Urteil des BVerwG vom 17.01.2006

Irak, Existenzminimum, Gefährdung, Gefahr

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 77.05
VGH 23 B 05.30189
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. Januar 2006
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. M a l l m a n n und
Prof. Dr. D ö r i g
beschlossen:
Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Re-
vision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs
vom 30. Mai 2005 wird verworfen.
Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
G r ü n d e :
Die Beschwerde ist unzulässig. Sie legt die geltend gemachten Zulassungsgründe
nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden Weise
dar.
1. Die Beschwerde hält die Frage für grundsätzlich bedeutsam,
"ob und inwieweit die Kriterien des § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. b AufenthG zur
nicht staatlichen Verfolgung auch entsprechend anzuwenden sind auf die
Frage der Staatlichkeit der Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG in
Verbindung mit Art. 3 Europäische Konvention zum Schutze der Menschen-
rechte und Grundfreiheiten (EMRK)".
Sie hält die vom Berufungsgericht vertretene Auffassung für falsch, dass trotz der
Aufnahme der nichtstaatlichen Verfolgung in den Katalog der Verfolgungstatbestände
nach Art. 60 Abs. 1 AufenthG dies ohne Folgen für die Auslegung des § 60 Abs. 5
AufenthG bleibe. Die aufgeworfene Rechtsfrage sei vom Bundesverwaltungsgericht
noch nicht entschieden und für eine Vielzahl von Verfahren entscheidungserheblich.
Mit diesem Vorbringen wird eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sin-
ne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht aufgezeigt. Die Beschwerde legt schon die
Entscheidungserheblichkeit der als klärungsbedürftig bezeichneten Frage nicht dar.
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Sie geht nicht auf die Umstände des zu entscheidenden Falles und die tatsächlichen
Feststellungen des Berufungsgerichts hierzu ein. Sie zeigt insbesondere nicht auf,
dass ein durch § 60 Abs. 5 AufenthG geschütztes Rechtsgut im Falle der Abschie-
bung der Kläger bedroht wäre und dass eine solche Bedrohung von einem der in
§ 60 Abs. 1 Satz 4 lit b AufenthG genannten Akteure ausginge. So setzt sich die Be-
schwerde auch nicht damit auseinander, dass der Verwaltungsgerichtshof im Rah-
men der Prüfung des Auffangtatbestandes des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, bei dem
gerade auch von Privatpersonen ausgehende Gefährdungen (vgl. zu § 53 Abs. 6
AuslG schon Urteil vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 - BVerwGE 99, 324
<330> ) in den Blick zu nehmen sind - ausdrücklich ausgeführt hat, es sei "nichts
dafür ersichtlich, dass für die Kläger eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben
oder für Freiheit besteht …, kehrten sie derzeit in den Irak zurück" (UA S. 14). Der
Beschwerde kann nicht entnommen werden, warum diese tatrichterliche Würdigung
der Sachlage im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG anders ausfallen müsste, wenn
es dort neben staatlicher und quasi-staatlicher Verfolgung auch auf diejenige privater
Akteure ankäme (vgl. hierzu und zum Folgenden auch Beschluss vom 27. Oktober
2005 - BVerwG 1 B 47.05).
2. Die Beschwerde hält weiter für rechtsgrundsätzlich bedeutsam,
"ob die - in Kraft getretene aber noch nicht umgesetzte - EU-Richtlinie
2000/83 (gemeint: 2004/83) vom 29.04.2004 bereits jetzt eine Wirkung ent-
falten kann und auch zum jetzigen Zeitpunkt schon geprüft werden muss".
Sie bezieht sich auf ein Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften
(EuGH), wonach die Mitgliedstaaten während des Laufs der Umsetzungsfrist einer
Richtlinie gehindert seien, Vorschriften zu erlassen, die geeignet wären, die Errei-
chung des in der Richtlinie beschriebenen Zieles ernstlich in Frage zu stellen. Im Üb-
rigen seien sie während des Laufs der Umsetzungsfrist auch gehalten, die einzelnen
Normen der nationalen Gesetzgebung richtlinienkonform und europafreundlich aus-
zulegen. Die Beschwerde nennt beispielhaft den Begriff der "Religion", der in Art. 10
der RL 2004/83 u.a. als "Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im priva-
ten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen" umschrieben
werde. Das Berufungsgericht verhalte sich zu der Frage nicht. Bei Berücksichtigung
der Richtlinie hätte es hingegen feststellen müssen, dass für die Glaubensgemein-
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schaft der Mandäer das religiöse Existenzminimum in dem von der Richtlinie ge-
währten Umfang nicht vorhanden sei.
Auch dieses und das weitere Vorbringen der Beschwerde legt die Entscheidungser-
heblichkeit der als klärungsbedürftig bezeichneten Frage nicht den Anforderungen
des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend dar. Sie zeigt nicht auf, welche Ände-
rung die Richtlinie für den Schutz von Flüchtlingen gegenüber der bisherigen Rechts-
lage zum Inhalt hat, soweit ihnen Gefahr vor Verfolgung wegen ihrer Religion droht.
Weiter erläutert sie nicht, aufgrund welcher Tatsachen davon auszugehen sei, dass
eine den Klägern drohende Verfolgung wegen ihrer Religionszugehörigkeit auf Um-
ständen beruhe, die nach der zitierten EU-Richtlinie als verfolgungsbegründend an-
erkannt werde, nach der derzeitigen Rechtslage hingegen nicht. Damit fehlt es an
einer hinreichenden Darlegung, inwiefern sich die Frage der Vorwirkung der zitierten
EU-Richtlinie im vorliegenden Fall stellen könnte. Die nicht näher begründete Be-
hauptung, bei Berücksichtigung der Richtlinie hätte das Berufungsgericht festgestellt,
dass das religiöse Existenzminimum in dem von der Richtlinie geforderten Umfang
für die Glaubensgemeinschaft der Mandäer im Irak nicht vorhanden sei, genügt den
Darlegungsanforderungen für die geltend gemachte Grundsatzrüge mangels hinrei-
chender Substantiierung nicht.
3. Die Beschwerde rügt ferner eine Abweichung von der Entscheidung des Bundes-
verwaltungsgerichts vom 20. Januar 2004 (BVerwG 1 C 9.03 - BVerwGE 120, 16).
Sie sieht in dem Umstand, dass das Berufungsgericht keine Feststellungen dazu
getroffen habe, ob die Kläger als Angehörige der Religionsgemeinschaft der
Mandäer ihren Glauben in einer das religiöse Existenzminimum wahrenden Weise im
Irak tatsächlich leben können, eine Divergenz zu der genannten Entscheidung des
Bundesverwaltungsgerichts.
Damit ist eine Abweichungsrüge im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht darge-
tan, weil die Beschwerde keinen bestimmten abstrakten Rechtssatz aus der Beru-
fungsentscheidung benennt, der zu einem ebensolchen Rechtssatz der Entschei-
dung des Bundesverwaltungsgerichts in Widerspruch steht. Soweit die Beschwerde
beanstandet, das Berufungsgericht habe die vom Bundesverwaltungsgericht in die-
sem Zusammenhang geforderte Prüfung zum religiösen Existenzminimum nicht vor-
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genommen, rügt sie allenfalls eine fehlerhafte Rechtsanwendung im Einzelfall, aber
nicht einen grundsätzlichen Rechtssatzwiderspruch, wie es für die Zulassung wegen
Divergenz nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO erforderlich ist.
4. Die Beschwerde rügt weiter, das angefochtene Urteil beruhe auf einem Verfah-
rensfehler (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), weil das Berufungsgericht den Sachverhalt
zur besonderen Gefährdung der Mandäer im Irak und zur Frage ihres religiösen
Existenzminimums nicht aufgeklärt habe (§ 86 Abs. 1 VwGO). Auskünfte zur beson-
deren Gefährdung der Mandäer habe das Gericht nicht eingeholt, sondern lediglich
festgestellt, diese hätten keine weitergehenden Nachteile zu befürchten als Christen.
Auch zur Frage des religiösen Existenzminimums habe das Gericht keinerlei Infor-
mationen eingeholt und besitze insoweit offensichtlich auch keine eigene Sachkunde.
Ein Verstoß gegen die gerichtliche Aufklärungspflicht ist damit und mit dem weiteren
Beschwerdevorbringen nicht hinreichend bezeichnet. Ein Gericht verletzt seine Pflicht
zur erschöpfenden Aufklärung des Sachverhalts grundsätzlich dann nicht, wenn es
von einer Beweiserhebung absieht, die eine durch einen Rechtsanwalt vertretene
Partei nicht ausdrücklich beantragt hat (stRspr, vgl. Beschluss vom 24. November
1977 - BVerwG 6 B 16.77 - Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 161 m.w.N.). Die
Beschwerde trägt nicht vor, dass die anwaltlich vertretenen Kläger einen Beweisan-
trag zur Einholung weiterer Sachverständigengutachten oder Auskünfte gestellt ha-
ben. Das war ausweislich des Sitzungsprotokolls vom 30. Mai 2005 vor dem Beru-
fungsgericht auch tatsächlich nicht der Fall.
Die Beschwerde zeigt auch nicht auf, inwiefern sich dem Berufungsgericht - bezogen
auf die Frage der besonderen Gefährdung der Mandäer im Irak - eine ergänzende
Beweiserhebung durch Einholung weiterer sachverständiger Stellungnahmen oder
Auskünfte von Amts wegen hätte aufdrängen müssen. Aus dem angefochtenen Urteil
ergibt sich, dass das Berufungsgericht unterschiedliche Quellen zur Bewertung der
Verfolgungsgefahren im Irak verwertet hat, und zwar nicht nur bezogen auf Christen,
sondern auch auf andere Religionsgemeinschaften, so etwa die Stellungnahme des
UNHCR vom 22. November 2004 zu "Asylverfahren irakischer Staatsangehöriger
christlicher und mandäischer Religionszugehörigkeit" (UA S. 10 oben). Dabei wurden
Quellen bis zum Monat der Gerichtsentscheidung (Mai 2005) verwertet (UA S. 10
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unten). Die Beschwerde legt nicht dar, warum das Berufungsgericht weitergehende
Erkenntnisse hätte einholen müssen. Sie zeigt auch nicht auf, aus welchen Gründen
das Berufungsgericht im vorliegenden Fall die Gewährleistung des religiösen
Existenzminimums für Mandäer im Irak hätte näher aufklären müssen. Sie benennt
keine konkreten Tatsachen und Auskunftsquellen, aus denen sich eine solche
Verletzung des religiösen Existenzminimums hätte ergeben können. Sie legt auch
nicht dar, dass die Kläger gegenüber dem Berufungsgericht derartige Tatsachen vor-
getragen haben. Die von der Beschwerde zitierten Ausführungen aus dem Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Januar 2004 (BVerwG 1 C 9.03 - BVerwGE 120,
16 <24>) zum Fehlen tragfähiger Feststellungen zum religiösen Existenzminimum
beziehen sich im Übrigen nicht auf einen Verfahrensmangel, sondern auf die
Verletzung sachlichen Rechts. Die Beschwerde wendet sich der Sache nach im
Gewande einer Aufklärungsrüge gegen die Tatsachen- und Beweiswürdigung des
Berufungsgerichts zur Verfolgungsgefahr für Mandäer im Irak. Damit kann sie die
Zulassung der Revision jedoch nicht erreichen.
Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2
VwGO).
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden
gemäß § 83 b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30
RVG.
Eckertz-Höfer Dr. Mallmann Prof. Dr. Dörig
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