Urteil des BVerwG vom 19.07.2012

Rechtliches Gehör, Familie, Arabisch, Überzeugung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 8.12
OVG 11 LB 530/10
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 19. Juli 2012
durch die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig
und Dr. Maidowski
beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Niedersächsischen Ober-
verwaltungsgerichts vom 26. Januar 2012 wird zurückge-
wiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde, die ausschließlich auf den Verfahrensmangel der Verletzung
rechtlichen Gehörs (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 108 Abs. 2 VwGO) gestützt ist,
hat keinen Erfolg.
Die Klägerin wurde 1984 in Beirut geboren. Sie reiste mit ihrem Vater, seiner
Ehefrau und mehreren Geschwistern 1985 nach Deutschland ein; ein Asylan-
trag mit der Behauptung, ihrem Vater drohe im Libanon Verfolgung als staaten-
loser Kurde, blieb erfolglos. Aufgrund einer niedersächsischen Bleiberechtsre-
gelung wurden der Klägerin seit 1990 befristete Aufenthaltstitel erteilt. Im Sep-
tember 2007 beantragte sie die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis. Der
Beklagte lehnte dies ab, weil die Klägerin die Passpflicht (§ 5 Abs. 1 Nr. 4
AufenthG) nicht erfüllt habe, obwohl sich inzwischen herausgestellt habe, dass
sie wie ihr Vater türkische Staatsangehörige sei und einen Pass deshalb erlan-
gen könne. Das Verwaltungsgericht verpflichtete den Beklagten zur Neube-
scheidung des Antrags, das Oberverwaltungsgericht wies die Klage unter Ände-
rung der erstinstanzlichen Entscheidung ab.
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Mit ihrer Beschwerde rügt die Klägerin die Verletzung ihres Rechts auf Gewäh-
rung rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO). Das Oberverwaltungsgericht
habe sich für seine Feststellungen zur Identität und Staatsangehörigkeit der
Klägerin und ihres Vaters auf tatsächliche Erkenntnisse gestützt, die nicht ord-
nungsgemäß in das Verfahren eingeführt worden seien und zu denen sie des-
halb vor Erlass des Urteils nicht habe Stellung nehmen können. Es habe für
seine Annahme, die Klägerin gehöre wie ihr Vater einer kurdisch-arabischen
Großfamilie an, deren Mitglieder mit unzutreffenden Behauptungen ein Aufent-
haltsrecht in Deutschland erlangt hätten, im angegriffenen Urteil lediglich eine
Reihe von Senatsentscheidungen benannt, ohne ihr diese zuvor zugänglich
gemacht zu haben.
Mit dieser Rüge ist jedoch ein Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3
VwGO, der zur Zulassung der Revision führen könnte, nicht dargetan. Denn die
Berufungsentscheidung beruht nicht auf dem von der Beschwerde zutreffend
benannten Verstoß gegen § 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG. Vielmehr
hat das Oberverwaltungsgericht seine Annahme, die Klägerin sei nicht staaten-
los, sondern türkische Staatsangehörige, entscheidungstragend auf die Anga-
ben der Klägerin zu ihrem Vater und Großvater gestützt: Danach steht fest,
dass der Großvater der Klägerin die türkische Staatsangehörigkeit besessen
hat und dass der Vater der Klägerin und seine Familie zu der jedenfalls ur-
sprünglich im Gebiet um Ückavack angesiedelten Großfamilie Tek gehören.
Gegen diese beiden tatsächlichen Feststellungen - die u.a. auch die Annahme
beinhalten, dass der Großvater der Klägerin nach seiner Übersiedlung nicht
ausgebürgert worden ist - hat die Klägerin Verfahrensrügen nicht vorgebracht,
so dass der Senat an sie gebunden ist (§ 137 Abs. 2 VwGO). Auch gegen die
weitere tatsächliche Feststellung, dass die Klägerin ebenso wie ihr Vater die
türkische Staatsangehörigkeit in einer derartigen Situation nach türkischem
Recht erlangt hat, sind Verfahrensrügen nicht erhoben worden. Allein auf diese
Feststellungen hat das Berufungsgericht seine Entscheidung gestützt, der Klä-
gerin stehe ein Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis wegen
Verstoßes gegen die Passpflicht (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) nicht zu, weil sie
als türkische Staatsangehörige ohne Weiteres die Ausstellung entsprechender
Papiere erreichen könne (UA S. 11 ff.).
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Demgegenüber hat das Berufungsgericht den Namen und die Identität des
Großvaters der Klägerin letztlich offengelassen, weil es für den Rechtsstreit
nicht hierauf, sondern allein auf den Umstand ankomme, dass der Großvater
die türkische Staatsangehörigkeit besessen habe (UA S. 11, 13). Aus den tat-
sächlichen Feststellungen, die in den von der Beschwerde in Bezug genomme-
nen Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts vom 26. Februar 2009,
10. Juni 2008 und 27. September 2007 enthalten sind, leitet das Berufungsge-
richt für die Staatsangehörigkeit der Klägerin, ihres Vaters und Großvaters
nichts ab. Sie sollen lediglich die Annahme des Gerichts stützen, dass es zwi-
schen 1985 und 1990 zahlreiche Fälle gegeben habe, in denen Angehörige
arabisch-kurdischer Großfamilien in Deutschland mit der unzutreffenden Be-
hauptung, staatenlos zu sein, um Asyl nachgesucht hätten, um ein Bleiberecht
zu erlangen (UA S. 12). Diese Annahme zu einem typischen Geschehensablauf
wäre zwar geeignet, die Plausibilität der entscheidungstragenden Feststellun-
gen über die - zur Überzeugung des Berufungsgerichts ohnehin feststehenden -
Staatsangehörigkeit der Klägerin und ihres Vaters zu stützen. Dies ändert je-
doch nichts daran, dass die von der Beschwerde benannten tatsächlichen Fest-
stellungen in den vom Berufungsgericht zitierten Entscheidungen für die Fest-
stellung der Staatsangehörigkeit der Klägerin nicht erheblich sind, sondern die-
se lediglich ergänzen.
Zur Klarstellung merkt der Senat allerdings an, dass die Praxis des Berufungs-
gerichts, sich für tatsächliche Feststellungen auf Erkenntnisse „aus einer Viel-
zahl von Verfahren“ zu stützen, ohne diese zuvor ordnungsgemäß in das Ver-
fahren eingeführt zu haben, einen Verstoß gegen § 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103
Abs. 1 GG darstellt. Denn die Verfahrensbeteiligten müssen die Möglichkeit
haben, alle Erkenntnisquellen, auf die sich das Gericht stützen will, vor der Ent-
scheidung zur Kenntnis zu nehmen, um sich ggf. mit ihnen auseinandersetzen
und Einwände anbringen zu können (stRspr, Urteil vom 22. März 1983
- BVerwG 9 C 860.82 - BVerwGE 67, 83). Dies gilt im Hinblick auf die Schwie-
rigkeiten, Tatsachenfeststellungen mit Bezug zu Auslandssachverhalten zu tref-
fen, in besonderem Maße für flüchtlingsrechtliche und ggf. auch für aufenthalts-
rechtliche Verfahren. Zu den Erkenntnisquellen in diesem Sinne zählen in erster
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Linie Gutachten, Länderberichte und ähnliche Dokumente, auf die die Verfah-
rensbeteiligten üblicherweise durch Aufstellung und Übersendung von Erkennt-
nismittellisten hingewiesen werden. Will das Gericht Erkenntnisquellen aus an-
deren Verfahren verwenden, so muss es den Beteiligten auch dies vorab mittei-
len und ihnen rechtliches Gehör einräumen, selbst wenn die Verfahren den Be-
teiligten bekannt sein sollten (Beschluss vom 3. Mai 2002 - BVerwG 4 B 1.02 -
juris). Jedenfalls dann, wenn ein Gericht sich für seine tatsächlichen Feststel-
lungen nicht nur auf derartige Quellen stützen, sondern lediglich die Sachver-
halte vergleichbarer Fälle, wie sie in Gerichtsentscheidungen als zur Überzeu-
gung des Gerichts feststehend wiedergegeben werden, verwerten und aus ih-
nen Schlussfolgerungen ableiten will, sind auch diese Sachverhalte und damit
die jeweils betroffenen Gerichtsentscheidungen Erkenntnismittel, die den Betei-
ligten vorab mitgeteilt werden müssen.
So liegt es hier. Das Berufungsgericht zitiert in dem angegriffenen Urteil insge-
samt 19 Entscheidungen, von denen lediglich wenige veröffentlicht sind; auf
keine dieser Entscheidungen sind die Beteiligten vorab hingewiesen worden. In
diesen Entscheidungen werden - soweit dies bei den drei in der Datenbank juris
und auf der Homepage des Berufungsgerichts veröffentlichten Entscheidungen
ersichtlich ist - keine Erkenntnisquellen zu tatsächlichen Feststellungen zitiert.
Vielmehr leitet das Berufungsgericht aus den Sachverhalten der mitgeteilten
Entscheidungen die Schlussfolgerung ab, es habe in der Zeit zwischen 1985
und 1990 einen typischen Geschehensablauf gegeben, nämlich die Zuwande-
rung von Mitgliedern arabisch-kurdischer Großfamilien nach Deutschland, die
mit unzutreffenden Behauptungen ein Bleiberecht erlangt hätten. Den Beteilig-
ten des Verfahrens hätte Gelegenheit gegeben werden müssen, zu diesen ih-
nen nicht mitgeteilten Entscheidungen vorab Stellung zu nehmen, um dem Ein-
druck entgegenwirken zu können, der Vater der Klägerin habe sich als Mitglied
einer solchen Familie ebenso verhalten. Der damit vorliegende Verstoß gegen
das Recht der Klägerin auf rechtliches Gehör hat sich, wie ausgeführt, im vor-
liegenden Verfahren allerdings nicht ausgewirkt, da die entscheidungstragen-
den Feststellungen zur Staatsangehörigkeit der Klägerin allein auf deren Anga-
ben zur Staatsangehörigkeit ihres Vaters und Großvaters beruhen.
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Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2
Halbs. 2 VwGO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestset-
zung ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3 sowie aus § 52 Abs. 2 GKG.
Eckertz-Höfer
Prof. Dr. Dörig
Dr. Maidowski
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