Urteil des BVerwG vom 16.09.2015

Genfer Flüchtlingskonvention, Bundesamt, Anerkennung, Drittstaat

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 36.15
OVG 9 A 1380/12.A
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 16. September 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit
und die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Fricke und Dr. Rudolph
beschlossen:
Auf die Beschwerde der Beklagten wird das Urteil des
Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-
Westfalen vom 27. April 2015 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwie-
sen.
Die Entscheidung über die Kosten in der Hauptsache
bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfah-
rens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der
Hauptsache.
G r ü n d e :
I
Der Kläger, ein irakischer Volkszugehöriger assyrischer Volks- und chaldäisch-
römisch-katholischer Religionszugehörigkeit, reiste 2009 auf dem Luftweg von
Griechenland kommend in das Bundesgebiet ein und beantragte seine Aner-
kennung als Asylberechtigter. Zu seinem Reiseweg gab er an, er habe den Irak
Ende 2007 verlassen und sei nach Aufenthalten in Syrien, der Türkei und Grie-
chenland nach Deutschland gekommen. Das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge (Bundesamt) machte von seinem Selbsteintrittsrecht Gebrauch. Mit
Bescheid vom 1. September 2011 erkannte es dem Kläger die Flüchtlingsei-
genschaft wegen Gruppenverfolgung als Christ zu, den Antrag auf Anerken-
nung als Asylberechtigter lehnte es hingegen wegen Einreise aus einem siche-
ren Drittstaat ab. Das Verwaltungsgericht hat der auf Anerkennung als Asylbe-
rechtigter gerichteten Klage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten hat beim
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Oberverwaltungsgericht keinen Erfolg gehabt. Dabei hat das Berufungsgericht
offengelassen, ob der Kläger trotz seiner Einreise aus einem sicheren Drittstaat
im Sinne des Art. 16a Abs. 2 GG (Griechenland) einen grundrechtlichen An-
spruch auf Anerkennung als Asylberechtigter hat, da ihm jedenfalls einfachge-
setzlich nach § 26a Abs. 1 Satz 3 AsylVfG ein Anspruch auf Zuerkennung der
Rechtsstellung eines Asylberechtigten zustehe.
Hiergegen wendet sich die Beschwerde der Beklagten, mit der diese die Zulas-
sung der Revision erstrebt.
II
Die unter anderem auf Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte
Beschwerde der Beklagten hat Erfolg. Aus Gründen der Verfahrensbeschleuni-
gung macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, die Berufungsentschei-
dung aufzuheben und den Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO zur ander-
weitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zu-
rückzuverweisen.
Die Beklagte rügt der Sache nach zu Recht, dass das Berufungsgericht seiner
Begründungspflicht nach § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO hinsichtlich der Frage, ob
einer Asylanerkennung des Klägers seine Voraufenthalte in anderen Staaten
entgegenstehen, nicht in der gebotenen Weise nachgekommen ist. Denn der
Kläger ist nach eigenen Angaben nicht nur über Griechenland nach Deutsch-
land eingereist, sondern hat sich zuvor längere Zeit in Syrien und in der Türkei
aufgehalten. Dem Berufungsurteil ist nicht zu entnehmen, dass das Berufungs-
gericht diesen Vortrag als unglaubhaft angesehen hat. Damit hätte - ungeachtet
der Frage, ob einer Asylanerkennung die Einreise aus einem kraft Verfassungs-
recht sicheren Drittstaat (Griechenland) entgegensteht, - vor allem näherer Dar-
legung bedurft, warum eine Asylanerkennung nicht mit Blick auf die vorange-
gangenen Aufenthalte in Syrien und der Türkei wegen anderweitiger Sicherheit
vor Verfolgung in einem sonstigen Drittstaat nach § 27 AsylVfG ausgeschlossen
ist; allein der Umstand, dass diese Frage von den Beteiligten nicht problemati-
siert worden war, machte entsprechende Darlegungen nicht entbehrlich
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(BVerwG, Beschluss vom 22. Juni 2011 - 10 B 12.11 - juris Rn. 2). Die Ausfüh-
rungen im Berufungsurteil, aus welchem Grund der Aufenthalt des Klägers in
Griechenland dem einfachgesetzlichen Anspruch auf Zuerkennung der Rechts-
stellung eines Asylberechtigten nicht entgegensteht, lassen nicht den Schluss
zu, das Berufungsgericht habe den Ausschlussgrund des § 27 Abs. 1 AsylVfG
in Bezug auf die Türkei geprüft und verneint.
Auf die übrigen von der Beschwerde erhobenen Rügen kommt es damit nicht
entscheidend an. Der Senat weist allerdings darauf hin, dass das Berufungsge-
richt im neuerlichen Berufungsverfahren zunächst der Frage nachzugehen ha-
ben wird, ob für die (nur) auf Asylanerkennung gerichtete Verpflichtungsklage
überhaupt ein Rechtsschutzbedürfnis besteht, nachdem das Bundesamt von
seinem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr.
343/2003 (Dublin-II-VO) Gebrauch gemacht und den Kläger mit (bestandskräf-
tigem) Bescheid vom 1. September 2011 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt
hat. Das deutsche Asylrecht unterscheidet zwar zwischen dem verfassungs-
und dem unionsrechtlich geregelten Flüchtlingsschutz. Nach dem Asylverfah-
rensgesetz umfasst ein Asylantrag grundsätzlich beide Begehren (vgl. § 13
AsylVfG) und hat das Bundesamt über diese in einem Bescheid zu entscheiden
(vgl. § 31 AsylVfG). Auch bei Gericht werden beide Begehren zulässigerweise
zusammen geltend gemacht. Lehnt das Bundesamt indes - wie hier - den An-
trag auf Anerkennung als Asylberechtigter ab, gewährt es aber zugleich unions-
rechtlichen Flüchtlingsschutz, bedarf besonderer Begründung, inwiefern die
gerichtliche Weiterverfolgung des Asylbegehrens mit dem Ziel der (zusätzli-
chen) Anerkennung als Asylberechtigten dem Kläger einen weiteren Vorteil
brächte. Denn der Gesetzgeber hat mit dem Zuwanderungsgesetz von 2004
Asylberechtigte und Flüchtlinge rechtlich weitgehend gleichgestellt, so dass der
Unterscheidung keine erhebliche praktische Bedeutung mehr zukommt, insbe-
sondere können sich beide Personengruppen auf die einem Flüchtling gegen-
über anderen Ausländern in der Genfer Flüchtlingskonvention gewährten Vor-
teile berufen. Hinsichtlich der aufenthaltsrechtlichen Folgen sind Asylberechtigte
und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, ebenfalls
gleichgestellt (vgl. etwa § 5 Abs. 3, § 25 Abs. 1 und 2 AufenthG hinsichtlich der
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und § 29 Abs. 2 AufenthG bezüglich Er-
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leichterungen beim Familiennachzug). Auch für das Familienasyl und den Fami-
lienflüchtlingsschutz bestehen nach § 26 AsylVfG inzwischen keine Unterschie-
de mehr. Bei dieser Sachlage obliegt es dem Kläger darzulegen, welche wei-
tergehenden Vorteile ihm die begehrte Asylanerkennung brächte. Andernfalls
wäre es eine überflüssige Inanspruchnahme der Gerichte, wenn diese trotz des
vom Bundesamt gewährten Flüchtlingsschutzes über die Asylanerkennung
sachlich entscheiden müssten. Dies zu verhindern ist Zweck der Sachurteilsvo-
raussetzung des Rechtsschutzbedürfnisses (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. April
1998 - 9 C 1.97 - BVerwGE 106, 339 <340 f.>).
Prof. Dr. Berlit
Fricke
Dr. Rudolph