Urteil des BVerwG vom 04.08.2014

Verschlechterung des Gesundheitszustandes, Härte, Verfahrensrecht

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 8.14
OVG 2 B 12.12
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 4. August 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rudolph
beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts
Berlin-Brandenburg vom 27. Februar 2014 wird zurückge-
wiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
Der - allein geltend gemachte - Zulassungsgrund einer grundsätzlichen Bedeu-
tung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor.
Grundsätzlich bedeutsam im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine
Rechtssache nur dann, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klä-
rung einer bisher höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der
Beschwerde zugrunde liegenden Einzelfall hinausgehenden, entscheidungser-
heblichen und klärungsbedürftigen Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137
Abs. 1 VwGO) zu erwarten ist (stRspr, Beschluss vom 8. Oktober 2012
- BVerwG 1 B 18.12 - Buchholz 402.242 § 54 AufenthG Nr. 13 Rn. 2). Diese
Voraussetzungen liegen hier nicht vor.
1. Die Frage, „ob der über Artikel 4 Abs. 2 lit. a FamZRL begünstigte Personen-
kreis (vorliegend die Mutter zu ihrer erwachsenen Tochter) im Sinne des § 36
Abs. 2 Satz 1 AufenthG privilegiert ist, so dass in diesem Falle von einer außer-
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gewöhnlichen Härte auszugehen ist“, würde sich in einem Revisionsverfahren
auch dann nicht stellen, wenn unterstellt wird, dass die Richtlinie überhaupt an-
wendbar sei. Denn das Berufungsgericht (UA S. 11, 19) hat mit Blick darauf,
dass die Klägerin in ihrem Heimatland mit ihrer Schwester und ihrem Neffen
zusammenlebe, bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen des optionalen
Zusammenführungstatbestandes des Art. 4 Abs. 2 lit. a Richtlinie 2003/86/EG
verneint, dass der nachzugswillige Elternteil in seinem Herkunftsstaat keinerlei
sonstige familiäre Bindungen mehr haben dürfe. Diese tatsächliche Feststel-
lung, die die Beschwerde nicht mit Verfahrensrügen angegriffen hat, bindet den
Senat (§ 137 Abs. 2 VwGO). Für eine überschießende Umsetzung in das natio-
nale Recht, nach der bei den in Art. 4 Abs. 2 lit. a Richtlinie 2003/86/EG ge-
nannten Personen unabhängig von den in der Richtlinie genannten Vorausset-
zungen stets eine „außergewöhnliche Härte“ im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1
AufenthG auszugehen sei, fehlt jeder Anhalt; sie ist nach den Voraussetzungen,
die in der Rechtsprechung des Senats für den Nachzug sonstiger Familienan-
gehöriger in Fällen außergewöhnlicher Härte geklärt sind (Urteile vom 10. März
2011 - BVerwG 1 C 7.10 - Buchholz 402.242 § 7 AufenthG Nr. 5 Rn. 10 und
vom 18. April 2013 - BVerwG 10 C 10.12 - BVerwGE 146, 198 = Buchholz
402.242 § 2 AufenthG Nr. 7, jeweils Rn. 37 ff.) auszuschließen.
2. Im Hinblick auf die von der Klägerin aufgeworfene Frage, „ob das erkennen-
de Gericht bei Vorliegen eines medizinischen Sachverständigengutachtens eine
von diesem abweichende, eigene Bewertung zu dem Beweisthema vornehmen
kann, ob ein Autonomieverlust im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG an-
zunehmen ist“, fehlt es bereits an einer (den Anforderungen des § 133 Abs. 3
Satz 3 VwGO entsprechenden) Darlegung, inwiefern es sich hierbei um eine
fallübergreifend zu beantwortende Rechtsfrage handelt. Mit der angeblich feh-
lerhaften Bewertung der ärztlichen Atteste im vorliegenden Einzelfall lässt sich
eine rechtsgrundsätzliche Bedeutung nicht begründen. Die Beantwortung der
Frage hängt von den tatsächlichen Umständen des konkreten Einzelfalls ab,
insbesondere der Würdigung der vorliegenden ärztlichen Atteste und Gutachten
betreffend den psychischen Gesundheitszustand der Klägerin.
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Unter welchen Voraussetzungen die Angewiesenheit eines älteren Menschen
auf familiäre Hilfe eine außergewöhnliche Härte im Sinne von § 36 Abs. 2
Satz 1 AufenthG darstellen kann, hat das Bundesverwaltungsgericht im Übrigen
in seinem Urteil vom 18. April 2013 (a.a.O. jeweils Rn. 38) näher dargelegt.
3. Die Revision ist insoweit auch nicht wegen eines allenfalls sinngemäß gel-
tend gemachten Verfahrensmangels (§ 108 VwGO) zuzulassen.
Soweit die Beschwerde die vom Berufungsgericht vorgenommene Würdigung
der vorliegenden ärztlichen Atteste und Gutachten als unzutreffend und nicht
mehr von einer freien Beweiswürdigung gedeckt beanstandet, greift sie der Sa-
che die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Berufungsgerichts an. Fehler
in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung sind aber nach ständiger Recht-
sprechung revisionsrechtlich regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern
dem sachlichen Recht zuzurechnen (vgl. etwa Beschluss vom 19. Oktober 1999
- BVerwG 9 B 407.99 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 11 m.w.N.). Ein
Verfahrensverstoß kann ausnahmsweise u.a. dann in Betracht kommen, wenn
die Beweiswürdigung objektiv willkürlich ist, gegen Denkgesetze verstößt oder
allgemeine Erfahrungssätze missachtet (vgl. etwa Beschlüsse vom 16. Juni
2003 - BVerwG 7 B 106.02 - NVwZ 2003, 1132 <1135> m.w.N., vom 17. Mai
2011 - BVerwG 8 B 88.10 - juris und vom 10. Oktober 2013 - BVerwG 10 B
19.13 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO Nr. 67). Dass die angefochte-
ne Entscheidung derartige Mängel aufweist, macht die Beschwerde zwar gel-
tend, legt dies indes nicht in einer Weise dar, die den Anforderungen des § 133
Abs. 3 Satz 3 VwGO genügt.
Das Berufungsgericht hat sich eingehend mit den vorgelegten Attesten
auseinandergesetzt und dargelegt, dass und aus welchen Gründen sie nicht
belegen könnten, dass bei der Klägerin nicht von einer depressiven Erkrankung
mit erheblichen Auswirkungen auf die Fähigkeit zur eigenständigen Lebensfüh-
rung oder dem Risiko einer alsbaldigen Verschlechterung des Gesundheitszu-
standes ausgegangen werden könne. Das hiergegen gerichtete Vorbringen der
Beschwerde lässt eine als Verfahrensfehler zu bewertende Verletzung des
§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht einmal ansatzweise erkennen. Zu seiner
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eigenständigen Bewertung des Aussagegehalts der Atteste war das Berufungs-
gericht aufgrund eigenen Sachverstands und somit ohne weitere Sachverhalts-
aufklärung befugt. Den Gerichten ist es zwar regelmäßig verwehrt, eigene me-
dizinische Bewertungen, etwa zur Schwere und zum Ausmaß einer psychi-
schen Erkrankung vorzunehmen, ohne die hierfür erforderliche Sachkunde zu
besitzen (Beschluss vom 28. März 2006 - BVerwG 1 B 91.05 - Buchholz
402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 12). Die Würdigung ärztlicher Atteste in-
des ist eine sich in der verwaltungsgerichtlichen Praxis immer wieder stellende
Aufgabe; aufgrund der dadurch gewonnenen Erfahrungen ist ein Gericht regel-
mäßig befähigt, ein ärztliches Attest jedenfalls insoweit zu würdigen, als es um
die Mindestanforderungen an die Verwertbarkeit ärztlicher Stellungnahmen
oder die Differenzierung zwischen Symptomen und Diagnosen und die ihm in-
soweit zukommende Aussagekraft geht (Beschluss vom 12. März 2004
- BVerwG 6 B 2.04 - juris). Die vom Berufungsgericht dafür benannten Gründe,
dass die Stellungnahme des Psychiaters Dr. L. vom 30. Dezember 2011 nicht
den formalen Mindestanforderungen an die Verwertbarkeit ärztlicher Stellung-
nahmen genüge und daher eine depressive Erkrankung der Klägerin nicht be-
lege, wahren den Wertungsrahmen, der dem Tatrichter durch den Grundsatz
freier Beweiswürdigung eröffnet ist, und enthalten keinen Verstoß gegen Denk-
gesetze, die Gebote, bei der Sachverhalts- und Beweiswürdigung das gesamte
Ergebnis des Verfahrens zugrunde zu legen, keinen entscheidungserheblichen
Sachverhalt zu übergehen und auch keine aktenwidrigen Tatsachen heranzu-
ziehen oder sonstige Grundsätze richterlicher Überzeugungsbildung.
4. Auch dem übrigen Vorbringen der Klägerin lässt sich keine bestimmte
abstrakte, klärungsbedürftige Rechtsfrage zu einer Norm des revisiblen Rechts
entnehmen.
Soweit die Klägerin vorträgt, eine grundsätzliche Bedeutung der vorliegenden
Sache folge bereits aus den divergierenden Rechtsauffassungen von Verwal-
tungsgericht und Oberverwaltungsgericht, geht diese Auffassung fehl. Der Um-
stand, dass die Instanzgerichte eine Rechtsfrage unterschiedlich beantworten
(„Difformität“), macht diese aus Sicht des Revisionsgerichts noch nicht klä-
rungsbedürftig (Czybulka, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, § 132
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Rn. 57). Überdies haben Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht auf
der Grundlage eines im Kern übereinstimmenden rechtlichen Ansatzes lediglich
den Sachverhalt, insbesondere die Betreuungssituation und die zum Gesund-
heitszustand vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen und Atteste, unterschied-
lich bewertet.
5. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2
Halbs. 2 VwGO).
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfest-
setzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 2, § 52 Abs. 2 GKG.
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