Urteil des BVerwG vom 16.05.2003

Politische Verfolgung, Persönliche Anhörung, Mitgliedschaft, Bundesamt

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BESCHLUSS
BVerwG 1 B 251.02 (1 PKH 48.02)
OVG 2 KO 107/97
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 16. Mai 2003
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts
E c k e r t z - H ö f e r und die Richter am Bundes-
verwaltungsgericht Dr. M a l l m a n n und H u n d
beschlossen:
Dem Kläger wird für das Beschwerdeverfahren ge-
gen Zahlung monatlicher Raten von 45 € an die
Landeskasse Prozesskostenhilfe bewilligt und
Rechtsanwalt G. beigeordnet.
Der Beschluss des Thüringer Oberverwaltungsge-
richts vom 28. März 2002 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung
und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht
zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung in der Hauptsache bleibt
der Schlussentscheidung vorbehalten. Die Ent-
scheidung über die Kosten des Beschwerdeverfah-
rens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung
in der Hauptsache.
G r ü n d e :
Die Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe
beruht auf § 166 VwGO i.V.m. §§ 114, 115, 120, 121 Abs. 1 ZPO.
Die Beschwerde hat mit einer Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2
Nr. 3 VwGO) Erfolg. Der angefochtene Beschluss verletzt die
gerichtliche Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO). Wegen
dieses Verfahrensmangels, auf dem die Entscheidung beruht,
weist der Senat die Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO im Interesse
der Verfahrensbeschleunigung unter Aufhebung des angefochtenen
Beschlusses an das Berufungsgericht zurück.
Die Beschwerde macht unter Hinweis auf den vom Kläger vorge-
legten "Parteiausweis" geltend, das Berufungsgericht hätte
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aufgrund der Sachaufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO und
des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 96
VwGO) den Kläger zu seinen "persönlichen Vorfluchtgründen" an-
hören müssen. Die vermeintliche Nichterweislichkeit der UFC-
Mitgliedschaft habe das Berufungsgericht dazu verleitet, von
der Unglaubwürdigkeit des Verfolgungsvorbringens des Klägers
auszugehen. Es sei nicht auszuschließen, dass das Berufungsge-
richt bei einer persönlichen Anhörung des Klägers dessen Vor-
trag zu seinem individuellen Verfolgungsschicksal jedenfalls
in entscheidungserheblichen Teilen Glauben geschenkt und
daraus auf eine erlittene politische Verfolgung geschlossen
hätte.
Im Ergebnis ist diese Rüge begründet. Das Berufungsgericht hat
eine persönliche Anhörung des Klägers aus zwei Gründen für
entbehrlich gehalten. Zum einen, weil der Kläger in der ersten
Instanz auf mündliche Verhandlung verzichtet und im Berufungs-
verfahren "keine neuen tatsächlichen Umstände vorgetragen ha-
be, die eine persönliche Anhörung erforderlich erscheinen las-
sen" (BA S. 6 Abs. 2). Zum anderen hat es sich - hinsichtlich
des Vorfluchtschicksals - ausdrücklich der Würdigung des Bun-
desamts angeschlossen und deshalb den "Vortrag des Klägers zu
seiner Mitgliedschaft in der UFC sowie den angeblichen Verhaf-
tungen" für "unglaubhaft" gehalten (BA S. 9); es komme hinzu,
dass der Kläger sein diesbezügliches Vorbringen im gerichtli-
chen Verfahren weder ergänzt noch konkretisiert habe. Diese
Erwägungen des Berufungsgerichts reichen nicht aus, um das Un-
terlassen einer persönlichen Anhörung des Klägers zu rechtfer-
tigen.
Das Berufungsgericht hätte den Kläger im vorliegenden Fall
nicht für unglaubwürdig halten dürfen, ohne ihn selbst persön-
lich angehört zu haben. Nach der Rechtsprechung des Senats
darf das Berufungsgericht aus der bei der Anhörung durch das
Bundesamt protokollierten Aussage des Ausländers allenfalls
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dann auf dessen Unglaubwürdigkeit schließen, wenn diese Aussa-
ge solche Widersprüche, Ungereimtheiten oder Unvereinbarkeiten
mit gesicherten Erkenntnissen des Berufungsgerichts aufweist,
dass sie die Wahrheit der behaupteten Tatsachen auch ohne ei-
nen persönlichen Eindruck des Gerichts von seiner Glaubwürdig-
keit von vornherein ausschließen (stRspr, vgl. Beschlüsse vom
11. Juni 2002 - BVerwG 1 B 37.02 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG
Nr. 260 und vom 10. Mai 2002 - BVerwG 1 B 392.01 - Buchholz
a.a.O. Nr. 259 = NVwZ 2002, 1381). Ein solcher Ausnahmefall
wird vom Berufungsgericht nicht dargelegt und ist auch nicht
erkennbar. Hier ist vielmehr davon auszugehen, dass das Beru-
fungsgericht dem Kläger ebenso wie zuvor das Bundesamt vor al-
lem deshalb nicht glauben will, weil es ihn insoweit für un-
glaubwürdig hält (vgl. Bescheid vom 10. Januar 1995, S. 4). Ob
das Berufungsgericht - wie die Beschwerde meint - in diesem
Zusammenhang auch den vom Kläger im gerichtlichen Verfahren
eingereichten Parteiausweis (GA Bl. 111 f.) hätte ergänzend
würdigen müssen, kann offen bleiben, ist aber deshalb nicht
zweifelsfrei, weil er sich auf eine Mitgliedschaft in der
Exilorganisation im Jahr 1996 und nicht auf die Zeit vor der
Ausreise bezieht. Damit setzt sich die Beschwerde nicht - wie
zur schlüssigen Begründung eines Verfahrensfehlers erforder-
lich - auseinander.
Der angefochtene Beschluss beruht auf dem festgestellten Ver-
fahrensrechtsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass das
Berufungsgericht bei einer persönlichen Anhörung des Klägers
dessen Vortrag zu der von ihm geschilderten Vorverfolgung je-
denfalls in entscheidungserheblichen Teilen Glauben geschenkt
und daraus auf eine erlittene oder ihm unmittelbar drohende
politische Verfolgung geschlossen hätte. In diesem Fall hätte
es die Klage zu § 51 Abs. 1 AuslG nur für den Fall einer hin-
reichenden Sicherheit des Klägers bei seiner Rückkehr abweisen
dürfen. Von einer solchen Sicherheit geht das Berufungsgericht
in dem angefochtenen Beschluss nicht aus.
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Die weiteren Rügen (einer Abweichung von dem erwähnten Be-
schluss des Senats vom 10. Mai 2002 und einer fehlenden Be-
gründung nach § 138 Ziff. 6 VwGO) hätten keinen Erfolg haben
können.
Eckertz-Höfer Dr. Mallmann Hund