Urteil des BVerwG vom 24.02.2015

Pakistan, Gefahr, Zahl, Christentum

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 31.14
VGH A 11 S 1128/14
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 24. Februar 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Prof. Dr. Kraft
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulas-
sung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsge-
richtshofs Baden-Württemberg vom 27. August 2014
wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfah-
rens.
G r ü n d e :
Die auf das Vorliegen einer Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) sowie die
Verletzung der gerichtlichen Ermittlungspflicht (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 86
Abs. 1 Satz 1 VwGO) gestützte Beschwerde des Klägers bleibt ohne Erfolg.
1. Die Beschwerde macht zunächst eine Abweichung von der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts geltend. Eine Divergenz im Sinne des § 132
Abs. 2 Nr. 2 VwGO setzt voraus, dass das angefochtene Urteil in einem inhalt-
lich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechts-
satzes einem ebensolchen Rechtssatz widerspricht, den eines der in § 132
Abs. 2 Nr. 2 VwGO bezeichneten Gerichte in Anwendung derselben Rechtsvor-
schrift aufgestellt hat. Daran fehlt es hier.
Die Beschwerde beruft sich auf einen im 3. Leitsatz des Beschlusses des Bun-
desverfassungsgerichts vom 23. Januar 1991 (2 BvR 902/85, 515/89, 1827/89 -
BVerfGE 83, 216) zur Auslegung von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F. aufgestell-
ten Rechtssatz. Danach stellten die unmittelbare Betroffenheit des Einzelnen
durch gerade auf ihn zielende Verfolgungsmaßnahmen sowie die Gruppenge-
richtetheit der Verfolgung die Eckpunkte eines durch fließende Übergänge ge-
kennzeichneten Erscheinungsbildes politischer Verfolgung dar. Die gegenwärti-
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ge Gefahr politischer Verfolgung für einen Gruppenangehörigen könne daher
aus dem Schicksal anderer Gruppenmitglieder möglicherweise auch dann her-
zuleiten sein, wenn diese Referenzfälle es noch nicht rechtfertigten, vom Typus
einer gruppengerichteten Verfolgung auszugehen.
Hiervon weiche der vom Verwaltungsgerichtshof auf Seite 14 seines Urteils (zu
§§ 3, 3a bis d AsylVfG) aufgestellte Rechtssatz ab, dass für die Annahme einer
alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung eine be-
stimmte Verfolgungsdichte erforderlich sei, welche die Regelvermutung eigener
Verfolgung rechtfertige. Hierfür sei die Gefahr einer so großen Vielzahl von Ein-
griffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich,
dass es sich dabei nicht nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder
um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handle. Die Verfolgungshandlungen
müssten vielmehr im Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltende Grup-
penmitglieder zielen und sich im Verfolgungszeitraum in quantitativer und quali-
tativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus
nicht nur die Möglichkeit, sondern für jeden Gruppenangehörigen ohne weiteres
die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entstehe.
Es kann offenbleiben, ob - wie von der Beschwerde behauptet - die vom Bun-
desverfassungsgericht zum Grundrecht auf Asyl entwickelten Maßstäbe zur
Gruppenverfolgung und zur individuellen, aus gruppenbezogenen Merkmalen
ableitbaren Gefahr der Verfolgung auch für die Zuerkennung der Flüchtlingsei-
genschaft nach § 3 AsylVfG gelten. Denn selbst wenn dies der Fall wäre, liegt
die geltend gemachte Abweichung nicht vor.
Das Bundesverfassungsgericht hat Maßstäbe für eine alle Gruppenmitglieder
erfassende Verfolgung und für eine hiervon gesondert zu beurteilende Einzel-
verfolgung bestimmter Gruppenmitglieder entwickelt. Während es für die An-
nahme einer Gruppenverfolgung verlangt, dass eine alle Gruppenmitglieder
erfassende Verfolgung vorliegt, genügt es für eine Einzelverfolgung unter An-
knüpfung an die Gruppenzugehörigkeit, dass asylrelevante Maßnahmen - wenn
auch nicht für alle - so doch für einzelne Gruppenangehörige Verfolgungscha-
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rakter besitzen, die sich in vergleichbarer Lage befinden (Beschluss vom
23. Januar 1991 - 2 BvR 902/85, 515/89, 1827/89 - BVerfGE 83, 216, 232 f.).
Der Verwaltungsgerichtshof hat seinem angefochtenen Urteil Grundsätze für
die Gruppenverfolgung zugrunde gelegt, die denen des Bundesverfassungsge-
richts entsprechen (UA S. 14). Er ist bei seiner Entscheidung auch nicht von
einem vom Bundesverfassungsgericht abweichenden Maßstab für die gruppen-
bezogene Einzelverfolgung ausgegangen, hat sich hierauf vielmehr gar nicht
bezogen. Dessen ungeachtet hat er geprüft, ob dem Kläger "aus individuellen
Verfolgungsgründen" die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist und ist hier-
bei auch auf seine Gruppenzugehörigkeit zu den Christen in Pakistan einge-
gangen sowie die besondere Lage von christlichen Konvertiten (UA S. 17 ff.).
Dass der Verwaltungsgerichtshof bei der Würdigung der ermittelten Tatsachen
zur Gefahr einer Gruppenverfolgung und individuellen Verfolgung zu einem Er-
gebnis gekommen ist, das der Bewertung der Beschwerde widerspricht, recht-
fertigt nicht die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO.
2. Die Beschwerde rügt weiterhin eine Abweichung des angefochtenen Urteils
von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Insoweit fehlt es be-
reits an der hinreichenden Darlegung einer Divergenz entsprechend den Anfor-
derungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO vor. Denn die Beschwerde bezeich-
net keinen Rechtssatz in der angefochtenen Entscheidung, der von einem sol-
chen des Bundesverwaltungsgerichts abweicht.
Die Beschwerde legt zwar zutreffend dar, dass das Bundesverwaltungsgericht
in seinem Urteil vom 20. Februar 2013 (10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 33)
den Rechtssatz aufgestellt hat, dass zur Ermittlung der Verfolgungswahrschein-
lichkeit aufgrund einer Gruppenverfolgung zunächst die Zahl der Gruppenange-
hörigen jedenfalls annäherungsweise zu bestimmen ist, um dann in einem wei-
teren Schritt festzustellen, wie viele Verfolgungsakte die Angehörigen dieser
Gruppe treffen. Die Beschwerde bezeichnet keinen hiervon abweichenden
Rechtssatz des Verwaltungsgerichtshofs, sondern rügt lediglich, das Beru-
fungsgericht habe es "unterlassen, die Zahl der zum Christentum konvertierten
Muslime und die Anzahl der Verfolgungsschläge gegen Konvertiten in Pakistan
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zu ermitteln" (Beschwerdebegründung S. 9). Diese Rüge wendet sich der Sa-
che nach gegen die Rechtsanwendung des Berufungsgerichts im Einzelfall, legt
aber keine Abweichung von Rechtssätzen dar. Aus den fallbezogenen Ausfüh-
rungen des Gerichts lässt sich ein abweichender Rechtssatz auch nicht der Sa-
che nach entnehmen. Vielmehr hat der Verwaltungsgerichtshof die Maßstäbe
des Bundesverwaltungsgerichts umfassend und korrekt sowie unter ausdrückli-
cher Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
seiner Subsumtion vorangestellt (UA S. 15 f.). Unter Zugrundelegung dieser
Maßstäbe ist er zu dem Ergebnis gekommen, dass Christen in Pakistan nicht
mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen ihres Glaubens und
ihrer - auch öffentlichen - Glaubensbetätigung droht (UA S. 20).
Der Verwaltungsgerichtshof ist auch auf die von der Beschwerde angesproche-
ne Untergruppe der vom Islam zum Christentum Konvertierten eingegangen
(UA S. 27 bis 29) und hat erläutert, wieso es nach seinen Erkenntnissen keine
verlässlichen Zahlen über die Zahl der Konvertiten gebe und wegen des von
diesen praktizierten Verhaltens, die Konversion nicht in die Öffentlichkeit zu tra-
gen, auch nicht geben könne (UA S. 28). Das Gericht hat somit - anders als die
Beschwerde behauptet - nicht aus rechtsgrundsätzlichen Erwägungen von einer
zahlenmäßigen Feststellung abgesehen, sondern dies aus tatsächlichen Grün-
den für unmöglich erachtet.
3. Die Beschwerde rügt schließlich eine unzureichende Sachaufklärung durch
den Verwaltungsgerichtshof (§ 132 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 86 VwGO). Dem Ge-
richt hätten sich auch ohne einen vom Verfahrensbevollmächtigten des Klägers
gestellten Beweisantrag Ermittlungen zur Zahl der Konvertiten vom Islam zum
Christentum in Pakistan aufdrängen müssen. Dies hätte etwa durch eine Anfra-
ge bei der deutschen Botschaft in Pakistan über das Auswärtige Amt oder bei
Organisationen wie "missio" oder "Kirche in Not" erfolgen müssen. Damit und
mit ihrem weiteren Vorbringen legt die Beschwerde eine Verletzung der Aufklä-
rungspflicht nicht den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entspre-
chend dar. Die Beschwerde macht selbst nicht geltend, dass der anwaltlich ver-
tretene Kläger im Verfahren vor dem Berufungsgericht auf die Vornahme der
Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben er nunmehr rügt, durch einen förm-
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lichen Beweisantrag oder auf sonstige Weise hingewirkt hat. Eine Verletzung
der Aufklärungspflicht käme deshalb nur dann in Betracht, wenn sich dem Ge-
richt die bezeichneten Ermittlungen aus seiner rechtlichen Sicht von Amts we-
gen hätten aufdrängen müssen (stRpr, etwa BVerwG, Urteil vom 29. Mai
2008 - 10 C 11.07 - BVerwGE 131, 186 Rn. 13 m.w.N.). Dies zeigt die Be-
schwerde indes nicht auf.
Die Beschwerde setzt sich nicht damit auseinander, dass der Verwaltungsge-
richtshof einen aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Berichte von den
in der Beschwerde bezeichneten Organisationen "missio" aus 2012 und "Kirche
in Not" aus 2014 sowie zahlreiche weitere deutsche und ausländische Quellen
über die Lage der Christen in Pakistan ausgewertet und seiner Entscheidung
zugrunde gelegt hat (vgl. Erkenntnismittelliste Stand 23. Juli 2014, Bl. 113/115
d.A). Ferner legt sie keine Gründe dafür dar, warum diese Erkenntnisse unvoll-
ständig oder nicht mehr aktuell gewesen sein sollten und welche Gründe dafür
vorgelegen haben, dass sich dem Gericht die Einholung neuerer Erkenntnisse
hätte aufdrängen müssen. Die Beschwerde räumt vielmehr selbst ein, dass der
Verfahrensbevollmächtigte des Klägers in seinem Schriftsatz an das Gericht
vom 18. Mai 2014 davon ausgegangen ist, dass die Zahl der Konvertiten
schwer zu ermitteln sei. Eine Verpflichtung des Gerichts zu weitergehender
Sachaufklärung ergibt sich aus dem Beschwerdevorbringen daher nicht.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten
werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich
aus § 30 RVG.
Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Dörig
Prof. Dr. Kraft
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