Urteil des BVerwG vom 21.05.2003

Existenzminimum, Begründungspflicht, Asylbewerber, Unterbringung

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BESCHLUSS
BVerwG 1 B 320.02
OVG 7 A 10407/02.OVG
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 21. Mai 2003
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts
E c k e r t z - H ö f e r und die Richter am Bundes-
verwaltungsgericht R i c h t e r und
Prof. Dr. D ö r i g
beschlossen:
Die Beschwerde des Beteiligten gegen die Nicht-
zulassung der Revision in dem Beschluss des
Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom
31. August 2002 wird zurückgewiesen.
Der Beteiligte trägt die Kosten des Beschwerde-
verfahrens.
G r ü n d e :
Die Beschwerde, mit der sämtliche Revisionszulassungsgründe
des § 132 Abs. 2 VwGO geltend gemacht werden, hat keinen Er-
folg.
Die Rechtssache hat nicht die von der Beschwerde behauptete
grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Die Be-
schwerde hält die Frage für klärungsbedürftig, ob sich die in
wirtschaftlicher Hinsicht an die Zumutbarkeit einer inländi-
schen Fluchtalternative zu stellenden Mindestanforderungen auf
das zur Aufrechterhaltung der physischen Existenz absolut Not-
wendige beschränken oder ob der asylrechtliche Begriff des
Existenzminimums über den engeren Wortlaut hinausgehende Vor-
stellungen von einem menschenwürdigen Dasein umfasst. Die
rechtlichen Anforderungen an das wirtschaftliche Existenzmini-
mum, das am Ort der inländischen Fluchtalternative gegeben
sein muss, sind in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsge-
richts rechtsgrundsätzlich geklärt. Ein verfolgungssicherer
Ort bietet dem Ausländer das wirtschaftliche Existenzminimum
danach grundsätzlich immer dann, wenn er durch eigene Arbeit
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oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Über-
windung von Anfangsschwierigkeiten das zu seinem Lebensunter-
halt unbedingt Notwendige erlangen kann. Das ist nicht der
Fall, wenn der Asylsuchende am Ort der inländischen Fluchtal-
ternative bei der gebotenen grundsätzlich generalisierenden
Betrachtungsweise auf Dauer ein Leben zu erwarten hat, das zu
Hunger, Verelendung und schließlich zum Tode führt, oder wenn
er dort nichts anderes zu erwarten hat als ein "Dahinvegetie-
ren am Rande des Existenzminimums". Weitergehenden oder neuen
rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf zeigt die Beschwerde
hierzu nicht auf. Ihre in diesem Zusammenhang aufgeworfenen
Fragen zielen vielmehr auf die Klärung der konkreten Verhält-
nisse am Ort der innerstaatlichen Fluchtalternative - hier: im
Nordirak -, die den Tatsachengerichten vorbehalten ist und an-
hand derer im Einzelfall zu bestimmen ist, ob dort die konkre-
te Gefahr eines Lebens unterhalb des Existenzminimums droht.
Insbesondere ist die auch von der Beschwerde angesprochene
Frage, wie viele Kilokalorien eine von Hilfsorganisationen be-
reitgestellte tägliche Lebensmittelration umfassen muss, um im
Hinblick auf den Nahrungsbedarf das wirtschaftliche Existenz-
minimum zu gewährleisten, einer rechtsgrundsätzlichen Klärung
nicht zugänglich. Daran ändert sich auch nichts, wenn hierzu,
wie die Beschwerde geltend macht, von den Oberverwaltungsge-
richten unterschiedliche Standpunkte vertreten werden (so be-
reits Beschluss vom 31. Juli 2002 - BVerwG 1 B 128.02 -
Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 326 = InfAuslR 2002, 455
m.w.N.).
Die von der Beschwerde im Zusammenhang mit der Frage des wirt-
schaftlichen Existenzminimums gerügte Divergenz (§ 132 Abs. 2
Nr. 2 VwGO) liegt ebenfalls nicht vor. Die Beschwerde führt
aus, in der Berufungsentscheidung würden die rechtlichen
Grundsätze des Bundesverwaltungsgerichts weder erwähnt noch
sinngemäß angewendet; so habe das Berufungsgericht das Fehlen
eines wirtschaftlichen Existenzminimums nicht erst dann ange-
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nommen, wenn eine die physische Existenz bedrohende und
schließlich zum Tode führende Gefährdung vorliege, sondern
schon dann, wenn der normale Ernährungsbedarf nicht gewähr-
leistet sei. Diese Einwände treffen nicht zu. Das Berufungsge-
richt hat sich ausdrücklich und zustimmend auf die Rechtspre-
chung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungs-
gerichts zur Frage der inländischen Fluchtalternative und da-
mit auch zur Frage des wirtschaftlichen Existenzminimums bezo-
gen. Es hat geprüft, ob für einen aus dem Zentralirak stammen-
den Asylbewerber in einem von UN-Organisationen betreuten
Flüchtlingslager im Nordirak das erforderliche Existenzminimum
am Ort der inländischen Fluchtalternative gesichert ist, in-
wieweit eine Unterbringung dort mit Hunger und Verelendung
verbunden ist und welche Überlebensmöglichkeiten es in den La-
gern und außerhalb der Lager gegeben hat und derzeit gibt. Das
Berufungsgericht hat ferner - in inhaltlicher Übereinstimmung
mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung - der Sache nach
untersucht, ob einen Asylbewerber aus dem Zentralirak im Nord-
irak etwas anderes erwartet als eine ausweglose Lage bzw. ein
"Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums", und ist zu
dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger in eine "unzumutbare
wirtschaftlich-soziale Lage" kommen würde, in der eine men-
schenwürdige Existenz "kaum möglich" wäre und die sich "am un-
teren Rand des Existenzminimums" bewegen würde (BA S. 10, 12
und 14). Es kann dahinstehen, ob das Berufungsgericht bei sei-
ner Entscheidung alle rechtlichen Vorgaben insbesondere des
Bundesverwaltungsgerichts zutreffend umgesetzt hat. An einer
Divergenz im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO fehlt es jeden-
falls deshalb, weil das Berufungsgericht keinen seine Ent-
scheidung tragenden Rechtssatz aufgestellt hat, der zu den von
der Beschwerde angeführten Rechtssätzen des Bundesverfassungs-
gerichts und des Bundesverwaltungsgerichts in Widerspruch
steht.
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Ohne Erfolg rügt die Beschwerde schließlich einen Begründungs-
mangel im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO i.V.m. § 132
Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Die Beschwerde beanstandet, das Berufungs-
gericht habe sich mit der abweichenden Rechtsprechung anderer
Oberverwaltungsgerichte zur Frage einer zumutbaren Fluchtal-
ternative im Nordirak "nicht in erschöpfender Weise auseinan-
der gesetzt"; es genüge nicht, die gegenteiligen Entscheidun-
gen nur mit der Bemerkung "nicht nachvollziehbar" zu zitieren;
die Entscheidung des Berufungsgerichts sei deshalb selbst
nicht hinreichend nachvollziehbar begründet. Es trifft zu,
dass sich aufgrund der Begründungspflicht des § 108 Abs. 1
Satz 2 VwGO aus den Gründen einer gerichtlichen Entscheidung
für die Beteiligten und das Rechtsmittelgericht nachvollzieh-
bar ergeben muss, warum das Gericht beispielsweise Parteivor-
bringen für unerheblich gehalten oder Auffassungen bzw. Bewer-
tungen anderer Oberverwaltungsgerichte in wesentlichen Fragen
nicht geteilt hat (vgl. Beschluss vom 1. September 1997
- BVerwG 8 B 144.97 - Buchholz 406.11 § 128 BauGB Nr. 50
m.w.N.). Dieser Begründungspflicht hat das Berufungsgericht im
Entscheidungsfall jedoch genügt. Es hat ausgeführt, die von
der Beschwerde genannte Entscheidung des OVG Magdeburg sei
hinsichtlich der Frage des wirtschaftlichen Existenzminimums
"insoweit nicht nachvollziehbar", als dort (offenbar) von
westeuropäischen Standards ausgegangen worden sei; in der Ent-
scheidung des VGH Mannheim werde zum Existenzminimum eine an-
dere Auffassung vertreten, wobei der VGH schwerpunktmäßig die
allgemeine Lage im Nordirak - und nicht speziell die Situation
in den Flüchtlingslagern - beurteilt habe. Diese Begründungen
mögen knapp sein, sie lassen aber hinreichend erkennen, aus
welchen Gründen das Berufungsgericht von der Bewertung der
beiden Oberverwaltungsgerichte abgewichen ist. Auf die Ent-
scheidung des OVG Münster, die der Rechtsprechung der Oberver-
waltungsgerichte Magdeburg und Mannheim offensichtlich gefolgt
ist, kann sich die Beschwerde in diesem Zusammenhang schon
deshalb nicht beziehen, weil diese Entscheidung mehrere Wochen
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nach der hier angefochtenen Berufungsentscheidung ergangen
ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichts-
kosten werden gemäß § 83 b Abs. 1 AsylVfG nicht erhoben. Der
Gegenstandswert ergibt sich aus § 83 b Abs. 2 AsylVfG.
Eckertz-Höfer Richter Prof. Dr. Dörig