Urteil des BVerwG vom 21.05.2003

Existenzminimum, Begründungspflicht, Asylbewerber, Unterbringung

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BESCHLUSS
BVerwG 1 B 264.02
OVG 7 A 10365/02.OVG
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 21. Mai 2003
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts
E c k e r t z - H ö f e r und die Richter am Bundes-
verwaltungsgericht R i c h t e r und
Prof. Dr. D ö r i g
beschlossen:
Die Beschwerde des Beteiligten gegen die Nicht-
zulassung der Revision in dem Urteil des Ober-
verwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. Juni
2002 wird zurückgewiesen.
Der Beteiligte trägt die Kosten des Beschwerde-
verfahrens.
G r ü n d e :
Die Beschwerde, mit der sämtliche Revisionszulassungsgründe
des § 132 Abs. 2 VwGO geltend gemacht werden, hat keinen Er-
folg.
Die Rechtssache hat nicht die von der Beschwerde behauptete
grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Die Be-
schwerde hält die Frage für klärungsbedürftig, ob sich die in
wirtschaftlicher Hinsicht an die Zumutbarkeit einer inländi-
schen Fluchtalternative zu stellenden Mindestanforderungen auf
das zur Aufrechterhaltung der physischen Existenz absolut Not-
wendige beschränken oder ob der asylrechtliche Begriff des
Existenzminimums über den engeren Wortlaut hinausgehende Vor-
stellungen von einem menschenwürdigen Dasein umfasst. Die
rechtlichen Anforderungen an das wirtschaftliche Existenzmini-
mum, das am Ort der inländischen Fluchtalternative gegeben
sein muss, sind in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsge-
richts rechtsgrundsätzlich geklärt. Ein verfolgungssicherer
Ort bietet dem Ausländer das wirtschaftliche Existenzminimum
danach grundsätzlich immer dann, wenn er durch eigene Arbeit
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oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Über-
windung von Anfangsschwierigkeiten das zu seinem Lebensunter-
halt unbedingt Notwendige erlangen kann. Das ist nicht der
Fall, wenn der Asylsuchende am Ort der inländischen Fluchtal-
ternative bei der gebotenen grundsätzlich generalisierenden
Betrachtungsweise auf Dauer ein Leben zu erwarten hat, das zu
Hunger, Verelendung und schließlich zum Tode führt, oder wenn
er dort nichts anderes zu erwarten hat als ein "Dahinvegetie-
ren am Rande des Existenzminimums". Weitergehenden oder neuen
rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf zeigt die Beschwerde
hierzu nicht auf. Ihre in diesem Zusammenhang aufgeworfenen
Fragen zielen vielmehr auf die Klärung der konkreten Verhält-
nisse am Ort der innerstaatlichen Fluchtalternative - hier: im
Nordirak -, die den Tatsachengerichten vorbehalten ist und an-
hand derer im Einzelfall zu bestimmen ist, ob dort die konkre-
te Gefahr eines Lebens unterhalb des Existenzminimums droht.
Insbesondere ist die auch von der Beschwerde angesprochene
Frage, wie viele Kilokalorien eine von Hilfsorganisationen be-
reitgestellte tägliche Lebensmittelration umfassen muss, um im
Hinblick auf den Nahrungsbedarf das wirtschaftliche Existenz-
minimum zu gewährleisten, einer rechtsgrundsätzlichen Klärung
nicht zugänglich. Daran ändert sich auch nichts, wenn hierzu,
wie die Beschwerde geltend macht, von den Oberverwaltungsge-
richten unterschiedliche Standpunkte vertreten werden (so be-
reits Beschluss vom 31. Juli 2002 - BVerwG 1 B 128.02 -
Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 326 = InfAuslR 2002, 455
m.w.N.).
Die von der Beschwerde im Zusammenhang mit der Frage des wirt-
schaftlichen Existenzminimums gerügte Divergenz (§ 132 Abs. 2
Nr. 2 VwGO) liegt ebenfalls nicht vor. Die Beschwerde führt
aus, im Berufungsurteil würden die rechtlichen Grundsätze des
Bundesverwaltungsgerichts weder erwähnt noch sinngemäß ange-
wendet; so habe das Berufungsgericht das Fehlen eines wirt-
schaftlichen Existenzminimums nicht erst dann angenommen, wenn
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eine die physische Existenz bedrohende und schließlich zum To-
de führende Gefährdung vorliege, sondern schon dann, wenn der
normale Ernährungsbedarf nicht gewährleistet sei. Diese Ein-
wände treffen nicht zu. Das Berufungsgericht hat sich aus-
drücklich und zustimmend auf die Rechtsprechung des Bundesver-
fassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zur Frage
der inländischen Fluchtalternative und damit auch zur Frage
des wirtschaftlichen Existenzminimums bezogen. Es hat geprüft,
ob für einen aus dem Zentralirak stammenden Asylbewerber in
einem von UN-Organisationen betreuten Flüchtlingslager im
Nordirak das erforderliche Existenzminimum am Ort der inländi-
schen Fluchtalternative gesichert ist, inwieweit eine Unter-
bringung dort mit Hunger und Verelendung verbunden ist und
welche Überlebensmöglichkeiten es in den Lagern und außerhalb
der Lager gegeben hat und derzeit gibt. Das Berufungsgericht
hat ferner - in inhaltlicher Übereinstimmung mit der höchst-
richterlichen Rechtsprechung - der Sache nach untersucht, ob
einen Asylbewerber aus dem Zentralirak im Nordirak etwas ande-
res erwartet als eine ausweglose Lage bzw. ein "Dahinvegetie-
ren am Rande des Existenzminimums", und ist zu dem Ergebnis
gelangt, dass der Kläger in eine "unzumutbare wirtschaftlich-
soziale Lage" kommen würde, in der eine menschenwürdige Exis-
tenz "kaum möglich" wäre und die sich "am unteren Rand des
Existenzminimums" bewegen würde (UA S. 10, 12 und 14). Es kann
dahinstehen, ob das Berufungsgericht bei seiner Entscheidung
alle rechtlichen Vorgaben insbesondere des Bundesverwaltungs-
gerichts zutreffend umgesetzt hat. An einer Divergenz im Sinne
des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO fehlt es jedenfalls deshalb, weil
das Berufungsgericht keinen seine Entscheidung tragenden
Rechtssatz aufgestellt hat, der zu den von der Beschwerde an-
geführten Rechtssätzen des Bundesverfassungsgerichts und des
Bundesverwaltungsgerichts in Widerspruch steht.
Ohne Erfolg rügt die Beschwerde schließlich einen Begründungs-
mangel im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO i.V.m. § 132
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Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Die Beschwerde beanstandet, das Berufungs-
gericht habe sich mit der abweichenden Rechtsprechung anderer
Oberverwaltungsgerichte zur Frage einer zumutbaren Fluchtal-
ternative im Nordirak "nicht in erschöpfender Weise auseinan-
der gesetzt"; es genüge nicht, die gegenteiligen Entscheidun-
gen nur mit der Bemerkung "nicht nachvollziehbar" zu zitieren;
die Entscheidung des Berufungsgerichts sei deshalb selbst
nicht hinreichend nachvollziehbar begründet. Es trifft zu,
dass sich aufgrund der Begründungspflicht des § 108 Abs. 1
Satz 2 VwGO aus den Gründen einer gerichtlichen Entscheidung
für die Beteiligten und das Rechtsmittelgericht nachvollzieh-
bar ergeben muss, warum das Gericht beispielsweise Parteivor-
bringen für unerheblich gehalten oder Auffassungen bzw. Bewer-
tungen anderer Oberverwaltungsgerichte in wesentlichen Fragen
nicht geteilt hat (vgl. Beschluss vom 1. September 1997
- BVerwG 8 B 144.97 - Buchholz 406.11 § 128 BauGB Nr. 50
m.w.N.). Dieser Begründungspflicht hat das Berufungsgericht im
Entscheidungsfall jedoch genügt. Es hat ausgeführt, die von
der Beschwerde genannte Entscheidung des OVG Magdeburg sei
hinsichtlich der Frage des wirtschaftlichen Existenzminimums
"insoweit nicht nachvollziehbar", als dort (offenbar) von
westeuropäischen Standards ausgegangen worden sei; in der Ent-
scheidung des VGH Mannheim werde zum Existenzminimum eine an-
dere Auffassung vertreten, wobei der VGH schwerpunktmäßig die
allgemeine Lage im Nordirak - und nicht speziell die Situation
in den Flüchtlingslagern - beurteilt habe. Diese Begründungen
mögen knapp sein, sie lassen aber hinreichend erkennen, aus
welchen Gründen das Berufungsgericht von der Bewertung der
beiden Oberverwaltungsgerichte abgewichen ist. Auf die Ent-
scheidung des OVG Münster, die der Rechtsprechung der Oberver-
waltungsgerichte Magdeburg und Mannheim offensichtlich gefolgt
ist, kann sich die Beschwerde in diesem Zusammenhang schon
deshalb nicht beziehen, weil diese Entscheidung mehrere Wochen
nach der hier angefochtenen Berufungsentscheidung ergangen
ist.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichts-
kosten werden gemäß § 83 b Abs. 1 AsylVfG nicht erhoben. Der
Gegenstandswert ergibt sich aus § 83 b Abs. 2 AsylVfG.
Eckertz-Höfer Richter Prof. Dr. Dörig