Urteil des BVerwG vom 06.02.2003

Vergleich, Notlage, Herkunftsort, Ausreise

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BESCHLUSS
BVerwG 1 B 428.02 (1 PKH 109.02)
OVG 1 L 269/01
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 6. Februar 2003
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts
E c k e r t z - H ö f e r und die Richter am Bundes-
verwaltungsgericht H u n d und Prof. Dr. D ö r i g
beschlossen:
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Der Antrag des Klägers, ihm Prozesskostenhilfe
zu bewilligen und einen Rechtsanwalt beizuord-
nen, wird abgelehnt.
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nicht-
zulassung der Revision in dem Urteil des
Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-
Anhalt vom 8. August 2002 wird verworfen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdever-
fahrens.
G r ü n d e :
Dem Kläger kann die beantragte Prozesskostenhilfe nicht bewil-
ligt werden, denn die beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet
aus den nachstehenden Gründen keine Aussicht auf Erfolg (§ 166
VwGO i.V.m. § 114 ZPO).
Die Beschwerde ist unzulässig. Der behauptete Verfahrensmangel
(§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) ist nicht in einer Weise dargetan,
die den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügt.
Die Beschwerde macht geltend, das Berufungsgericht habe gegen
seine Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) verstoßen. Einen
Verstoß sieht sie in der Ablehnung von zwei unbedingt gestell-
ten Beweisanträgen und der Nichterhebung zusätzlicher Beweise
über die Gewährleistung eines wirtschaftlichen Existenzmini-
mums für den Kläger im Nordirak, den das Berufungsgericht als
geeignete inländische Fluchtalternative für den aus dem Zent-
ralirak stammenden Kläger einstuft. Das Gericht habe die Erhe-
bung ergänzender Beweise zu den aus der Erkenntnismittelliste
verwerteten Gutachten und Auskünften abgelehnt, obwohl der
Kläger eine weitere Auskunft sowie ein Sachverständigengutach-
ten unbedingt beantragt und die Unterlassung entsprechender
Beweiserhebungen im Hinblick auf die Versorgung der Flüchtlin-
ge mit Lebensmitteln im Nordirak in einem Parallelverfahren
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zur Aufhebung der Entscheidung durch das Bundesverwaltungsge-
richt geführt habe (Beschluss vom 31. Juli 2002 - BVerwG 1 B
128.02 - InfAuslR 2002, 455). Eine weitere Beweiserhebung habe
auch nicht deshalb unterbleiben können, weil das Berufungsge-
richt einen Vergleich der Lebensbedingungen im Nordirak mit
denen im Zentralirak angestellt habe und zum Ergebnis gekommen
sei, die wirtschaftlichen Lebensverhältnisse im Nordirak seien
für zurückkehrende Flüchtlinge mit Herkunft aus dem Zentral-
irak nicht schlechter als in ihrem Herkunftsgebiet (UA S. 10/
11). Das Gericht habe einen fehlerhaften Vergleichsmaßstab an-
gelegt, der den Kriterien im Beschluss des Bundesverwaltungs-
gerichts vom 31. Juli 2002 widerspreche. Mit ihrem Vorbringen
vermag die Beschwerde eine Revisionszulassung wegen eines Auf-
klärungsmangels nicht zu erreichen.
Zu der als fehlerhaft gerügten Ablehnung der zwei Beweisanträ-
ge teilt die Beschwerde die Ablehnungsbegründung des Gerichts
mit, ohne sich mit ihr prozessrechtlich im Einzelnen auseinan-
der zu setzen und die Unzulässigkeit der Ablehnung in Bezug
auf die gegebene Begründung aufzuzeigen. Mit den umfangreichen
Ausführungen dazu, dass die beigezogenen und verwerteten Er-
kenntnismittel "Mängel aufweisen, die die Sachverhaltsfest-
stellungen nicht tragfähig erscheinen lassen" (Beschwerdebe-
gründung S. 3 ff.) bzw. dass sie "nach den obigen Ausführungen
nicht mangelfrei" seien, sich "zudem im Vergleich zueinander"
widersprächen (a.a.O. S. 10), wird der Sache nach lediglich
die freie richterliche Beweiswürdigung angegriffen. Ein Mangel
der Erkenntnismittel, der zur Einholung weiterer Gutachten
verpflichtet hätte, wird damit nicht dargetan. Die Beschwerde
verkennt, dass es grundsätzlich dem Tatrichter obliegt zu be-
urteilen, ob die verwerteten Erkenntnismittel eine hinreichend
verlässliche Tatsachenfeststellung zur vollen Überzeugung des
Gerichts (§ 108 Abs. 1 VwGO) ergeben. Unter Zugrundelegung
seiner materiellen Rechtsauffassung brauchte das Gericht die
vom Kläger beantragten ergänzenden Beweise zur Versorgungslage
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im Nordirak außerdem nicht zu erheben, da es wegen der von ihm
festgestellten gleich schlechten oder noch schlechteren Ver-
sorgungslage im Zentralirak darauf nicht ankam. Nach ständiger
Rechtsprechung des Senats verpflichtet der Grundsatz der Amts-
ermittlung nicht zur Erhebung von Beweisen, die für die Ent-
scheidung des Rechtsstreits aus Sicht des erkennenden Gerichts
unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt von Bedeutung sind. Der
Vorwurf eines fehlerhaften Verfahrens ist nur dann gerechtfer-
tigt, wenn das Berufungsgericht nicht so verfahren ist, wie es
bei Zugrundelegung seiner eigenen materiellrechtlichen Auffas-
sung geboten war (stRspr, vgl. etwa Beschluss vom 18. Juni
1996 - BVerwG 9 B 140.96 - Buchholz 310 § 130 a VwGO Nr. 16).
Welche Maßstäbe für den auch nach der Rechtsprechung des Bun-
desverwaltungsgerichts anzustellenden Vergleich zwischen den
Lebensbedingungen im verfolgungsfreien Gebiet und im Her-
kunftsgebiet (vgl. Urteil vom 9. September 1997 - BVerwG 9 C
43.96 - BVerwGE 105, 204 <211 ff.>) anzulegen sind, ist eine
Frage des materiellen Rechts und nicht des Verfahrensrechts.
Das angefochtene Urteil vergleicht bei einem unverfolgt ausge-
reisten Flüchtling, als den es den Kläger ansieht (UA S. 5,
11), die gegenwärtige wirtschaftliche Situation im Nordirak
mit der im Zentralirak. Bei diesem Vergleich, den das Gericht
unter mehreren Gesichtspunkten vornimmt, kommt es zu der tat-
richterlichen Feststellung, dass die Lebensbedingungen im
Nordirak bei generalisierender Betrachtungsweise gegenwärtig
jedenfalls nicht schlechter, sondern eher besser seien als im
Zentralirak. Diese Annahme trägt die rechtliche Folgerung,
dass eine Fluchtalternative im Nordirak nicht im Hinblick auf
die Gewährleistung des wirtschaftlichen Existenzminimums aus-
geschlossen ist.
Nur zur Klarstellung weist der Senat darauf hin, dass der vom
Berufungsgericht für nicht Vorverfolgte gewählte Vergleichs-
maßstab mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
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in Einklang steht. Wie der Senat schon in seinem Urteil vom
9. September 1997 (a.a.O. S. 212) ausgeführt hat, hängt der
Zeitpunkt für den Vergleich der einander gegenüberzustellenden
wirtschaftlichen Situationen davon ab, für welchen Zeitpunkt
die Frage des Bestehens einer inländischen Fluchtalternative
zu beantworten ist. War ein Ausländer bereits vorverfolgt aus-
gereist, kommt es für die Erheblichkeit einer wirtschaftlichen
Notlage im verfolgungssicheren Gebiet darauf an, ob eine der-
artige Notlage im Zeitpunkt der Ausreise auch am Herkunftsort
bestanden hat. Ist dies zu bejahen, ist eine Notlage im Gebiet
der Fluchtalternative nicht verfolgungsbedingt. Ist nach den
bindenden Feststellungen des zweitinstanzlichen Tatsachenge-
richts hingegen - wie hier - davon auszugehen, dass der Aus-
länder nicht vorverfolgt ausgereist ist und es nur um die Fra-
ge geht, ob ihm gegenwärtig bei Rückkehr in seinen Herkunfts-
staat eine Verfolgungsgefahr droht, muss die wirtschaftliche
Lage im verfolgungsfreien Gebiet mit der Lage verglichen wer-
den, die im Zeitpunkt der Rückkehr am Herkunftsort besteht.
Besteht im Herkunftsgebiet eine entsprechende Notlage wie im
verfolgungsfreien Gebiet des Heimatstaates, kommt nach der
Rechtsprechung des Senats die Gewährung von Abschiebungsschutz
nach § 51 Abs. 1 AuslG nicht in Betracht. Denn die den Auslän-
der am verfolgungssicheren Ort des Heimatstaates erwartende
wirtschaftliche Not ist dann nicht verfolgungsbedingt und wür-
de ihn gegenwärtig auch am Herkunftsort treffen (Urteil vom
9. September 1997 a.a.O.). Dem widerspricht der Beschluss des
Senats vom 31. Juli 2002 - BVerwG 1 B 128.02 – a.a.O. nicht.
Die Beschwerde erkennt nicht, dass der beschließende Senat in
jenem Verfahren eine Vorverfolgung unterstellt hat, weil das
Oberverwaltungsgericht insoweit keine abschließenden Feststel-
lungen getroffen und sich hiermit bei der Prüfung der Flucht-
alternative nicht befasst hatte.
Gemessen an diesen Grundsätzen zeigt die Beschwerde eine Ver-
letzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht auch nicht da-
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durch auf, dass sie das Fehlen nachprüfbarer und nachvollzieh-
barer Feststellungen zu den Lebensbedingungen des Klägers im
Zentralirak vor seiner Ausreise rügt (Beschwerdebegründung
S. 11). Denn derartige Feststellungen waren unter Zugrundele-
gung des vom Gericht gewählten materiellrechtlichen Ver-
gleichsmaßstabs nicht entscheidungserheblich. Eine weitere
Aufklärungsrüge etwa dazu, dass das Berufungsgericht beantrag-
te oder sich ihm aufdrängende Beweiserhebungen über relevante
Unterschiede in der Versorgungslage zwischen dem Nordirak und
dem Zentralirak unterlassen hätte, erhebt die Beschwerde
nicht. Sie legt nicht einmal dar, dass der Kläger im Zentral-
irak tatsächlich in besseren Verhältnissen gelebt hat.
Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 133 Abs. 5
Satz 2 Halbsatz 2 VwGO).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichts-
kosten werden gemäß § 83 b Abs. 1 AsylVfG nicht erhoben. Der
Gegenstandswert ergibt sich aus § 83 b Abs. 2 AsylVfG.
Eckertz-Höfer
Hund
Prof. Dr. Dörig