Urteil des BVerwG vom 13.08.2003

Hauptsache, Offenkundig

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BESCHLUSS
BVerwG 1 B 434.02
VGH 12 UE 2614/98.A
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 13. August 2003
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z – H ö f e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht R i c h t e r und Prof. Dr. D ö r i g
beschlossen:
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Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Hessischen
Verwaltungsgerichtshofs vom 5. August 2002 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an
den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung in der Hauptsache bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt
der Kostenentscheidung in der Hauptsache.
G r ü n d e :
Die Beschwerde hat mit einer Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) Erfolg. Der Kläger
rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Ge-
hörs verletzt hat (Art. 103 Abs. 1 GG). Denn das Berufungsgericht hat wesentliches Vorbrin-
gen des Klägers nicht in der gebotenen Weise zur Kenntnis genommen und erwogen.
Zwar ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Gerichte das Vorbringen der Beteiligten,
wie es Art. 103 Abs. 1 GG vorschreibt, zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen
haben. Etwas anderes gilt aber, wenn besondere Umstände deutlich ergeben, dass das Ge-
richt bestimmtes Vorbringen nicht berücksichtigt hat (stRspr, vgl. etwa BVerfGE 86, 133,
145 f.). Das ist hier der Fall.
Das Berufungsgericht kommt zu dem Ergebnis, der Kläger sei unverfolgt aus der Türkei aus-
gereist, weil es ihm sein Vorbringen nicht geglaubt hat, er sei von Soldaten wegen seiner
Weigerung, Dorfschützer zu werden, mit dem Tode bedroht, verhaftet und misshandelt wor-
den (UA S. 23 f). Es hat sein Vorbringen deshalb als unglaubhaft angesehen, weil er dieses
im Verlauf des Asylverfahrens gesteigert habe. Dabei ist das Gericht - was der Kläger zu
Recht beanstandet (Beschwerdebegründung S. 3) - weder im Tatbestand noch in den Ent-
scheidungsgründen des Urteils auf das Vorbringen des Klägers in dem Schriftsatz seines
Anwalts vom 15. Dezember 1994 eingegangen. Bereits in diesem Schriftsatz und nicht erst
in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht im Juni 1996 hat er vorgetragen,
dass er im Spätherbst 1990 von Militärangehörigen für drei Tage nach Pazarcik mitgenom-
men worden, gequält und aufgefordert worden sei, Dorfschützer zu werden, wobei man ihm
einen Strick gezeigt und erklärt habe, ihn aufzuhängen. Diesen Vortrag hat das Berufungs-
gericht offenkundig unberücksichtigt gelassen; denn es stützt seine Beweiswürdigung darauf,
der Kläger habe erstmals vor dem Verwaltungsgericht im Juni 1996 vorgetragen, nach
Pazarcik verschleppt und dort misshandelt worden zu sein (UA S. 24). Das angefochtene
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Urteil begründet die mangelnde Glaubwürdigkeit des Klägers weiter zu Unrecht damit, er ha-
be erstmals vor dem Berichterstatter des Berufungsgerichts im Mai 2001 angegeben, von
Militärangehörigen und Zivilisten mit dem Tode bedroht worden zu sein (UA S. 24). Die Be-
schwerde weist demgegenüber mit Recht darauf hin, dass der Kläger schon mit Schriftsatz
vom 18. August 1992 derartige Bedrohungen durch Angehörige der Regierungstruppen vor-
getragen habe (Beschwerdebegründung S. 3). Der Umstand, dass das Berufungsgericht auf
das für die Frage der Vorverfolgung und damit auch den Maßstab der Rückkehrgefährdung
erhebliche Vorbringen des Klägers nicht eingegangen ist, spricht dafür, dass es diesen Vor-
trag entweder nicht zur Kenntnis genommen oder jedenfalls nicht in der gebotenen Weise
ernsthaft in Erwägung gezogen hat.
Bei dieser Sachlage erübrigt sich eine Prüfung der weiter erhobenen Grundsatz- und Verfah-
rensrügen. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit
Gebrauch, den Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsgericht zurückzu-
verweisen.
Eckertz-Höfer Richter Prof. Dr. Dörig