Urteil des BVerwG vom 27.01.2006

Schweizerische Asylrekurskommission, Hauptsache, Gefährdung, Gewährleistung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 76.05
VGH 14 B 01.31146
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 27. Januar 2006
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. M a l l m a n n und
Prof. Dr. D ö r i g
beschlossen:
Auf die Beschwerde der Klägerin zu 1 wird der Beschluss des
Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 30. Mai 2005 aufge-
hoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entschei-
dung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten in der Hauptsache bleibt der
Schlussentscheidung vorbehalten.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens
folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache.
G r ü n d e :
Die Beschwerde hat mit einer Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) Erfolg. Die
Klägerin zu 1 rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht ihren Anspruch auf Gewäh-
rung rechtlichen Gehörs verletzt hat (Art. 103 Abs. 1 GG). Denn das Berufungsge-
richt hat wesentliches Vorbringen der Klägerin zu 1 nicht in der gebotenen Weise zur
Kenntnis genommen und erwogen.
Zwar ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Gerichte das Vorbringen der Be-
teiligten, wie es Art. 103 Abs. 1 GG vorschreibt, zur Kenntnis genommen und in Er-
wägung gezogen haben. Etwas anderes gilt aber, wenn besondere Umstände deut-
lich ergeben, dass das Gericht bestimmtes Vorbringen nicht berücksichtigt hat
(stRspr, vgl. etwa BVerfGE 86, 133, 145 f.). Das ist hier der Fall.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin zu 1 hat auf die Ankündigung des Beru-
fungsgerichts, möglicherweise im Beschlusswege nach § 130 a VwGO zu entschei-
den, in dem von der Beschwerde zitierten Schriftsatz vom 1. März 2005 ausgeführt,
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aus den vorliegenden Auskünften ergebe sich eine "massive Gefährdung" von
Apostaten im Iran (Berufungsakte Bl. 113 bis 115). Er hat sich insbesondere auf die
in der Anlage zur Stellungnahme des UNHCR übersandte Stellungnahme von
Prof. Dr. S. von der Universität Zürich bezogen, aus der sich ergebe, dass Apostasie
mit dem Tode bedroht werde. Prof. Dr. S. hat in seinem für die Schweizerische Asyl-
rekurskommission am 28. März 2003 erstatteten Gutachten, das dem Berufungsge-
richt vorlag (Berufungsakte Bl. 57), unter anderem ausgeführt:
"Nicht nur gemäß der schiitischen Auslegung des Islams sondern für alle
Moslems ist der Konvertit ein Ketzer, der für seine Apostasie mit dem Tod
bestraft werden muss. Die Rückschaffung von Herrn … in den Iran ist mit
dem Vollzug des Todesurteils gegen ihn gleichzusetzen."
Die Beschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht dieses Vorbringen der
Klägerin zu 1 sowie die von ihr zitierte Stellungnahme des Prof. Dr. S. nicht zur
Kenntnis genommen hat. Entsprechendes gilt für die vom Prozessbevollmächtigten in
dem bereits genannten Schriftsatz vom 1. März 2005 zitierten Aussagen im erstat-
teten Gutachten des Deutschen Orient-Instituts (Berufungsakte Bl. 65 bis 76), wo-
nach Apostaten ungeachtet der Regelung im staatlichen Recht regelmäßig andere
Formen der Bestrafung zu gewärtigen hätten (vgl. insbesondere S. 2 des erstatteten
Gutachtens). Das Berufungsgericht erwähnt die Stellungnahme von Prof. Dr. S.
überhaupt nicht und die Ausführungen des Deutschen Orient-Instituts nur insoweit,
als es um die Gewährleistung des religiösen Existenzminimums für Apostaten im Iran
geht (BA S. 6 bis 8). Im Rahmen seiner Würdigung der Verfolgungsgefahr wegen der
Apostasie beschränkt sich das Berufungsgericht auf die Aussage, dass es an seiner
ständigen Rechtsprechung festhalte, wonach der Abfall vom islamischen Glauben im
Iran kein Straftatbestand sei, sondern als religiöses und gesellschaftliches Fehlver-
halten anzusehen sei, dass jedoch erst bei einer über den bloßen Besuch öffentlicher
Gottesdienste hinausgehenden, öffentlichkeitswirksamen religiösen Betätigung oder
bei missionierender Tätigkeit eine Gefährdung durch Dritte befürchten lasse (BA S. 5
unten). Das Berufungsgericht verletzt das rechtliche Gehör der Klägerin zu 1, indem
es diese Feststellungen ohne Einbeziehung der erwähnten Stellungnahmen von
Prof. Dr. S. und des Deutschen Orient-Instituts trifft.
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Auf die von der Beschwerde weiter geltend gemachte Aufklärungsrüge kommt es
nicht mehr entscheidend an. Allerdings bemerkt der Senat, dass gemäß § 60 Abs. 1
Satz 4 Buchst. c AufenthG auch Gefährdungen durch nichtstaatliche Akteure zu be-
rücksichtigen sind, der Gutachtenauftrag gemäß Beweisbeschluss des Berufungsge-
richts vom 12. Juli 2004 aber noch auf der Grundlage der bis zum Jahresende 2004
maßgeblichen Rechtslage erging. Die erhobene Grundsatzrüge bleibt mangels hin-
reichender Darlegungen zur Entscheidungserheblichkeit der aufgeworfenen Frage
ohne Erfolg. Sie zeigt insbesondere nicht auf, wieso es auf eine "europafreundliche"
Auslegung des Begriffs der Religion im Sinne der am 29. April 2004 verabschiedeten
und bis 10. Oktober 2006 umzusetzenden Richtlinie 2004/83/EG für die Klägerin zu 1
ankommt.
Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit
Gebrauch, den Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsgericht zu-
rückzuverweisen.
Eckertz-Höfer Dr. Mallmann Prof. Dr. Dörig
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