Urteil des BVerwG vom 19.01.2010

Schutz des Privatlebens, Emrk, Härte, Integration

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 25.09
VGH 13 S 2070/07
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 19. Januar 2010
durch die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
beschlossen:
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung
der Revision im Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Ba-
den-Württemberg vom 2. Juli 2009 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf
5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1
VwGO) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg, da sie nicht den Darlegungs-
anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügt.
Die Beschwerde hält zunächst für grundsätzlich klärungsbedürftig,
ob sich ein Ausländer, der sich überwiegend rechtswidrig
im Bundesgebiet aufgehalten hat, auf den durch Art. 8
EMRK gewährten Schutz des Privatlebens berufen kann
mit der Folge, dass dieser Aufenthalt zu einer rechtlich
bedeutsamen Verwurzelung führt und daraus resultierend
eine Aufenthaltsbeendigung nicht mehr möglich ist, son-
dern ein humanitärer Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 4
Satz 2 AufenthG zu erteilen ist.
Insoweit fehlt es bereits an einer näheren Darlegung der Entscheidungserheb-
lichkeit der aufgeworfenen Frage. Abgesehen davon, dass das Berufungsge-
richt nicht zu dem Ergebnis gekommen ist, dass der Kläger einen Anspruch auf
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG hat,
sondern die Beklagte nur zur Neubescheidung verpflichtet hat, ist es vor allem
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nicht von einem überwiegend rechtswidrigen Aufenthalt des Klägers im Bun-
desgebiet ausgegangen, sondern hat im Einzelnen dargelegt, dass und warum
der Kläger sich seit seiner Geburt im November 1988 bis zur Ablehnung seines
Verlängerungsantrages im Oktober 2003 - abgesehen von einer Lücke im Zeit-
raum Januar 1991 bis Oktober 1992 - rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten
hat. In diesem Zusammenhang rügt die Beschwerde weder in tatsächlicher
Hinsicht einen Verfahrensfehler noch macht sie in rechtlicher Hinsicht einen
grundsätzlichen Klärungsbedarf geltend. Dass - bei Zugrundelegung der tatrich-
terlichen Feststellungen des Berufungsgerichts (§ 137 Abs. 2 VwGO) - der
Schutzbereich des Art. 8 EMRK eröffnet ist, bedarf keiner Klärung in einem Re-
visionsverfahren.
Auch die weitere von der Beschwerde aufgeworfene Frage,
ob trotz vollständigen Fehlens bzw. allenfalls noch zu er-
wartender beruflicher und wirtschaftlicher Integration eines
Ausländers von einer Verwurzelung bzw. gelungenen In-
tegration eines Ausländers im Bundesgebiet ausgegangen
werden kann mit der Folge, dass eine Aufent-
haltsbeendigung eine außergewöhnliche Härte im Sinne
von § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG darstellen kann,
rechtfertigt keine Zulassung der Revision. Auch in diesem Zusammenhang zeigt
die Beschwerde keine grundsätzlich klärungsbedürftige Rechtsfrage auf, die in
dem angestrebten Revisionsverfahren verallgemeinerungsfähig beantwortet
werden könnte. Allein der Umstand, dass der im Bundesgebiet geborene und
aufgewachsene Kläger nach den Feststellungen des Berufungsgerichts weder
über einen Schulabschluss noch über eine Berufsausbildung verfügt und seinen
Lebensunterhalt bislang nahezu ausschließlich aus öffentlichen Sozial-
leistungen bestritt, reicht für sich allein nicht aus, um ungeachtet aller anderen
Besonderheiten des Falles eine Verwurzelung des im Zeitpunkt der mündlichen
Verhandlung vor dem Berufungsgericht 20 Jahre alten Klägers zu verneinen.
Insoweit ist in der Rechtsprechung des Senats geklärt, dass die Beurteilung, ob
die Beendigung des Aufenthalts eines hier aufgewachsenen Ausländers eine
außergewöhnliche Härte im Sinne von § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG darstellt, in
erster Linie eine tatrichterliche Aufgabe darstellt. Dabei sind das Ausmaß der
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Verwurzelung bzw. die für den Ausländer mit einer „Entwurzelung“ verbunde-
nen Folgen unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben des
Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG sowie der Regelung des Art. 8 EMRK zu er-
mitteln sowie unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit
zu gewichten und mit den Gründen, die für eine Aufenthaltsbeendigung spre-
chen, abzuwägen (vgl. Senatsurteil vom 27. Januar 2009 - BVerwG 1 C 40.07 -
BVerwGE 133, 73 Rn. 20). Dies ist hier geschehen. Nichts anderes ergibt sich
im Übrigen aus der von der Beschwerde angeführten Entscheidung des Senats
vom 30. April 2009 - BVerwG 1 C 3.08 - (NVwZ 2009, 1239), in der der Senat
lediglich unter den dort gegebenen Umständen des Falles im Ergebnis eine
schützenswerte Verwurzelung abgelehnt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des
Streitwerts ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.
Eckertz-Höfer Prof. Dr. Dörig Fricke
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