Urteil des BVerwG vom 09.09.2003

Grundsatz der Unmittelbarkeit, Persönliche Anhörung, Hauptsache, Politik

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 371.02
VGH 9 B 99.30502
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 9. September 2003
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht H u n d und Prof. Dr. D ö r i g
beschlossen:
Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom
17. Juli 2002 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entschei-
dung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung in der Hauptsache bleibt der Schluss-
entscheidung vorbehalten. Die Entscheidung über die Kosten
des Beschwerdeverfahrens folgt der vorbehaltenen Kostenent-
scheidung in der Hauptsache.
G r ü n d e :
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Die Beschwerde rügt zu Recht einen
Verstoß des Berufungsgerichts gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Be-
weisaufnahme (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 96 VwGO). Wegen dieses Verfahrensmangels,
auf dem die Entscheidung beruht, weist der Senat die Sache gemäß § 133 Abs. 6
VwGO im Interesse der Verfahrensbeschleunigung unter Aufhebung des angefoch-
tenen Beschlusses an das Berufungsgericht zurück.
Der aus Äthiopien stammende Beigeladene amharischer Volkszugehörigkeit hat zur
Begründung seines Asylantrags u.a. geltend gemacht, er sei am 23. Juli 1995 von
Sicherheitskräften unter der Beschuldigung, Politik und keine Religion betrieben zu
haben, festgenommen worden, nachdem er bei einer großen Versammlung (ca.
23 000 bis 25 000 Personen) der Pfingstgemeinden in Hosa'ana als Prediger und
Sänger aufgetreten sei. Während seiner anschließenden Inhaftierung, der er erst
durch Flucht - mit einem Mitgefangenen - am 3. September 1995 entkommen sei, sei
er - außer am Tag der Festnahme - nicht weiter vernommen oder angeklagt worden.
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Das Berufungsgericht hat im vereinfachten Berufungsverfahren nach § 130 a VwGO
entschieden und hierzu ausgeführt (BA S. 5), "der Nachweis, dass das fragliche Tref-
fen der Pfingstgemeinden stattgefunden und der Beigeladene daran teilgenommen"
habe, sei "nicht erbracht". Der Beigeladene habe - angesichts dessen, dass seit 1991
alle Kirchen in Äthiopien öffentlich zugängliche Gottesdienste abhalten durften und
angesichts der seit 1995 verfassungsrechtlich gewährten Freiheit des religiösen Be-
kenntnisses - "nicht glaubhaft gemacht", dass ihm "staatlicherseits eine unerlaubte
Predigertätigkeit zur Last gelegt wurde"; er habe auch nicht im Verdacht der politi-
schen Agitation gestanden (BA S. 7).
Die Beschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht den Verfolgungsvortrag
des Beigeladenen - den sowohl das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge wie auch das Verwaltungsgericht geglaubt haben - nicht abweichend - als
"unglaubhaft", der Sache nach aber zumindest auch für unglaubwürdig - hätte bewer-
ten dürfen, ohne sich zuvor durch persönliche Anhörung ein eigenes Bild unter Be-
rücksichtigung der Glaubwürdigkeit des Beigeladenen gemacht zu haben (vgl. Be-
schlüsse vom 17. April 2003 - BVerwG 1 B 226.02 -; 11. Juni 2002 - BVerwG 1 B
37.02 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 260 und vom 10. Mai 2002 - BVerwG 1 B
392.01 - Buchholz a.a.O. Nr. 259 = NVwZ 2002, 1381).
Die Entscheidung beruht auch auf diesem Verfahrensmangel, obwohl das Beru-
fungsgericht seine Entscheidung ergänzend darauf gestützt hat (BA S. 8 ff.), auch bei
Zugrundelegen des eigenen Vorbringens des Beigeladenen sei nicht dargetan und
auch "zusammenfassend nicht glaubhaft gemacht", ihm hätten zum Zeitpunkt der
Ausreise asylerhebliche Maßnahmen gedroht.
Entgegen seinen Ausführungen legt das Berufungsgericht nämlich nicht in vollem
Umfang die eigene Aussage des Beigeladenen zugrunde, insbesondere nicht, dass
er im Anschluss an seinen Auftritt als Prediger und Sänger von Sicherheitskräften
unter der Beschuldigung, Politik und keine Religion betrieben zu haben, festgenom-
men und deshalb bis 3. September 1995 inhaftiert worden sei. Auch insoweit hätte
das Berufungsgericht den Beigeladenen zu dem offenbar nicht geglaubten Teil sei-
nes Vorbringens selbst anhören müssen. Das Berufungsgericht hat mithin eine Vor-
verfolgung des Beigeladenen nicht verfahrensfehlerfrei verneint. Es ist daher - wie
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die Beschwerde zutreffend darlegt - nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht
bei einer persönlichen Anhörung eine Vorverfolgung bejaht hätte und die Prüfung
von Nachfluchtgründen nach dem herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab hätte
vornehmen müssen, was bisher - aus der Sicht des Berufungsgerichts folgerichtig -
nicht geschehen ist. Zu den zitierten missverständlichen Formulierungen in der Beru-
fungsentscheidung, der Beigeladene habe den Nachweis seiner Verfolgung nicht
erbracht bzw. eine solche nicht glaubhaft gemacht, bemerkt der Senat, dass den
Asylbewerber keine Beweisführungspflicht trifft (vgl. Beschluss vom 19. Oktober
2001 - BVerwG 1 B 24.01 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 317 und Urteil vom
29. Juni 1999 - BVerwG 9 C 36.98 - BVerwGE 109, 174; vgl. ferner etwa Beschluss
vom 29. November 1996 - BVerwG 9 B 293.96).
Auf die außerdem von der Beschwerde erhobene Divergenzrüge, die allerdings nicht
den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend dargelegt ist,
kommt es nicht mehr an.
Eckertz-Höfer Hund Prof. Dr. Dörig