Urteil des BVerwG vom 12.11.2004

Persönliche Anhörung, Rechtliches Gehör, Ermessensfehler, Inhaftierung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 33.04
VGH 12 UE 2543/03.A
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 12. November 2004
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. M a l l m a n n und
Prof. Dr. D ö r i g
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der
Revision in dem Beschluss des Hessischen Verwaltungsge-
richtshofs vom 20. November 2003 wird verworfen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
G r ü n d e :
Die Beschwerde ist unzulässig. Weder der geltend gemachte Zulassungsgrund der
grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) noch der
geltend gemachte Verfahrensmangel der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches
Gehör (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) sind entsprechend den Anfor-
derungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO dargelegt.
Die Darlegung eines Zulassungsgrundes nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO setzt die
Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revi-
sionsentscheidung erheblichen R e c h t s frage voraus. Eine solche lässt sich der
Beschwerde nicht entnehmen. Die von ihr aufgeworfene Frage, ob die Weigerung,
das Amt eines Dorfschützers in der Türkei zu übernehmen und deshalb inhaftiert
worden zu sein, zu einer landesweiten Verfolgung führt (Beschwerdebegründung
S. 2), ist keine Rechtsfrage, sondern zielt auf die Klärung der tatsächlichen politi-
schen Verhältnisse in der Türkei, die den Tatsachengerichten vorbehalten ist. Auch
das weitere Beschwerdevorbringen führt nicht auf eine rechtsgrundsätzlich klärungs-
bedürftige Problematik. Vielmehr wendet sich die Beschwerde in der Art einer Beru-
fungsbegründung gegen die ihrer Ansicht nach unzutreffende tatsächliche und recht-
liche Würdigung in dem Beschluss des Berufungsgerichts. Die Beschwerde verkennt
offenbar den Unterschied zwischen einer die Berufungszulassung rechtfertigenden
grundsätzlichen Bedeutung, die Tatsachenfragen umfasst, und der auf Rechtsfragen
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beschränkten Grundsatzprüfung durch das Revisionsgericht. Denn sie beruft sich
insoweit auf den "Zulassungsgrund des § 78 Abs. 3 Ziff. 1 AsylVfG" (Beschwerdebe-
gründung S. 6), der nur die Zulassung der Berufung, nicht aber der Revision betrifft.
Die Verfahrensrüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs des Klägers (§ 108 Abs. 2
VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) ist ebenfalls nicht schlüssig erhoben. Die Beschwerde
beanstandet, dass das Berufungsgericht trotz schriftsätzlich dargelegter Einwände
des Klägers ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, zeigt aber nicht auf, dass
die Entscheidung durch Beschluss nach § 130 a VwGO hier verfahrensfehlerhaft er-
gangen ist. Ob das Berufungsgericht den ihm nach § 130 a VwGO eröffneten Weg
der Entscheidung im Beschlussverfahren beschreitet, steht in seinem pflichtgemäßen
Ermessen, das nur auf sachfremde Erwägungen und grobe Fehleinschätzungen
überprüfbar ist (stRspr, etwa Beschluss vom 10. April 1992 - BVerwG 9 B 142.91 -
Buchholz 310 § 130 a VwGO Nr. 5). Anhaltspunkte für derartige Ermessensfehler
lassen sich der Beschwerde nicht entnehmen.
Einer Entscheidung nach § 130 a VwGO steht hier insbesondere nicht der von der
Beschwerde angeführte Umstand entgegen, dass vor dem Berufungsgericht bereits
eine mündliche Verhandlung stattgefunden hatte. Diese war vom Berufungsgericht
vor Zurückverweisung der Sache durch Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts
vom 13. August 2003 durchgeführt worden. Die Zurückverweisung "zur anderweitigen
Verhandlung und Entscheidung" (§ 144 Abs. 3 Nr. 2 VwGO) enthielt keine der Bin-
dungswirkung des § 144 Abs. 6 VwGO unterliegende rechtliche Beurteilung des Re-
visionsgerichts zum weiteren Verfahren durch das Berufungsgericht. Vielmehr wird
durch die Zurückverweisung das Verfahren vor dem Berufungsgericht in der Lage
wieder eröffnet, in der es sich zu der Zeit befand, als die Verhandlung vor dem Erge-
hen des angefochtenen Urteils geschlossen wurde. Eine Entscheidung im Beschluss-
verfahren ist unabhängig von der Verfahrensweise des Berufungsgerichts vor Zu-
rückverweisung dann zulässig, wenn dessen Voraussetzungen in dem neuen, durch
die Zurückverweisung eröffneten Verfahrensabschnitt erfüllt sind. Das hat das
Bundesverwaltungsgericht bereits für Art. 2 § 5 Abs. 1 Entlastungsgesetz vom
31. März 1978 (BGBl I 446) - EntlG -, die Vorläufervorschrift des § 130 a VwGO,
entschieden (vgl. Beschluss vom 5. August 1980 - BVerwG 4 B 114.80 - NJW 1981,
935). Schon in der damaligen Entscheidung wurde darauf hingewiesen, dass es nach
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Aufhebung des Berufungsurteils grundsätzlich einer neuen mündlichen Verhandlung
gemäß § 101 Abs. 1 VwGO bedarf, es sei denn dieses Erfordernis entfällt aufgrund
der allgemein dafür geltenden prozessualen Voraussetzungen. Hierzu zählen nun-
mehr diejenigen des § 130 a VwGO ebenso wie damals die des Art. 2 § 5 Abs. 1
EntlG. Der Gesetzgeber hat mit der Schaffung von § 130 a VwGO durch das Vierte
Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung vom 17. Dezember 1990
(BGBl I 2809) die Entscheidungsmöglichkeit der Oberverwaltungsgerichte im Be-
schlussverfahren in Dauerrecht überführt und zugleich den Anwendungsbereich der
Vorschrift gegenüber Art. 2 § 5 Abs. 1 EntlG erweitert, indem von diesem Verfahren
nunmehr auch über den Zeitpunkt der Anberaumung einer mündlichen Verhandlung
und Anordnung einer Beweiserhebung hinaus Gebrauch gemacht werden kann (vgl.
hierzu Beschluss vom 16. Juni 1999 - BVerwG 9 B 1084.98 - Buchholz 310 § 130 a
VwGO Nr. 40, S. 18 f.). Mit der Regelung in § 130 a VwGO sollte den Oberverwal-
tungsgerichten nach dem Willen des Gesetzgebers das notwendige Instrument an die
Hand gegeben werden, um "eindeutig aussichtslose Berufungen rasch und ohne un-
angemessenen Verfahrensaufwand zu erledigen" (Begründung des Gesetzentwurfes
der Bundesregierung vom 27. April 1990, BTDrucks 11/7030, S. 31). Den Wegfall der
in der Vorläufervorschrift im Entlastungsgesetz noch enthaltenen zeitlichen Grenze
hat er für den Gerichtsbescheid, dessen Regelung insoweit entsprechend erfolgte,
damit begründet, dass die Erledigung einer Streitsache in diesem vereinfachten Ver-
fahren sich nicht selten auch dann noch als sachgerecht anbietet, "wenn bereits eine
mündliche Verhandlung oder eine Beweisaufnahme stattgefunden hat" (a.a.O. S. 26).
Es würde dem Zweck der Verstetigung und Erweiterung der Möglichkeiten der Ober-
verwaltungsgerichte, im Beschlussverfahren zu entscheiden, zuwiderlaufen, wenn
eine in einem früheren Verfahrensstadium durchgeführte mündliche Verhandlung ei-
ne Sperrwirkung für eine Entscheidung im Beschlussverfahren nach § 130 a VwGO
entfaltete. Das gilt jedenfalls für den Fall der Zurückverweisung des Rechtsstreits
durch das Revisionsgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das
Berufungsgericht (so im Ergebnis auch Redeker/von Oertzen, VwGO, 13. Aufl.,
§ 130 a Rn. 1; Eichberger in: Schoch u.a., § 144 VwGO Rn. 111; vgl. ferner Seibert
in: Sodann/Ziekow, § 130 a Rn. 17; Kopp/Schenke, 13. Aufl., § 130 a Rn. 7; Bader
u.a., 2. Aufl., § 130 a Rn. 12; a.A. Happ in: Eyermann, 11. Aufl., § 130 a Rn. 6;
Meyer-Ladewig in: Schoch u.a., § 130 a Rn. 6).
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Ein Ermessensfehler des Gerichts ergibt sich nicht aus dem von der Beschwerde
hierfür herangezogenen Umstand, dass der Berichterstatter, vor dem der Kläger am
22. Mai 2001 als Partei vernommen wurde, dem nach § 130 a VwGO entscheidenden
Senat nicht mehr angehörte. Zwar beruft sich die Beschwerde darauf, dass sich auf-
grund dieses Umstandes keiner der entscheidenden Richter mehr ein persönliches
Bild von der Glaubwürdigkeit des Klägers habe machen können. Sie legt aber nicht
schlüssig dar, inwiefern es für die Entscheidung auf eine solche auf dem persönli-
chen Eindruck beruhende Glaubwürdigkeitsbeurteilung ankam. Das Berufungsgericht
hat seiner Entscheidung das Vorbringen des Klägers zugrunde gelegt, wie es sich
aufgrund seiner Angaben vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge und dem Verwaltungsgericht sowie aufgrund des Protokolls über seine
Vernehmung durch den damaligen Berichterstatter des Berufungsgerichts ergab (UA
S. 23). Allerdings hat es aufgrund der Würdigung der in das Verfahren eingeführten
Auskunftslage weder festgestellt, dass der Kläger vorverfolgt ausgereist ist noch dass
ihm eine asylrechtlich relevante Gefährdung bei einer Rückkehr in die Türkei droht
(UA S. 23 - 73). Die Beschwerde macht nicht ersichtlich, inwiefern sich dem Beru-
fungsgericht unter diesen Umständen eine persönliche Anhörung des Klägers hätte
aufdrängen müssen. Ein solches Erfordernis ergibt sich auch nicht aus dem von der
Beschwerde genannten Umstand, dass der Kläger bei einer persönlichen Anhörung
das Gericht hätte überzeugen können, dass sich u.a. aus dem Zusammenhang mit
der dreimonatigen Inhaftierung seines Bruders auch bei ihm ein "stärkerer Verdacht
auf PKK-Unterstützung" ergeben habe (Beschwerdebegründung S. 2). Denn das Be-
rufungsgericht hat diesen Vortrag seiner Entscheidung ausdrücklich zugrunde gelegt
(UA S. 22 f.), ohne dadurch jedoch zu einem anderen Ergebnis hinsichtlich einer dem
Kläger drohenden Verfolgungsgefahr zu gelangen. Unabhängig davon macht die Be-
schwerde auch insoweit nicht ersichtlich, weshalb in diesem Zusammenhang - über
einen entsprechenden Vortrag hinaus - eine persönliche Anhörung des Klägers er-
forderlich gewesen sein soll.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2
VwGO).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden
gemäß § 83 b Abs. 1 AsylVfG a.F. (= § 83 b AsylVfG n.F.) nicht erhoben; der Ge-
genstandswert ergibt sich aus § 83 b Abs. 2 AsylVfG a.F. (vgl. § 60 RVG).
Eckertz-Höfer
Dr. Mallmann
Prof. Dr. Dörig
Sachgebiet:
BVerwGE: nein
Verwaltungsprozessrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
VwGO
§ 130 a
EntlG
Art. 2 § 5 Abs. 1
Stichworte:
Entscheidung ohne mündliche Verhandlung; vereinfachtes Berufungsverfahren.
Leitsatz:
Eine bei erstmaliger Befassung mit der Sache vom Berufungsgericht durchgeführte
mündliche Verhandlung steht einer Entscheidung im Verfahren nach § 130 a VwGO
nicht entgegen, wenn nach Aufhebung eines Berufungsurteils und Zurückverweisung
der Sache an das Berufungsgericht die Voraussetzungen dieser Vorschrift in Bezug
auf den Verfahrensabschnitt nach der Zurückverweisung erfüllt sind.
Beschluss des 1. Senats vom 12. November 2004 - BVerwG 1 B 33.04
I. VG Wiesbaden vom 21.06.1996 - Az.: VG
VII/1 E 5438/92 -
II. VGH Kassel
vom 20.11.2003 - Az.: VGH 12 UE 2543/03.A -