Urteil des BVerwG vom 23.07.2003

Wahrung der Frist, Ablauf der Frist, Rechtliches Gehör, Die Post

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 386.02
OVG 8 A 3366/01.A
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. Juli 2003
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht H u n d und R i c h t e r
beschlossen:
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Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-
Westfalen vom 19. Juli 2002 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an
das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung in der Hauptsache bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt
der Kostenentscheidung in der Hauptsache.
G r ü n d e :
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Der Kläger rügt zu Recht als Verfahrensmangel
(§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), dass das Oberverwaltungsgericht die Berufung nicht als unzu-
lässig hätte verwerfen dürfen, ohne zuvor über den innerhalb der Berufungsbegründungsfrist
gestellten Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsan-
walts entschieden zu haben und ggf. Wiedereinsetzung nach Bewilligung von Prozesskos-
tenhilfe zu gewähren. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung verweist der Senat die
Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsgericht zurück.
Das Oberverwaltungsgericht hat in dem angefochtenen Beschluss, mit dem es die Berufung
des Klägers als unzulässig verworfen und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen
Versäumung der Berufungsbegründungsfrist nach § 124 a Abs. 6 VwGO versagt hat, ausge-
führt, dass dem Kläger Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist nicht
aus den von seiner Prozessbevollmächtigten im Wiedereinsetzungsgesuch vom 24. Juni
2002 geltend gemachten Gründen gewährt werden konnte. Das ist insofern nicht frei von
Bedenken, als das Oberverwaltungsgericht die anwaltlich versicherten Angaben der Pro-
zessbevollmächtigten des Klägers, sie habe das Original der Begründungsschrift vom
16. Mai 2002 "selbst in die Post gegeben", von vornherein als ungeeignet angesehen hat,
eine unverschuldete Versäumnis zu begründen. Die Beschwerde macht dagegen geltend,
dieses Vorbringen sei so zu verstehen gewesen, dass die Prozessbevollmächtigte des Klä-
gers den Schriftsatz am Tag der Zustellung des Zulassungsbeschlusses "auch selbst in den
Briefkasten der Post eingeworfen" hat. Falls das zutrifft, hätte eine Nachfrage bei der Pro-
zessbevollmächtigten des Klägers ergeben können, dass die Fristversäumung unverschuldet
war. Unter diesen Umständen spricht einiges dafür, dass das Oberverwaltungsgericht mit
seiner Auffassung, der Wiedereinsetzungsvortrag sei unheilbar unzureichend und nicht
ergänzungsfähig gewesen, die Anforderungen an die Darlegung eines Wiedereinsetzungs-
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grundes überspannt hat. Dagegen führen die weiteren mit der Beschwerde erhobenen Ein-
wände nicht auf einen Verfahrensfehler. Namentlich kann sich der Kläger nicht darauf beru-
fen, dass eine Berufungsbegründung nicht erforderlich gewesen wäre (vgl. Beschluss vom
22. Januar 2002 - BVerwG 1 B 11.02 - Buchholz 310 § 124 a VwGO Nr. 22 und Beschluss
vom 3. Dezember 2002 - BVerwG 1 B 429.02 - AuAS 2003, 94 = BayVBl 2003, 412).
Das Oberverwaltungsgericht hat jedenfalls nicht genügend beachtet, dass der Kläger inner-
halb der Berufungsbegründungsfrist durch den am 14. Juni 2002 beim Oberverwaltungsge-
richt eingegangenen Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 13. Juni 2002 Pro-
zesskostenhilfe und die Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten beantragt und hierzu
eine Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie einen Be-
scheid über die Gewährung von Sozialhilfe eingereicht hatte. Ohne über diesen - ordnungs-
gemäß begründeten und vollständigen - Antrag vorab zu entscheiden, hätte das Oberverwal-
tungsgericht die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen (a.A. OVG Koblenz, Be-
schluss vom 5. Mai 1999 - 10 A 10234/99 - AuAS 1999, 197; ähnlich für gerichtskostenfreie
Verfahren ohne Anwalts- und Begründungszwang VGH Mannheim Beschluss vom 22. Mai
2001 - 7 S 646/01 - NVwZ-RR 2001, 802; vgl. demgegenüber zum sozialgerichtlichen Ver-
fahren BVerfG, Kammer-Beschluss vom 18. Dezember 2001 - 1 BvR 391/01 - FamRZ 2002,
531). Da auch für die Berufungsbegründung Vertretungszwang durch einen Rechtsanwalt
besteht (§ 67 Abs. 1 Satz 1 VwGO und zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde vor
dem Bundesverwaltungsgericht zuletzt etwa Beschluss vom 20. Juli 2000 - BVerwG 1 B
37.00 - ), hätte das Oberverwaltungsgericht zunächst über den formell ordnungsge-
mäßen Prozesskostenhilfeantrag nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der vollstän-
digen Einreichung des Gesuchs entscheiden und die Erfolgsaussichten in der Hauptsache
prüfen müssen. Nur so konnte es den nach seinen Angaben auf Prozesskostenhilfe ange-
wiesenen Kläger in die Lage versetzen, sich durch einen ihm beigeordneten Rechtsanwalt im
Berufungsverfahren - und damit auch zur Abgabe der Berufungsbegründung nach § 124 a
Abs. 6 Satz 1 VwGO - vertreten zu lassen (oder - nach einer etwaigen Ablehnung des
Antrags - selbst zu entscheiden, ob er die Berufung zurücknimmt oder das Verfahren unter
Beantragung von Wiedereinsetzung in die abgelaufene Begründungsfrist auf eigene Kosten
fortsetzt [vgl. BVerfG, Kammer-Beschluss vom 8. Januar 1996 - 2 BvR 306/94 - ]).
Wäre das Oberverwaltungsgericht so vorgegangen, dann hätte es hier Prozesskostenhilfe
- im Hinblick auf den vorgelegten Sozialhilfebescheid und den erfolgreichen Antrag auf Zu-
lassung der Berufung - bewilligen und dem Kläger mit Rücksicht hierauf nach § 60 VwGO
Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist gewähren müssen (vgl.
zuletzt Beschluss vom 17. April 2002 - BVerwG 3 B 137.01 - DVBl 2002, 1050 zur
Gewährung von Wiedereinsetzung in die Einlegungs- und Begründungsfrist m.w.N.; vgl.
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etwa auch BVerfG, Kammer-Beschlüsse vom 26. September 2002 - 1 BvR 1419/01 - NVwZ
2003, 341 = DVBl 2003, 130 und vom 23. September 1992 - 2 BvR 871/92 - NJW 1993,
720). Denn der unbemittelte Kläger, der während des Laufs der Rechtsmittelfrist (oder - wie
hier - Rechtsmittelbegründungsfrist) ein formell ordnungsgemäßes Prozesskostenhilfege-
such eingereicht hat, hat alles getan, was von ihm zur Wahrung der Frist erwartet werden
kann (vgl. Beschluss vom 21. Januar 1999 - BVerwG 1 B 3.99 - Buchholz 310 § 166 VwGO
Nr. 38 unter Hinweis auf BGH, NJW-RR 1993, 451 m.w.N.). Solange das Oberverwaltungs-
gericht über den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren
nicht entschieden hatte, durfte es danach die Berufung nicht aus formalen Gründen als un-
zulässig verwerfen und dem Kläger damit endgültig die Berufungsinstanz verschließen. Der
Umstand, dass der Kläger seine Prozessbevollmächtigte möglicherweise schon vor der Be-
antragung von Prozesskostenhilfe für die zweite Instanz bzw. ohne Rücksicht auf den Erfolg
des Prozesskostenhilfeantrags mit der Durchführung des Verfahrens beauftragt hatte, recht-
fertigt keine abweichende Beurteilung. Die unbemittelte Partei darf nicht schlechter gestellt
werden, als wenn sie sich so verhalten hätte, wie es das Verfahrensrecht zulässt. Schließlich
hätte der Kläger Prozesskostenhilfe beantragen können, ohne eine Berufungsbegründung
vorzulegen; in diesem Falle hätte der Prozesskostenhilfeantrag nicht mit der vom Oberver-
waltungsgericht gegebenen formalen Begründung abgelehnt werden können (vgl. BVerfG,
Kammer-Beschluss vom 8. Januar 1996 a.a.O.; vgl. auch Kammer-Beschluss vom 13. Juli
1992 - 1 BvR 99/90 - NJW-RR 1993, 382). Durch die Vorgehensweise des Oberverwal-
tungsgerichts, das eine Wiedereinsetzung ohne Rücksicht auf den Prozesskostenhilfeantrag
ablehnt und gleichzeitig Prozesskostenhilfe mangels Erfolgsaussicht wegen Versäumung der
Berufungsbegründungsfrist versagt, wird der unbemittelte Kläger im Ergebnis gleich doppelt
benachteiligt. Ihm wird nicht nur der Zugang zur Berufungsinstanz endgültig versperrt, son-
dern auch die Freistellung vom Vergütungsanspruch des Rechtsanwalts, auf die er bei
richtiger Sachbehandlung Anspruch gehabt hätte, verweigert.
Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts verletzt Verfahrensrecht und im Hinblick auf
die Verweigerung des Zugangs zur Berufungsinstanz zugleich den Anspruch auf rechtliches
Gehör (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) und auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19
Abs. 4 GG).
Dem Kläger ist nunmehr auf der Grundlage des vollständigen und an sich begründeten Pro-
zesskostenhilfegesuchs vom 13. Juni 2002 Wiedereinsetzung in die Berufungsbegründungs-
frist zu gewähren und die Berufung im Hinblick auf die mit dem Wiedereinsetzungsantrag
nachgeholte Berufungsbegründung (durch Einreichung der Begründungsschrift vom 16. Mai
2002, die - wie regelmäßig so auch hier - in zulässiger Weise auf die erfolgreiche Begrün-
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dung des Antrags auf Zulassung der Berufung Bezug nimmt
2001 - BVerwG 1 C 33.00 - BVerwGE 114, 155>) als zulässig zu behandeln.
Eckertz-Höfer Hund Richter
Sachgebiet :
BVerwGE : nein
Verwaltungsprozessrecht
Fachpresse : ja
Rechtsquellen:
VwGO §§ 60, 125, 124 Abs. 6, § 166
Stichworte :
Prozesskostenhilfe für Berufungsbegründung; vorrangige Pflicht zur Bescheidung des An-
trags auf Prozesskostenhilfe; Versäumung der Begründungsfrist; Wiedereinsetzung; Verwer-
fung der Berufung.
Leitsatz :
Hat das Oberverwaltungsgericht über den vor Ablauf der Frist zur Begründung der zugelas-
senen Berufung gestellten (ordnungsgemäßen) Antrag auf Bewilligung von Prozesskosten-
hilfe nicht vorab entschieden, darf es die Berufung nicht wegen Versäumung der Berufungs-
begründungsfrist als unzulässig verwerfen.
Beschluss des 1. Senats vom 23. Juli 2003 - BVerwG 1 B 386.02
I. VG Aachen vom 01.08.2001 - Az.: VG 6 K 1693/98.A -
II. OVG Münster vom 19.07.2002 - Az.: OVG 8 A 3366/01.A -