericht Münster, Urteil vom 12. Juli 2005 - 11 A
2307/03.A - ) eine inländische Fluchtalternative für Tschetschenen in anderen
Teilen der Russischen Föderation bejaht hätten, hält die Beklagte die Frage für
grundsätzlich klärungsbedürftig,
"ob es für die Bejahung einer in wirtschaftlicher Hinsicht zumutbaren inländi-
schen Fluchtalternative darauf ankommt, ob Binnenflüchtlinge rechtlich grund-
sätzlich abgesicherte Niederlassungsmöglichkeiten haben, oder ob die
Fluchtalternative erst dann bejaht werden kann, wenn die Registrierung und
Niederlassung tatsächlich überall (lückenlos) gewährleistet erscheint".
Damit wirft die Beschwerde indes keine der Klärung in einem Revisionsverfahren
zugängliche Rechtsfrage auf. Die Frage zielt nämlich nicht auf die rechtlichen Vor-
aussetzungen einer inländischen Fluchtalternative, sondern betrifft - auch nach den
weiteren Ausführungen der Beschwerde hierzu - in erster Linie die Bedingungen ei-
ner wirtschaftlichen Existenzgrundlage für tschetschenische Binnenflüchtlinge in der
Russischen Föderation. Das aber lässt sich nur aufgrund der dem Tatrichter vorbe-
haltenen Feststellung und Gesamtwürdigung der tatsächlichen Verhältnisse in der
Russischen Föderation beantworten und ist damit in Wahrheit letztlich eine Tatsa-
chenfrage, die sich einer verbindlichen Klärung im Revisionsverfahren entzieht.
2. Dagegen greift die von der Beschwerde erhobene Verfahrensrüge der Verletzung
des Anspruchs der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs durch. Die Beklag-
te bemängelt zu Recht, dass das Berufungsgericht sich in den Entscheidungsgrün-
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den nicht mit der von ihr im Berufungsverfahren vorgetragenen (Schriftsatz vom
21. November 2003, GA Bl. 119) anderslautenden Rechtsprechung des Oberverwal-
tungsgerichts Schleswig zur inländischen Fluchtalternative für Tschetschenen in den
übrigen Gebieten der Russischen Föderation auseinander gesetzt hat. In dem bereits
erwähnten einschlägigen Urteil des Oberverwaltungsgerichts Schleswig vom 24. April
2003 - 1 LB 212/01 - wird eine inländische Fluchtalternative für Tschetschenen
sowohl im Jahre 1999 als auch zum Zeitpunkt der Entscheidung im April 2003
generell bejaht, weil eine Gefährdung des wirtschaftlichen Existenzminimums in den
übrigen verfolgungsfreien Gebieten der Russischen Föderation nicht zu befürchten
sei und eine solche Gefährdung außerdem wegen der noch schlechteren wirtschaft-
lichen Bedingungen am Herkunftsort (Tschetschenien) unbeachtlich - weil nicht ver-
folgungsbedingt - wäre. Es ist auszuschließen, dass das Berufungsgericht die damit
ausdrücklich in Bezug genommenen tatrichterlichen Einschätzungen und Feststel-
lungen etwa wegen des Zeitablaufs und inzwischen vorliegender neuer Erkenntnisse
von vornherein als überholt ansehen durfte und angesehen hat, zumal es für die
Feststellung einer Vorverfolgung der Kläger maßgeblich auf die Verhältnisse zum
Zeitpunkt ihrer Ausreise im Jahre 2001 ankam. Die Tatsache, dass das Berufungs-
gericht auf dieses Vorbringen der Beklagten in den Urteilsgründen nicht eingegangen
ist und sich auch sonst nicht mit der abweichenden tatsächlichen und rechtlichen
Würdigung des anderen Oberverwaltungsgerichts befasst hat, lässt angesichts der
besonderen Umstände des vorliegenden Falles nur den Schluss zu, dass es dieses
Vorbringen nicht ernsthaft in Erwägung gezogen hat. Das verletzt den Anspruch der
Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs; zugleich liegt darin ein formeller Be-
gründungsmangel im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO.
Zwar ist die nach der Rechtsprechung des Senats gebotene Auseinandersetzung mit
der abweichenden Würdigung verallgemeinerungsfähiger Tatsachen im Asylrechts-
streit durch andere Oberverwaltungsgerichte grundsätzlich Teil der dem materiellen
Recht zuzuordnenden Sachverhalts- und Beweiswürdigung, so dass eine fehlende
Auseinandersetzung mit abweichender obergerichtlicher Rechtsprechung als solche
in aller Regel nicht als Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ge-
rügt werden kann (stRspr; vgl. Beschlüsse vom 2. November 1995 - BVerwG 9 B
710.94 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO Nr. 13 und vom 6. Dezember 1995
- BVerwG 9 B 525.95 - ). Etwas anderes muss jedoch dann gelten, wenn sich
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ein Beteiligter - wie hier - einzelne tatrichterliche Feststellungen eines Oberverwal-
tungsgerichts als Parteivortrag zu Eigen macht und es sich dabei um ein zentrales
und entscheidungserhebliches Vorbringen handelt. Geht das Berufungsgericht hier-
auf in den Urteilsgründen nicht ein und lässt sich auch sonst aus dem gesamten Be-
gründungszusammenhang nicht erkennen, dass und in welcher Weise es diesen
Vortrag zur Kenntnis genommen und erwogen hat, liegt in der unterlassenen Ausei-
nandersetzung mit der Rechtsprechung eines anderen Oberverwaltungsgerichts
ausnahmsweise auch ein rügefähiger Verfahrensmangel (vgl. in diesem Sinne schon
Beschluss vom 21. Mai 2003 - BVerwG 1 B 298.02 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG
Nr. 270).
Wie die Beschwerde zutreffend darlegt, kann die Entscheidung auf dem gerügten
Gehörsverstoß auch beruhen, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Be-
rufungsgericht bei der gebotenen Auseinandersetzung mit den Ausführungen in dem
Urteil des Oberverwaltungsgerichts Schleswig zu einer anderen Entscheidung ge-
langt wäre. Auf die von der Beklagten erhobene weitere Verfahrensrüge kommt es
danach nicht mehr an.
3. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit
Gebrauch, den Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsgericht zu-
rückzuverweisen.
Bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung wird das Berufungsgericht sich
auch mit den inzwischen ergangenen weiteren oberverwaltungsgerichtlichen Urteilen
befassen müssen, die eine inländische Fluchtalternative für Tschetschenen in ande-
ren Gebieten der Russischen Föderation für den Regelfall angenommen haben. Da-
bei wird es auch darauf achten müssen, bei der Beurteilung der Gefährdung des wirt-
schaftlichen Existenzminimums am Ort der inländischen Fluchtalternative den
richtigen Prognosemaßstab anzulegen. Eine derartige Gefahr muss nämlich im Zeit-
punkt der Ausreise nach der ständigen Rechtsprechung mit beachtlicher Wahr-
scheinlichkeit drohen; dagegen ist nicht - wie das Berufungsgericht meint (vgl. etwa
die Formulierung UA S. 29) - zu prüfen, ob das erforderliche wirtschaftliche Exis-
tenzminimum mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gewährleistet war. Schließlich wird
das Berufungsgericht auch Gelegenheit haben, auf die mit der weiteren Verfahrens-
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rüge erhobenen Einwände der Beklagten gegen die Annahme, dass die wirtschaftli-
chen Verhältnisse der Kläger in Tschetschenien wegen ihrer dortigen "sozialen Kon-
takte" besser seien als in der übrigen Russischen Föderation, einzugehen. Der Senat
weist auch darauf hin, dass das Berufungsgericht bei seinen Ausführungen zum
Existenzminimum in der Russischen Föderation (UA S. 24 bis 29) zwar im Obersatz
ein solches verneint, im Folgenden aber keine eindeutige Subsumtion anhand der
getroffenen Feststellungen mehr vorgenommen hat.
Eckertz-Höfer
Dr. Mallmann
Beck