Urteil des BVerwG vom 29.07.2003

Rechtliches Gehör, Asylverfahren, Hauptsache, Kosovo

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 291.02 (1 PKH 77.02)
VGH 22 BA 95.36582
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. Juli 2003
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z – H ö f e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht H u n d und Prof. Dr. D ö r i g
beschlossen:
Dem Kläger wird für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungs-
gericht Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt ... beige
ordnet.
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revisi-
on in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom
4. Juni 2002 wird verworfen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
G r ü n d e :
Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe (§ 166
VwGO, §§ 114 ff., 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO).
Die Beschwerde ist unzulässig. Sie genügt nicht den Darlegungsanforderungen des § 133
Abs. 3 Satz 3 VwGO.
1. Die Beschwerde beruft sich zunächst auf den Revisionszulassungsgrund der grundsätzli-
chen Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Die Rechtssache
hat eine solche Bedeutung nur, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die im Interesse der Ein-
heit oder der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungs-
erfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO verlangt neben Ausführungen zur Klärungsbe-
dürftigkeit der aufgeworfenen Rechtsfrage auch Angaben dazu, inwiefern die bezeichnete
Rechtsfrage überhaupt entscheidungserheblich ist und sich deshalb in dem angestrebten
Revisionsverfahren stellen könnte. Diesen Voraussetzungen entspricht die Beschwerdebe-
gründung nicht.
Die Beschwerde hält die Fragen für klärungsbedürftig (Beschwerdebegründung S. 7),
"in welchem zeitlichen Rahmen im Asylrechtsstreit ein Feststellungsantrag auf Erle-
digung der Hauptsache nach Eintritt tatsächlicher Veränderungen noch zulässig ist",
und
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"welche Verfahrenshandlungen oder Erklärungen, die ein Festhalten am ursprüngli-
chen Klageziel dokumentieren, unabhängig von der Zeitspanne zwischen erledigen-
dem Ereignis und Erledigungserklärung zur Unzulässigkeit des Antrags führen".
Die erste Frage ist bereits rechtsgrundsätzlich geklärt, hinsichtlich der zweiten Frage wird
deren Entscheidungserheblichkeit nicht aufgezeigt.
a) Das Bundesverwaltungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass es
grundsätzlich keine zeitliche Grenze für den Übergang vom ursprünglichen Klageantrag zur
Erledigungserklärung gibt. Das Prozessrecht begründet keine Pflicht zur unverzüglichen
Reaktion auf den Eintritt eines erledigenden Ereignisses. Es erlaubt dem Kläger vielmehr, in
jedem Stadium des Verfahrens eine Erledigungserklärung abzugeben, um dadurch der Ab-
weisung seiner Klage zu entgehen (Urteil vom 22. Januar 1993 - BVerwG 8 C 40.91 -
Buchholz 310 § 161 VwGO Nr. 100; Beschluss vom 29. September 1988 - BVerwG 7 B
185.87 - Buchholz 310 § 161 VwGO Nr. 79). Der Kläger kann sogar noch im Revisionsver-
fahren die Hauptsache für erledigt erklären, obwohl die Erledigung bereits während des erst-
instanzlichen Verfahrens eingetreten ist (Urteil vom 12. April 2001 - BVerwG 2 C 16.00 -
BVerwGE 114, 149 <151>). Das Asylverfahrensgesetz enthält keine abweichende Regel.
Auch der von der Beklagten angeführte Grundsatz der Beschleunigung von Asylverfahren
steht nicht entgegen. Es ist in erster Linie die Aufgabe der Verwaltungsgerichte, bei Ände-
rungen der Sachlage im Heimatland, die - wie hier im Kosovo (vgl. das zur Veröffentlichung
bestimmte Urteil des Senats vom 8. Mai 2003 - BVerwG 1 C 15.02 -) - eine zuvor bestehen-
de Verfolgungsgefahr offensichtlich entfallen lassen, durch eine entsprechende Verfahrens-
gestaltung zu reagieren und - wie im Ausgangsverfahren - gegebenenfalls eine Erledigungs-
erklärung anzuregen. Bleibt im Berufungsverfahren eine übereinstimmende Erledigungser-
klärung aus, muss das Gericht indessen durch Urteil oder Beschluss nach § 130 a VwGO
entscheiden, was in jedem Falle zu einer Verlängerung des Verfahrens führt. Eine Pflicht zur
sofortigen übereinstimmenden Erledigungserklärung gibt es gleichwohl nicht, weil ohnehin
nur das Gericht zur einseitigen verbindlichen Entscheidung, ob eine Erledigung eingetreten
ist, befugt sein kann. Auch in Asylverfahren gilt daher die gefestigte Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts, dass die Erledigungserklärung nur rechtzeitig vor der gerichtli-
chen Entscheidung in der Hauptsache abgegeben werden muss, wobei der Kläger gegebe-
nenfalls die durch eine verspätete Erklärung verursachten Mehrkosten gemäß § 155 Abs. 4
VwGO zu tragen hat.
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Der Verwaltungsgerichtshof hat außerdem zutreffend darauf hingewiesen, dass bei einer
verzögerten Erledigungserklärung des Klägers unter Umständen eine "verschleierte Klage-
rücknahme" in Betracht kommt (UA S. 5). Auch unter diesem Gesichtspunkt hätte die Be-
klagte, wie das vorliegende Verfahren zeigt, eine schnellere und kostenrechtlich günstige
Entscheidung durch übereinstimmende Erledigungserklärung (hinsichtlich des asylrechtli-
chen Teils der Klage) erreichen können. Ob Ausnahmefälle denkbar sind, wie die Beklagte
unter Berufung auf das Urteil vom 22. Januar 1993 a.a.O. geltend macht, kann auch hier
offen bleiben. Es entzieht sich weiterer grundsätzlicher Klärung in einem Revisionsverfahren,
ob im Einzelfall nach Maßgabe die Bewertung der jeweiligen Interessen eine andere Be-
trachtungsweise geboten sein kann. Im vorliegenden Fall sind zudem Anhaltspunkte hierfür
weder ausreichend vorgetragen noch ersichtlich.
b) Zu der zweiten Frage, welche weiteren Verfahrenshandlungen oder Erklärungen zur Un-
zulässigkeit des Erledigungsantrags führen können, zeigt die Beschwerde schon nicht auf,
dass sie sich im vorliegenden Verfahren stellen könnte. Der Umstand, dass der Kläger nach
der Anfrage des Berufungsgerichts im Hinblick auf die Änderungen der Machtverhältnisse im
Kosovo im Gefolge der NATO-Intervention zunächst an seinen Klageanträgen festhielt, dies
ausführlich begründete, um dann zweieinhalb Monate später die Erledigungserklärung ab-
zugeben, reicht hierfür unter keinem denkbaren Gesichtspunkt aus.
2. Die Beklagte macht sinngemäß weiter geltend, es bestehe Klärungsbedarf, inwieweit ein
anzuerkennendes Interesse an einer Sachentscheidung wegen Präjudizialität und Wiederho-
lungsgefahr bestehen könne, insbesondere ob insoweit ein Sachentscheidungsinteresse im
Verhältnis zu Dritten ausreiche (Beschwerdebegründung S. 5). Nach ständiger Rechtspre-
chung des Bundesverwaltungsgerichts darf dem einseitigen Erledigungsantrag trotz Eintritt
des erledigenden Ereignisses nicht stattgegeben werden, wenn der der Erledigung wider-
sprechende Verfahrensbeteiligte ein berechtigtes Interesse an einer gerichtlichen Sachent-
scheidung hat (vgl. Urteil vom 3. Juni 1988 - BVerwG 8 C 86.86 - Buchholz 448.0 § 12
WPflG Nr. 174; Urteil vom 12. April 2001 - BVerwG 2 C 16.00 - BVerwGE 114, 149 <154 f.>).
Ob und gegebenenfalls in welchen Fällen sich ein besonderes Sachbescheidungsinteresse
aus der Klärung von Rechtsfragen ergeben kann, die sich nicht (mehr) im Verhältnis zum
Kläger, wohl aber zu anderen Asylbewerbern stellen (vgl. hierzu Urteil vom 25. April 1989 –
BVerwG 9 C 61.88 – BVerwGE 82, 41 <44> m.w.N.), bedarf hier keiner
rechtsgrundsätzlichen Klärung. Denn die Beklagte hat nicht dargelegt, dass und inwiefern im
vorliegenden Fall ein solcher besonderer Klärungsbedarf besteht. Insbesondere trifft es nicht
zu, dass die Beklagte "zur Vermeidung von Kostenfolgen und um nicht selbst den Verfah-
rensabschluss zu verzögern" der Erledigungserklärung stets beitreten muss, selbst wenn
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eine Erledigung objektiv zweifelhaft ist. In letzterem Falle kann allerdings keinen der Beteilig-
ten das (Prozess-)Risiko abgenommen werden, bei einseitiger Erledigungserklärung der
Gegenseite den Rechtsstreit im Ergebnis nur deshalb kostenpflichtig zu verlieren, weil das
Gericht die tatsächliche Erledigung feststellt. Die Beklagte hat außerdem nicht etwa geltend
gemacht, durch eine Entscheidung zur Sache (hier: zur Unbegründetheit der Asylklage im
Zeitpunkt des Eintritts des erledigenden Ereignisses) für andere Fälle eine Präjudizwirkung
zu erreichen oder eine Wiederholungsgefahr auszuschließen.
3. Die Beschwerde rügt weiterhin einen Verfahrensmangel i.S. von § 132 Abs. 2 Nr. 3
VwGO, legt diesen aber nicht den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entspre-
chend dar. Sie zeigt nicht auf, inwiefern ihr rechtliches Gehör gemäß § 103 Abs. 1 GG, § 138
Nr. 3 VwGO dadurch verletzt sein soll, dass sich das Berufungsgericht nicht mit ihrer
Argumentation zum fehlenden Interesse des Klägers an einer Feststellung der Erledigung
auseinander gesetzt habe (Beschwerdebegründung S. 8). Das ergibt sich schon daraus,
dass die Beklagte damit nur das Übergehen von Rechtsvortrag rügt. Außerdem ist nach
ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsge-
richts regelmäßig davon auszugehen, dass die Gerichte das Vorbringen der Beteiligten zur
Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben; die Gerichte brauchen sich dabei
nicht mit jedem Vorbringen in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich auseinander zu
setzen. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs kann allenfalls dann festgestellt werden,
wenn sich aus den besonderen Umständen des Falles deutlich ergibt, dass das Gericht tat-
sächliches Vorbringen der Beteiligten nicht in Erwägung gezogen hat (vgl. BVerfG, Urteil
vom 8. Juli 1997 - 1 BvR 1621/94 - BVerfGE 96, 205 <216> m.w.N.). Solche besonderen
Umstände zeigt die Beschwerde nicht auf. Vielmehr ergibt sich aus dem Tatbestand der
Entscheidung und aus den Ausführungen des Berufungsgerichts zu den Auswirkungen des
asylrechtlichen Beschleunigungsgebots auf den Zeitpunkt der Abgabe der Erledigungserklä-
rung (BA S. 5 oben), dass das Gericht die Argumente der Beklagten (zeitliche Differenz zwi-
schen der Veränderung der Lage im Kosovo und der Abgabe der Erledigungserklärung so-
wie Fortführung des Verfahrens durch den Kläger) in seine Erwägungen einbezogen hat.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83 b
Abs. 1 AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 83 b Abs. 2 AsylVfG.
Eckertz-Höfer Hund Prof. Dr. Dörig
Sachgebiet:
BVerwGE: nein
Verwaltungsprozessrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
AsylVfG
§ 74 Abs. 1 und 2
GG
Art. 103 Abs. 1
VwGO
§ 113 Abs. 1 Satz 4; § 161 Abs. 2
Stichworte:
Einseitige Erledigungserklärung des Klägers; besonderes Sachentscheidungsinteresse der
Beklagten trotz objektiver Erledigung; Zeitpunkt der Abgabe der Erledigungserklärung; Än-
derung der politischen Verhältnisse im Herkunftsland; Grundsatz der Beschleunigung von
Asylverfahren.
Leitsatz:
Auch in Asylverfahren ist der Kläger berechtigt, in jedem Stadium des Verfahrens eine Erle-
digungserklärung abzugeben.
Beschluss des 1. Senats vom 29. Juli 2003 - BVerwG 1 B 291.02
I. VG Regensburg vom 17.08.1995 - Az.: VG RO 7 K 93.32787 -
II. VGH München vom 04.06.2002 - Az.: VGH 22 BA 95.36582 -