Urteil des BVerwG vom 22.09.2015

Ausweisung, Straftat, Beteiligter, Freiheit

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 48.15
OVG 1 Bf 163/14
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 22. September 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit
und die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Fricke und Dr. Rudolph
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Hamburgischen Oberver-
waltungsgerichts vom 15. Juni 2015 wird verworfen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1
VwGO) und Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Be-
schwerde hat keinen Erfolg, da sie bezüglich beider Zulassungsgründe nicht
den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entspricht.
1. a) Die Beschwerde macht als Verfahrensmangel eine Verletzung des rechtli-
chen Gehörs (§ 138 Nr. 3 VwGO) geltend, weil das Berufungsgericht wesentli-
chen Vortrag des Klägers, warum von seiner Ausweisung keine verhaltenssteu-
ernde Wirkung für andere Ausländer ausgehe, in den Entscheidungsgründen
nicht erwogen habe. Insoweit sei im Berufungsverfahren insbesondere vorge-
tragen und näher dargelegt worden, dass der Kläger sich bei Begehung der Tat
in einer absoluten Ausnahmesituation befunden habe und in einer solchen Situ-
ation von der Möglichkeit einer Ausweisung keine steuernde Wirkung mehr
ausgehen könne. Mit diesem und dem weiteren Vorbringen wird eine Verlet-
zung der dem Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs folgenden Ver-
pflichtung des Gerichtes, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu
nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen, nicht in einer den
Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden Weise aufgezeigt.
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Ein Gericht ist nicht gehalten, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungs-
gründen ausdrücklich zu befassen. Nur wenn sich aus den besonderen Um-
ständen des Falles ergibt, dass das Gericht seine Pflicht zur Kenntnisnahme
und Erwägung entscheidungserheblichen Vorbringens verletzt hat, kann ein
Verstoß gegen den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs festgestellt
werden (stRspr, BVerfG, Urteil vom 8. Juli 1997 - 1 BvR 1621/94 - BVerfGE 96,
205 <216 f.> m.w.N.). Vorliegend hat das Berufungsgericht im Einzelnen darge-
legt, warum - entgegen der Auffassung des Klägers - eine Ausweisung wegen
des abgeurteilten Tatgeschehens eine abschreckende Wirkung für andere Aus-
länder entfalten kann. Dass hier besondere Umstände vorliegen, auf Grund de-
rer die Ausführungen des Berufungsgerichts in den Urteilsgründen auf eine
mangelnde Kenntnisnahme und Erwägung der vom Kläger für seine gegenteili-
ge Auffassung für maßgeblich erachteten Begleitumstände schließen lässt, legt
die Beschwerde nicht dar. Stattdessen wendet sie sich in Wahrheit im Gewande
der Verfahrensrüge gegen die ihrer Auffassung nach insoweit unzutreffende
Sachverhalts- und Beweiswürdigung und die hieraus gezogenen Schlussfolge-
rungen. Damit vermag sie eine Gehörsrüge nicht erfolgreich darzutun.
b) Gleiches gilt für den gerügten Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz
(§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es gehört zu der den Tatsachengerichten durch
§ 108 Abs. 1 VwGO übertragenen Aufgabe, sich im Wege der freien Beweis-
würdigung seine Überzeugung von dem entscheidungserheblichen Sachverhalt
zu bilden. Dabei hat das Gericht seiner Überzeugungsbildung das Gesamter-
gebnis des Verfahrens zugrunde zu legen. Wie es seine Überzeugung bildet,
wie es also die ihm vorliegenden Tatsachen und Beweise würdigt, unterliegt
seiner "Freiheit". Die Einhaltung der daraus entstehenden verfahrensmäßigen
Verpflichtungen ist nicht schon dann in Frage gestellt, wenn ein Beteiligter das
vorliegende Tatsachenmaterial anders würdigen oder aus ihm andere Schlüsse
ziehen will als das Gericht. Die "Freiheit" des Gerichtes ist erst dann überschrit-
ten, wenn es entweder seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung nicht das
Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde legt, sondern nach seiner Rechts-
auffassung entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht oder aktenwidrige
Tatsachen annimmt oder wenn die von ihm gezogenen Schlussfolgerungen
gegen die Denkgesetze verstoßen. Diese Verstöße gegen den Überzeugungs-
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grundsatz können als Verfahrensmängel gerügt werden (stRspr, vgl. BVerwG,
Beschluss vom 11. August 2015 - 1 B 37.15 - juris Rn. 12 m. w. N.).
Wendet sich ein Beteiligter - wie hier der Kläger - gegen eine aus seiner Sicht
fehlerhafte Verwertung des vorliegenden Tatsachenmaterials, aus dem er ande-
re Schlüsse ziehen will als das angefochtene Urteil, bedarf es zur Bezeichnung
eines solchen Verfahrensfehlers der Darlegung, dass die Sachverhalts- und
Beweiswürdigung die Grenzen einer objektiv willkürlichen, die Natur und Denk-
gesetze sowie allgemeine Erfahrungssätze beachtenden Würdigung über-
schreitet. Dem wird das Vorbringen der Beschwerde nicht gerecht. Es zielt auch
insoweit in der äußeren Form einer Verfahrensrüge auf eine inhaltliche Kritik
der tatrichterlichen Sachverhaltswürdigung durch das Berufungsgericht und
setzt dieser seine eigene Bewertung entgegen, ohne jedoch Anhaltspunkte für
eine willkürliche oder gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze
verstoßende Würdigung der Erkenntnismittel zu benennen.
2. Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache setzt die Formulierung einer
bestimmten, höchstrichterlich noch nicht geklärten und für die Revisionsent-
scheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die
Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Be-
deutung bestehen soll (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19. August 1997 - 7 B
261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 S. 14 und vom 30. Januar
2014 - 5 B 44.13 - juris). Auch diesen Darlegungsanforderungen genügt das
Beschwerdevorbringen nicht.
Die Beschwerde hält für klärungsbedürftig,
"ob es bestimmte Delikte gibt, die wie Tötungsdelikte schon wegen
ihrer herausgehobenen Schwere vorbehaltlich des Vorliegens einer
Ausnahmekonstellation in der Regel eine Ausweisung ausschließlich
aus generalpräventiven Gründen rechtfertigen".
In diesem Zusammenhang verweist sie selbst auf das Urteil des Bundesverwal-
tungsgerichtes vom 4. Februar 2012 - 1 C 7.11 - (BVerwGE 142, 29). Danach
können schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im
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Sinne von § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG bei strafrechtlichen Verurteilungen aus-
nahmsweise auch dann vorliegen, wenn von dem Ausländer selbst keine Wie-
derholungsgefahr mehr ausgeht, wegen der besonderen Schwere der Straftat
aber ein dringendes Bedürfnis besteht, durch die Ausweisung generalpräventiv
andere Ausländer von der Begehung vergleichbarer Straftaten abzuhalten
(Rn. 17). In diesem Fall sind an die Annahme schwerwiegender Gründe der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Hinblick auf den Grundsatz der Verhält-
nismäßigkeit aber besonders hohe Anforderungen zu stellen. Erforderlich ist,
dass die den Ausweisungsanlass bildende Straftat besonders schwer wiegt und
deshalb ein dringendes Bedürfnis daran besteht, über die strafrechtliche Sank-
tion hinaus durch die Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher
Art und Schwere abzuhalten. Dabei kommt es stets auf die besondere Schwere
der Straftat im Einzelfall an. Dies setzt voraus, dass die konkreten Umstände
der begangenen Straftat oder Straftaten, wie sie sich aus dem Strafurteil und
dem vorangegangenen Strafverfahren ergeben, ermittelt und individuell gewür-
digt werden. Die besondere Schwere der Straftat im Hinblick auf die verhaltens-
steuernde Wirkung der Ausweisung auf andere Ausländer erfordert, dass von
einer derartigen Straftat eine besonders hohe Gefahr für den Staat oder die
Gesellschaft ausgeht, wie dies insbesondere bei Drogendelikten oder Straftaten
aus dem Bereich der organisierten Kriminalität der Fall sein kann (Rn. 24). Ei-
nen neuerlichen oder darüber hinausgehenden Klärungsbedarf legt die Be-
schwerde nicht dar.
Soweit sie darauf hinweist, dass das Berufungsgericht dem vom Kläger began-
genen versuchten Mord eine besondere Schwere beigemessen und lediglich
geprüft habe, ob es ausnahmsweise an einer Eignung der Anlasstat für eine
ausschließlich generalpräventiv motivierte Ausweisung fehle, rügt sie lediglich
eine ihrer Auffassung nach fehlerhafte Anwendung im Einzelfall. Im Übrigen hat
das Berufungsgericht die Schwere der Tat nicht allein mit der Höhe der ver-
hängten Strafe und dem Gewicht des verletzten Rechtsguts begründet, sondern
auch die konkreten Umstände des Falles berücksichtigt (vgl. UA S. 17: Bezie-
hungstat in einem familiären Umfeld, Nichtvollendung des Mordes wegen des
beherzten Eingreifens der Tochter, vom Kläger nicht respektierter Scheidungs-
wunsch der Ehefrau). Ob die Gesamtumstände die Annahme einer besonders
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schwerwiegenden Straftat rechtfertigen, ist eine Frage des Einzelfalls und daher
einer rechtsgrundsätzlichen Klärung nicht zugänglich.
Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2
VwGO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des
Streitwerts ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.
Prof. Dr. Berlit
Fricke
Dr. Rudolph
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