Urteil des BVerwG vom 29.04.2002

Demokratische Republik Kongo, Wahrscheinlichkeit, Rechtliches Gehör, Gefahr

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BESCHLUSS
BVerwG 1 B 59.02 (1 PKH 10.02)
VGH 21 B 99.3174
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. April 2002
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. M a l l m a n n , H u n d und R i c h t e r
beschlossen:
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Dem Kläger wird für das Beschwerdeverfahren
Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt
Rainer Frisch, Friedrich-List-Straße 3,
91054 Erlangen, beigeordnet.
Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsge-
richtshofs vom 11. Dezember 2001 wird aufgeho-
ben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung
und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof
zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung in der Hauptsache bleibt
der Schlussentscheidung vorbehalten. Die Ent-
scheidung über die Kosten des Beschwerdeverfah-
rens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung
in der Hauptsache.
G r ü n d e :
Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe
liegen vor (§ 166 VwGO, §§ 114 ff. ZPO).
Die Beschwerde ist mit der Rüge eines Verfahrensmangels (§ 132
Abs. 2 Nr. 3 VwGO) begründet. Im Interesse der Verfahrensbe-
schleunigung verweist der Senat die Sache nach § 133 Abs. 6
VwGO unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses an das Be-
rufungsgericht zurück.
Die Beschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht ver-
fahrensfehlerhaft die Erhebung von Sachverständigenbeweis zur
Klärung der Frage abgelehnt hat, ob der nach seinen Angaben im
Juli 1984 in Kinshasa geborene Kläger noch "kräftig wachsen",
deshalb Narbengewebe aufplatzen und eine weitere medizinische
Behandlung erforderlich werden könne, die für ihn bei einer
Rückkehr in sein Heimatland (Demokratische Republik Kongo)
nicht erlangbar wäre. Das Berufungsgericht hat die dahin ge-
henden mehrfachen Beweisbegehren des Klägers - zuletzt mit
Schriftsatz vom 13. Juli 2001 - mit der Begründung abgelehnt
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(BA S. 7), für die hier geltend gemachte Gesundheitsgefahr sei
im Rahmen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG erforderlich, dass eine
konkrete Gefahr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eintreten
werde, wofür "tatsächliche Anhaltspunkte" fehlten "und auch in
keinem der gutachterlichen Bestätigung hierfür nicht einmal
ansatzweise erwähnt" sei. Auch der zuletzt vorgelegten Stel-
lungnahme der Universitätsklinik E. vom 29. August 2001 könne
nicht entnommen werden, dass der Kläger mit beachtlicher Wahr-
scheinlichkeit einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib
oder Leben im Falle seiner Rückkehr in den Heimatstaat ausge-
setzt wäre. Diese Erwägungen des Berufungsgerichts, die den
Beteiligten bereits in den Anhörungsschreiben nach § 130 a,
§ 125 Abs. 2 Satz 4 VwGO vom 19. Juli 2001 und vom
19. September 2001 mitgeteilt worden sind, tragen die Ableh-
nung einer weiteren Beweiserhebung nicht.
Der Senat versteht die Ausführungen des Verwaltungsgerichts-
hofs so, dass dieser in dem Beweisbegehren des Klägers zwar
einen an sich erheblichen, aber deshalb unzulässigen Beweiser-
mittlungs- oder Ausforschungsbeweisantrag sieht, weil keine
hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass
dem Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatland mit beachtli-
cher Wahrscheinlichkeit Gesundheitsgefahren im Sinne des § 53
Abs. 6 Satz 1 AuslG drohen. Die Ablehnung des Beweisbegehrens
und das Unterlassen weiterer eigener Sachverhaltsaufklärung
mit dieser Begründung wäre indessen nur gerechtfertigt in Be-
zug auf Tatsachenbehauptungen, für deren Wahrheitsgehalt nicht
wenigstens eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht. Die Be-
hauptungen müssten mit anderen Worten ohne greifbare Anhalts-
punkte willkürlich "aus der Luft gegriffen", "aufs Geradewohl"
oder "ins Blaue hinein" aufgestellt werden, obwohl tatsächli-
che Grundlagen fehlen (vgl. zuletzt etwa Beschluss vom
27. März 2000 - BVerwG 9 B 518.99 - Buchholz 310 § 98 VwGO
Nr. 60 m.w.N.). So verhält es sich hier jedoch nicht.
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Die Beschwerde macht insoweit zu Recht geltend, dass der Ver-
waltungsgerichtshof selbst dem Kläger mit Schreiben vom
17. Januar 2001 aufgegeben hatte, ein amtsärztliches Attest
über seinen aktuellen Gesundheitszustand vorzulegen "insbeson-
dere unter Berücksichtigung weiterer wachstumsbedingter erfor-
derlich werdender Operationen und des sich daraus evtl. erge-
benden gesundheitlichen Risikos (Prognoseentscheidung)". Nach-
dem in dem amtsärztlichen Zeugnis vom 13. März 2001 ausgeführt
war, der inzwischen fast 17-jährige Kläger habe "bereits die
Größe und Konstitution seines Vaters erreicht, so dass weitere
wachstumsbedingte Operationen nicht mehr erforderlich sein
dürften", hat der Kläger eine Stellungnahme der Universitäts-
klinik E. vom 11. Mai 2001 vorgelegt, nach der bezüglich des
Wachstums des Klägers "keinerlei Aussage" getroffen werden
könnten. In der vom Berufungsgericht hierzu eingeholten ergän-
zenden Stellungnahme des Amtsarztes vom 25. Juni 2001 heißt es
dann, ob das Wachstum abgeschlossen sei, "müsste, sollte diese
Frage bei dem kräftigen gut entwickelten Patienten derzeit
noch relevant sein, von einem entsprechenden Fachgutachter be-
urteilt werden". Ob der Kläger noch so sehr wachsen wird, dass
die Gefahr eines wachstumsbedingten Aufbrechens des instabilen
Narbengewebes fortbesteht, war mithin nach dem Inhalt der vor-
liegenden ärztlichen Stellungnahmen medizinisch nicht ab-
schließend geklärt. Dann aber durfte das Berufungsgericht die
vom Kläger aufgestellte Behauptung, ihm drohten trotz seines
inzwischen fortgeschrittenen Alters immer noch wachstumsbe-
dingte Beeinträchtigungen - und damit verbunden Gefahren für
Leib und Leben bei der Rückkehr in sein Heimatland - nicht als
völlig unsubstantiierte, gleichsam aus der Luft gegriffene
Tatsachenbehauptung abtun, die eine weitere Sachverhaltsauf-
klärung nicht erfordere.
Auch der Hinweis des Verwaltungsgerichtshofs auf die nach dem
Gesetz erforderliche beachtliche Wahrscheinlichkeit rechtfer-
tigt keine andere Beurteilung. Denn ob eine konkrete Gefahr
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mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit prognostiziert werden
kann, kann der Verwaltungsgerichtshof unter den gegebenen Um-
ständen des Falles erst dann rechtlich beurteilen, wenn aus
medizinischer Sicht geklärt ist, ob bei dem Kläger - wie von
ihm geltend gemacht - auch weiterhin noch erhebliche wachs-
tumsbedingte Hautveränderungen mit gesundheitlichen Risiken
auftreten oder nicht. Sollte der Hinweis daher so gemeint
sein, dass allenfalls die Möglichkeit, aber nicht die erfor-
derliche beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Gefahr im Sinne
des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG prognostiziert werden könne
– dafür sprechen die Ausführungen zuvor (BA S. 6 Abs. 2), für
den Senat stehe aufgrund der amtsärztlichen Stellungnahmen
fest, "dass weitere wachstumsbedingte Operationen beim Kläger
mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht erforderlich sein
werden" -, so läge darin eine unzulässige Vorwegnahme der Be-
weiswürdigung.
Die Ablehnung der beantragten Beweiserhebung mit der gegebenen
Begründung findet mithin im Gesetz keine Stütze; sie verletzt
den Kläger in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 108
Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) und verstößt zugleich gegen
die Pflicht des Berufungsgerichts zur Aufklärung des Sachver-
halts von Amts wegen (§ 86 Abs. 1 VwGO).
Zur weiteren Sachbehandlung weist der Senat daraufhin, dass
sich das Berufungsgericht, sollte beim Kläger auch künftig mit
wesentlichen wachstumsbedingten Hautveränderungen zu rechnen
sein, deren Behandlung in seinem Heimatland zwar allgemein oh-
ne erhebliche Erhöhung des Gesundheitsrisikos möglich ist, von
ihm aber aus finanziellen Gründen faktisch nicht erlangbar wä-
re, mit der weiteren Frage auseinandersetzen muss, ob sich ei-
ne derartige aus dem beschränkten Zugang zu einer Heilbehand-
lung im Ausland folgende Gesundheitsgefahr als individuelle,
gerade den Kläger treffende Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 6
Satz 1 AuslG oder als Auswirkung einer allgemeinen Gefahr im
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Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG darstellt (vgl. hierzu etwa
OVG Hamburg, Urteil vom 12. Januar 2001 - 1 Bf 377/98.A – [in-
soweit nicht Gegenstand der Überprüfung im Revisionsurteil vom
4. Dezember 2001 – BVerwG 1 C 11.01 - ] und
VGH München, Beschluss vom 10. Oktober 2000 - 25 B 99.32077 -
unter Hinweis auf OVG Saarlouis, Urteil vom 23. August
1999 - 3 R 28/99 -). Aus der Beantwortung dieser - vom Beru-
fungsgericht bisher nicht geprüften Rechtsfrage - kann sich im
Übrigen auch schon eine andere Beurteilung der bisher angenom-
menen (materiellrechtlichen) Erheblichkeit der umstrittenen
Tatsachenfragen ergeben.
Dr. Mallmann Hund Richter