Urteil des BVerwG vom 01.11.2004

Gefahr, Familie, Leib, Verwertung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 80.04
VGH 6 UE 3933/00.A
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 1. November 2004
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. M a l l m a n n und R i c h t e r
beschlossen:
Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Re-
vision in dem Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs
vom 4. Februar 2004 wird zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
G r ü n d e :
Die auf Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde kann
keinen Erfolg haben.
Die Beschwerde macht zunächst der Sache nach geltend, das Berufungsgericht ha-
be die Angaben des in der mündlichen Verhandlung vom 4. Februar 2004 gehörten
Zeugen A.T. nicht vollständig berücksichtigt. Dieser habe u.a. angegeben, der Kläger
und sein Bruder M.A. befänden sich auf der Liste, auf der wegen politischer Strafta-
ten gesuchte Personen verzeichnet seien. Der Zeuge habe weiter bekundet, er sei
"wegen der Suche nach Angehörigen der Familie A. zur Oberstaatsanwaltschaft
nach Bingöl geladen worden". Außerdem habe er angegeben, die türkischen Behör-
den wüssten, "dass der Bruder des Klägers bei der PKK war". Hätte das Berufungs-
gericht die Ausführungen in vollem Umfang zur Kenntnis genommen, so hätte es der
Beschwerde zufolge entscheiden müssen, ob der Bruder eines als Guerillamitglied
landesweit Gesuchten der Gefahr eigener Verfolgung unterliege; dabei wäre es zu
dem Ergebnis gekommen, dass "mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine Verfol-
gungsgefahr im Rahmen der Einreisekontrollen bei dem Kläger zu 1" bestehe.
Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, die die Beschwerde mit diesem Vorbringen
sinngemäß geltend macht, kann indessen nur festgestellt werden, wenn sich die
mangelnde Kenntnisnahme entscheidungserheblichen tatsächlichen Vorbringens aus
besonderen Umständen des Falles deutlich ergibt. Solche Umstände zeigt die
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Beschwerde weder auf noch sind sie sonst ersichtlich. Der Sache nach greift die Be-
schwerde die Tatsachen- und Beweiswürdigung des Berufungsgerichts an. Mit An-
griffen gegen die Sachverhalts- und Beweiswürdigung der Tatsacheninstanz kann
jedoch ein Verfahrensmangel grundsätzlich nicht begründet werden, da Fehler in der
Sachverhalts- und Beweiswürdigung revisionsrechtlich regelmäßig nicht dem Verfah-
rensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzurechnen sind (vgl. Beschluss vom
2. November 1995 - BVerwG 9 B 710.94 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 266). So
liegt es hier. Im Übrigen zeigt die Beschwerde nicht auf, inwiefern den Angaben des
Zeugen A.T., er sei wegen der Suche nach Angehörigen der Familie des Klägers zur
Oberstaatsanwaltschaft nach Bingöl geladen worden, entnommen werden kann,
dass nach dem Bruder des Klägers in der Türkei landesweit gesucht wird. Soweit die
Beschwerde aus den genannten Angaben des Zeugen auf "behördliche Verfahren
außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Gendarmerie im örtlichen Bereich"
schließt, ist nicht dargetan, dass damit eine über die Heimatregion des Klägers hi-
nausgehende Suche verbunden ist. Ebenso wenig macht die Beschwerde ersichtlich,
inwiefern die Gefahr einer landesweiten Suche aus den Angaben des Zeugen folgt,
der Name des Bruders des Klägers habe sich "auf einer Liste der wegen Un-
terstützung und Gewährung von Unterschlupf - also politischer Straftaten - gesuchten
Personen" befunden (vgl. Verhandlungsniederschrift des Berufungsgerichts vom
4. Februar 2004, S. 5).
Ohne Erfolg macht die Beschwerde weiter geltend, das Berufungsgericht habe den
Inhalt der psychologischen Stellungnahme vom 22. Oktober 2001 "offenkundig ver-
kannt bzw. nicht zur Kenntnis genommen". Soweit in der Stellungnahme von einer
"suizidalen Gefährdung" die Rede sei, handele es sich um ein Krankheitssymptom
und nicht um eine Aussage, wie sich der Kläger zu 1 im Falle einer Abschiebung
verhalten werde. Das Krankheitsbild stelle mithin entgegen der Ansicht des Beru-
fungsgerichts ein zielstaatsbezogenes Krankheitsbild dar.
Auch insoweit zeigt die Beschwerde keine besonderen Umstände auf, aus denen
sich ergibt, dass das Berufungsgericht den Inhalt der psychologischen Stellungnah-
me vom 22. Oktober 2001 nicht zur Kenntnis genommen hat. In Wahrheit greift die
Beschwerde auch hier die den Tatsachengerichten vorbehaltene Feststellung und
Würdigung des Sachverhalts an, ohne einen Gehörsverstoß schlüssig darzulegen.
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Dies gilt auch, soweit die Beschwerde sich gegen die Ausführungen des Berufungs-
gerichts wendet, dass in der Türkei zwar für psychisch Kranke, die an einer post-
traumatischen Belastungsstörung litten, keine weiterführenden Therapien angeboten
würden, bei dem Kläger zu 1 aber nicht erkennbar sei, dass bei einem Abbruch der
Therapie eine Verschlechterung dergestalt eintrete, dass eine konkrete Gefahr für
Leib und Leben bestünde; auch insoweit habe das Berufungsgericht die erwähnte
psychologische Stellungnahme nicht zur Kenntnis genommen. Die Beschwerde setzt
sich in diesem Zusammenhang nicht - wie erforderlich - substantiiert mit den Erwä-
gungen des Berufungsgerichts auseinander, mit denen dieses unter Verwertung ihm
vorliegender Erkenntnismittel verneint, dass für den Kläger zu 1 im Falle einer Rück-
kehr in die Türkei eine konkrete Gefahr für Leib und Leben bestünde (UA S. 21 f.).
Schließlich sind hinsichtlich der Kläger zu 2 und 3 Zulassungsgründe nicht dargetan.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden
gemäß § 83 b Abs. 1 AsylVfG a.F. (= § 83 b AsylVfG in der Fassung des Kosten-
rechtsmodernisierungsgesetzes vom 5. Mai 2004, BGBl I S. 718) nicht erhoben; der
Gegenstandswert ergibt sich aus § 83 b Abs. 2 AsylVfG a.F. (vgl. § 60 RVG).
Eckertz-Höfer
Dr. Mallmann
Richter