Urteil des BVerwG vom 27.10.2004

Sri Lanka, Rechtliches Gehör, Hauptsache, Mitgliedschaft

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 47.04
OVG 21 A 259/01.A
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 27. Oktober 2004
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. M a l l m a n n , H u n d
und R i c h t e r
beschlossen:
Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Oberver-
waltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom
5. Dezember 2003 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entschei-
dung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten in der Hauptsache bleibt der
Schlussentscheidung vorbehalten. Die Entscheidung über die
Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der vorbehaltenen
Kostenentscheidung in der Hauptsache.
G r ü n d e :
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Der Kläger rügt zu Recht einen Verfah-
rensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) in Gestalt einer Verletzung seines Anspruchs
auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Denn das Berufungsgericht hat das tat-
sächliche Vorbringen des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwal-
tungsgericht vom 4. Dezember 2000 nicht in der gebotenen Weise in Erwägung ge-
zogen. Grundsätzlich ist in Rechtsmittelverfahren allerdings davon auszugehen, dass
die Gerichte das Vorbringen der Beteiligten, wie es Art. 103 Abs. 1 GG gebietet, zur
Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben; die Gerichte brauchen sich
nicht mit jedem Vorbringen in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich ausein-
ander zu setzen. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs kann daher nur dann fest-
gestellt werden, wenn sich aus den besonderen Umständen des Falles deutlich er-
gibt, dass das Gericht tatsächliches Vorbringen der Beteiligten nicht in Erwägung
gezogen hat (stRspr, vgl. etwa BVerfGE 96, 205 <216>). Ein solcher Fall liegt hier
vor.
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Der Kläger macht geltend, er habe in der bereits erwähnten mündlichen Verhandlung
vor dem Verwaltungsgericht erklärt, nach seiner Ausreise aus Sri Lanka seien seine
Eltern, sein Bruder und seine Freundin auf der Suche nach ihm wegen seiner frühe-
ren Tätigkeiten für die LTTE vom Militär mitgenommen und verhört worden. Seine
Freundin habe angegeben, dass er sich in Deutschland aufhalte. Sie sei erst freige-
lassen worden, nachdem er als Beweis für seinen Aufenthalt im Bundesgebiet einen
Brief nach Sri Lanka geschickt habe.
Das Berufungsgericht hat diesen Sachvortrag zwar im Tatbestand des angegriffenen
Urteils (UA S. 4) erwähnt. Es hat ihn aber, wie die Beschwerde zu Recht rügt, in den
Urteilsgründen nicht verarbeitet, obwohl sich dies aufgedrängt hätte. Unter den hier
gegebenen besonderen Umständen ist daher nicht auszuschließen, dass das Beru-
fungsgericht den im Tatbestand erwähnten Vortrag nicht mehr weiter zur Kenntnis
genommen und in Erwägung gezogen hat. Dies folgt einerseits daraus, dass das
Berufungsgericht - ohne das in Rede stehende Vorbringen des Klägers zu erwäh-
nen - ausführt, der Kläger weise verschiedene - im Einzelnen bezeichnete - "Risiko-
faktoren" auf, aus denen sich hier aber, wie näher begründet wird, nicht die Gefahr
asylrechtlich relevanter Übergriffe ergebe (UA S. 99). Andererseits führt das Beru-
fungsgericht aus, dass Besonderheiten, die insbesondere im Zusammenhang mit
den Narben des Klägers ein erhöhtes Risiko von Misshandlungen oder längerfristi-
gen Inhaftierungen durch srilankische Sicherheitskräfte ergeben könnten, in dessen
Person nicht gegeben seien. Insbesondere fehle jeder Anhaltspunkt dafür, dass sich
die Sicherheitsbehörden wegen eines in Polizeiberichten oder sonstigen Unterlagen
der Sicherheitskräfte festgehaltenen Verdachts der LTTE-Mitgliedschaft oder einer
Identifikation als LTTE-Mitglied durch Informanten der Sicherheitskräfte für ihn in-
teressierten (UA S. 100). Auch insoweit geht das Berufungsgericht auf das erwähnte
Vorbringen des Klägers vom 4. Dezember 2000, mit dem dieser nach seinem Vortrag
in der Berufungszulassungsschrift und in der Beschwerdeschrift an seine früheren
Aktivitäten für die LTTE anknüpft, nicht ein. Auch hieraus folgt, dass das Beru-
fungsgericht dieses Vorbringen, dem nicht von vornherein entscheidungserhebliche
Bedeutung abgesprochen werden kann, nicht ernsthaft in Erwägung gezogen hat.
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Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit
Gebrauch, den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 133
Abs. 6 VwGO).
Dr. Mallmann Hund Richter