Urteil des BVerwG vom 30.06.2011

Achtung des Privatlebens, Eltern, Ausreise, Aufenthaltserlaubnis

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 32.10, 1 PKH 21.10
OVG 7 A 10716/10
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 30. Juni 2011
durch die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Richter und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
beschlossen:
Der Antrag der Kläger auf Bewilligung von Prozesskos-
tenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts wird abge-
lehnt.
Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der
Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts
Rheinland-Pfalz vom 7. September 2010 wird zurückge-
wiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 20 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
I
Die Kläger zu 1 und 2 sind türkische Staatsangehörige und kamen 1995 nach
Deutschland. Sie sind die Eltern der 1996 geborenen Klägerin zu 4 und des
2003 geborenen Klägers zu 3.
Die Eltern haben jahrelang über ihre und die Identität ihrer Kinder getäuscht
und sind deshalb strafgerichtlich verurteilt worden. Wegen der Täuschung ha-
ben alle vier Kläger keine gültigen türkischen Pässe, weil die Geburtsregister
noch nicht berichtigt worden sind. Die Kläger, die geduldet werden, erstreben
die Erteilung von humanitären Aufenthaltserlaubnissen. Wegen der guten schu-
lischen und sozialen Integration der Klägerin zu 4 hat die Beklagte zugesagt,
dieser Klägerin - bei Erfüllung der Passpflicht - nach Inkrafttreten des geplanten
§ 25a AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen und die drei anderen Klä-
ger bis zur Volljährigkeit der Klägerin zu 4 zu dulden. Die Kläger haben mitge-
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teilt, dass gleichwohl über die vorliegende Beschwerde entschieden werden
soll.
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Den Klägern kann die beantragte Prozesskostenhilfe nicht bewilligt werden, weil
ihre Rechtsverfolgung aus den nachstehenden Gründen keine Aussicht auf Er-
folg hat (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO).
Die Beschwerde, die auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und
auf Verfahrensmängel gestützt ist (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO), hat keinen
Erfolg. Die Beschwerde macht geltend, die Rechtssache habe in dreierlei Hin-
sicht grundsätzliche Bedeutung. So sei zunächst klärungsbedürftig, ob § 104a
Abs. 3 AufenthG - die Zurechnung von Straftaten der Eltern gegenüber ihren
minderjährigen Kindern - mit Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar sei. Zu diesem Fragen-
komplex sind inzwischen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und
des Bundesverwaltungsgerichts ergangen (BVerfG, Beschluss vom
16. Dezember 2010 - 2 BvL 16/09 - InfAuslR 2011, 141; BVerwG, Urteil vom
11. Januar 2011 - BVerwG 1 C 22.09 - InfAuslR 2011, 240). Es ist nicht ersicht-
lich, dass anlässlich des Entscheidungsfalles weitergehender Klärungsbedarf
besteht. Die Beschwerde verkennt im Übrigen, dass es bezüglich der Kinder auf
die Zurechnungsnorm des § 104a Abs. 3 AufenthG nicht ankommt, da § 104a
Abs. 1 Satz 1 AufenthG minderjährigen Kindern, die mit ihren Eltern in häusli-
cher Gemeinschaft leben, nur ein akzessorisches Aufenthaltsrecht gewährt,
also voraussetzt, dass die Eltern ihrerseits einen Anspruch auf Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift haben (vgl. Urteil vom 11. Januar
2011 a.a.O. Rn. 44).
Die Beschwerde hält ferner für klärungsbedürftig, inwieweit die UN-
Kinderrechtskonvention im Rahmen „der Prüfung der Verhältnismäßigkeit bei
Prüfungen der Zumutbarkeit der Ausreise bei § 25 Abs. 5 AufenthG anzuwen-
den“ sei. In dieser Allgemeinheit würde sich die aufgeworfene Frage in einem
Revisionsverfahren nicht stellen. Eine Eingrenzung der Fragestellung nimmt die
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Beschwerde - von einem pauschalen Verweis auf Art. 3 Abs. 1 der Konvention
abgesehen - auch in ihrer weiteren Begründung nicht vor. Soweit sich die Be-
schwerde auf Vorbringen im Berufungszulassungsverfahren bezieht, das sei-
nerseits auf einen 26-seitigen Fachaufsatz verweist, genügt sie damit nicht den
Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO.
Schließlich sieht die Beschwerde Klärungsbedarf dahingehend, „ob die positive
Integration eines ausländischen minderjährigen Kindes in die deutschen Le-
bensverhältnisse im Einzelfall im Licht des ihm zukommenden allgemeinen
Persönlichkeitsrechts gemäß Art. 2 Abs. 1 GG und seinen entsprechenden
Rechten aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ein solches Gewicht hat, dass die Ausreise für
einen solchen Minderjährigen unzumutbar im Sinne von unverhältnismäßig wä-
re, mit der Folge, dass einem Minderjährigen eine Aufenthaltserlaubnis gemäß
§ 25 Abs. 5 AufenthG zugesprochen werden müsste und - daran anknüpfend -
ebenso den mit diesem Kind in häuslicher Lebensgemeinschaft lebenden Mit-
gliedern der Kernfamilie (Eltern und minderjährige Geschwister), selbst wenn in
deren Person ggf. Ausschlussgründe für einen Aufenthaltstitel vorliegen“. Auch
mit dieser Fragestellung und dem weiteren Vorbringen zu diesem Komplex ver-
fehlt die Beschwerde die Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3
VwGO. Das Berufungsgericht ist bei der Prüfung eines sich aus Art. 8 EMRK
bzw. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ergebenden inlandsbezogenen Aus-
reisehindernisses zugunsten der Klägerin zu 4 davon ausgegangen, dass der
Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1
EMRK nicht nur bei einem formell legalisierten Aufenthalt in Betracht zu ziehen
ist. Im Ergebnis hat es einen unverhältnismäßigen Eingriff aber aufgrund einer
einzelfallbezogenen Interessenabwägung abgelehnt. Einen grundsätzlichen,
über den Fall der Klägerin zu 4 hinausgehenden Klärungsbedarf legt die Be-
schwerde in diesem Zusammenhang nicht dar.
Die von der Beschwerde behaupteten Verfahrensmängel liegen nicht vor. So-
weit die Beschwerde sich auf Ausführungen des Verwaltungsgerichts bzw. der
Kläger im Berufungszulassungsverfahren bezieht, ist ein Revisionszulassungs-
grund nicht dargetan. Entgegen der Auffassung der Beschwerde hat das Beru-
fungsgericht weder den Anspruch der Kläger auf Gewährung rechtlichen Ge-
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hörs noch seine Aufklärungspflicht verletzt. Das Vorbringen der Beschwerde
nimmt in diesem Zusammenhang Bezug auf die Bewertung des Berufungsge-
richts hinsichtlich der „Nachteile“, die für die Klägerin zu 4 mit einer Ausreise in
die Türkei verbunden wären. So beanstandet die Beschwerde, das Berufungs-
gericht habe ohne vorherigen Hinweis „unterstellt“, dass die Kläger in den Wes-
ten der Türkei zurückkehren würden. Tatsächlich hat das Berufungsgericht nur
ausgeführt, eine „Rückkehr“ der Eltern bzw. ein Wegzug der Eltern mit den bei-
den minderjährigen Kindern in den westlichen Teil der Türkei sei, so habe sich
dies in der mündlichen Verhandlung „gezeigt“, aufgrund der Familiengeschichte
und der dort lebenden Verwandtschaft naheliegend (UA S. 14).
Ins Leere geht auch der Vorwurf der Beschwerde hinsichtlich der weiteren
Schulausbildung der Klägerin zu 4 in der Türkei. Die Beschwerde meint, das
Berufungsgericht hätte hierzu weiter aufklären müssen, wobei sich „mit an Si-
cherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ergeben … hätte, dass die nicht tür-
kisch sprechende Klägerin zu 4 keinerlei Möglichkeiten hätte, in zumutbarer Zeit
die schulische Ausbildung fortzusetzen“. Tatsächlich hat das Berufungsgericht
eine Ausreise der Klägerin zu 4 in die Türkei auch dann für zumutbar gehalten,
wenn sie ohne weitere schulische Ausbildung bliebe, es ihr aber aufgrund der
noch zu erlernenden sprachlichen Fähigkeiten und der aus Deutschland mitge-
brachten Bildung mit Kenntnis der Fremdsprachen Deutsch und Englisch
durchaus gelingen könne, sich gleichwohl in beruflicher Hinsicht zu qualifizieren
und eine noch angemessene persönliche Entwicklung zu nehmen (UA S. 14).
Schließlich moniert die Beschwerde, das Berufungsgericht „setze voraus“, dass
die volljährigen Kinder in Deutschland im Beruf stünden, was nahelege, dass
sie die restliche Familie in der Türkei finanziell unterstützen würden. Auch die-
ser Vorwurf erschließt sich nicht. Der Niederschrift über die Berufungsverhand-
lung ist zu entnehmen, dass zwei der vier volljährigen Kinder in Deutschland
berufstätig sind. Und es entspricht dem eigenen Vorbringen der Kläger, dass
sie keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen würden, weil sie von einem der voll-
jährigen Kinder unterhalten würden.
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Im Zusammenhang mit ihren Verfahrensrügen übersieht die Beschwerde im
Übrigen auch, dass das Berufungsgericht einen Verbleib der Klägerin zu 4 in
Deutschland für rechtlich möglich gehalten hat, sofern einer Bezugsperson aus
dem näheren Familienkreis - also etwa dem 1987 geborenen Bruder - die Sorge
für sie überantwortet würde (UA S. 15).
Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2
Halbs. 2 VwGO).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestset-
zung ergibt sich aus § 47 Abs. 3 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG.
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