Urteil des BVerwG vom 27.05.2004

Allgemeine Lebenserfahrung, Rüge, Vorladung, Verhaftung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 232.03
VGH 9 B 02.30043
In der Verwaltungsstreitsache
- 2 -
hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 27. Mai 2004
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. M a l l m a n n und
Prof. Dr. D ö r i g
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Re-
vision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs
vom 24. Juni 2003 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
G r ü n d e :
Die auf Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) und Verfahrensverstöße (§ 132 Abs. 2
Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde bleibt erfolglos.
Die Rüge der Divergenz ist unzulässig. Dass eine Abweichung von der Rechtspre-
chung des Bundesverfassungs- oder Bundesverwaltungsgerichts im Sinne von § 132
Abs. 2 Nr. 2 VwGO vorliegt, hat die Beschwerde schon nicht den Erfordernissen des
§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend dargelegt. Die Beschwerde bezeichnet
insbesondere keinen Rechtssatz, mit dem das Berufungsgericht einem Rechtssatz in
der zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Januar 1999 wi-
dersprochen hätte.
Ohne Erfolg rügt die Beschwerde ferner eine Verletzung des Anspruchs des Klägers
auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Eine solche kann sie aus
der Ablehnung des in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht hilfs-
weise gestellten Beweisantrags auf Einholung eines Sachverständigengutachtens
nicht herleiten (Beschwerdebegründung S. 2 ff.). Ob die Verfahrensrüge substantiiert
erhoben wurde (vgl. Beschluss vom 24. März 2000 - BVerwG 9 B 530.99 - Buchholz
310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 308), mag dahinstehen. Denn unabhängig davon stellt die
Ablehnung eines erheblichen Beweisantrags nur dann einen Gehörsverstoß dar,
- 3 -
wenn die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots im Prozessrecht
keine Stütze findet (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 8. November 1978 - BVerfGE
50, 32 <35 f.>). Die Beschwerde macht nicht ersichtlich, dass dies hier der Fall ist.
Das Berufungsgericht hat sich in den Urteilsgründen mit dem Beweisantrag im Ein-
zelnen auseinander gesetzt (UA S. 21 f.). Es hat mehrere der darin formulierten Fra-
gen, die sich speziell auf die Person des Klägers und die von ihm entfalteten Aktivitä-
ten in Äthiopien und Deutschland beziehen, als nach dem Ergebnis der mündlichen
Verhandlung geklärt angesehen. Damit setzt sich die Beschwerde nicht auseinander.
Die Frage, ob eine langjährige Abwesenheit aus Äthiopien zu politischer Verfolgung
führt, hat das Gericht als durch vorliegende Auskünfte, u.a. einen Lagebericht des
Auswärtigen Amtes vom 15. Januar 2003, geklärt angesehen. Die Beschwerde zeigt
insoweit einen Verfahrensfehler nicht auf. Nach ständiger Rechtsprechung des Bun-
desverwaltungsgerichts kann das Tatsachengericht einen Antrag auf Einholung eines
Sachverständigengutachtens im Allgemeinen mit dem Hinweis auf eigene Sachkun-
de, die sich im Asylverfahren namentlich aus der Verwertung bereits vorliegender
Erkenntnismittel ergeben kann, ablehnen. Es muss in diesem Fall nur nachvollzieh-
bar begründen, woher es seine Sachkunde bezieht (vgl. etwa Beschlüsse vom
24. März 2000 - BVerwG 9 B 530.99 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 308
m.w.N. und vom 27. März 2000 - BVerwG 9 B 518.99 - a.a.O. § 98 VwGO Nr. 60).
Dies ist seitens des Berufungsgerichts durch Verweis auf die bereits vorliegenden
Auskünfte erfolgt. Insofern trifft die Rüge der Beschwerde nicht zu, das Gericht habe
die Auskünfte nicht benannt, auf die es sich beziehe (Beschwerdebegründung S. 3
oben). Vielmehr wird in der angefochtenen Entscheidung in diesem Zusammenhang
ausdrücklich der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 15. Januar 2003 genannt
(UA S. 22 oben) und des Weiteren mit Recht darauf hingewiesen, dass der Kläger
nicht dargetan hat, dass der von ihm benannte Sachverständige Prof. Scholler bes-
sere Informationen besitze als das Auswärtige Amt. Hiermit setzt sich die Beschwer-
de nicht - wie geboten - auseinander. Die Beschwerde zeigt im Übrigen auch nicht
schlüssig auf, dass in der Nichterhebung des Sachverständigenbeweises ein Mangel
der gerichtlichen Sachaufklärung liegt (§ 86 Abs. 1 VwGO).
Ein Gehörsverstoß wird auch nicht hinreichend konkret dargelegt, soweit die Be-
schwerde rügt, die Gründe für die Ablehnung des Hilfsbeweisantrages ließen nicht
erkennen, dass das Gericht den komplexen Sachverhalt in seiner Gesamtheit in die
- 4 -
Rechtsfindung einbezogen habe (Beschwerdebegründung S. 3 oben). Im Übrigen ist
grundsätzlich - und so auch hier - davon auszugehen, dass die Gerichte das Vor-
bringen der Beteiligten zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben,
auch wenn sie sich nicht mit allen Einzelheiten in den Entscheidungsgründen aus-
drücklich auseinander setzen (vgl. etwa Beschluss vom 5. Februar 1999 - BVerwG
9 B 797.98 - Buchholz 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 4 unter Hinweis auf BVerfGE 96,
205 <216 f.>).
Einen Mangel der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht kann die Beschwerde nicht
aus der Tatsache ableiten, dass es das Berufungsgericht dahinstehen lässt, ob der
Kläger noch heute wegen Nichtbefolgung der polizeilichen Vorladung vom 29. Sep-
tember 1992 zur Rechenschaft gezogen werden könnte (Beschwerdebegründung
S. 2 oben). Denn das Gericht legt dar, dass es sich bei der Androhung "notwendiger
Maßnahmen" für den Fall der Nichtbefolgung der Vorladung lediglich um die Ankün-
digung von - auch in anderen Staaten üblichen - Zwangsmitteln zur Durchsetzung
der Anordnung handele. Auf eine nähere Aufklärung, ob gegen den Kläger auch
noch nach fast 11 Jahren derartige Sanktionen verhängt würden, kam es dem Beru-
fungsgericht zufolge nicht an, da es sich jedenfalls um eine Ahndung eines Rechts-
verstoßes nach straf- oder ordnungsrechtlichen Vorschriften handeln würde, nicht
hingegen um asylrelevante Maßnahmen politischer Verfolgung (UA S. 13 f.). Inwie-
fern das Unterlassen weiterer Sachaufklärung hierzu verfahrensfehlerhaft gewesen
sein sollte, zeigt die Beschwerde nicht auf.
Es liegt - entgegen den erhobenen Rügen - auch kein nach § 138 Nr. 6 VwGO er-
heblicher Begründungsmangel vor. Dies wäre vielmehr nur dann der Fall, wenn die
angefochtene Entscheidung so mangelhaft begründet wäre, dass die Entschei-
dungsgründe ihre Informationsfunktion gegenüber den Verfahrensbeteiligten nicht
mehr erfüllten und ihre Überprüfung durch das Rechtsmittelgericht nicht möglich wä-
re. Davon kann dann ausgegangen werden, wenn der Entscheidung entweder über-
haupt keine Gründe beigegeben sind oder die Begründung "völlig unverständlich und
verworren ist, so dass sich in Wirklichkeit nicht erkennen lässt, welche Überlegungen
für die Entscheidung maßgebend gewesen sind" (vgl. den Beschluss vom 5. Juni
1998 - BVerwG 9 B 412.98 - Buchholz 310 § 138 Ziff. 6 VwGO Nr. 32 = NJW 1998,
3290 m.w.N.). Derartige Mängel weist das angefochtene Urteil nicht auf. Die Be-
- 5 -
schwerde beanstandet in diesem Zusammenhang Ausführungen des Berufungsge-
richts zur Verfolgung des Klägers vor seiner Ausreise aus Äthiopien im Jahr 1992
(Beschwerdebegründung S. 4). Soweit das Gericht annimmt, dass der als Zeuge ge-
hörte Zwillingsbruder des Klägers mit seiner Aussage zu der von ihm behaupteten
eigenen Verhaftung im Juni 1992 auch eigene Interessen verfolgte, da sein Asylver-
fahren bis zur Entscheidung im vorliegenden Verfahren ausgesetzt war, bewegt sich
das Gericht im Rahmen der den Tatsachengerichten vorbehaltenen Beweiswürdi-
gung. Fehler bei der Sachverhalts- und Beweiswürdigung sind revisionsrechtlich
grundsätzlich dem materiellen Recht zuzurechnen. Mit Angriffen gegen die Beweis-
würdigung kann daher regelmäßig - und so auch hier - ein Verfahrensmangel im Sin-
ne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht begründet werden. Im Übrigen hat das Ge-
richt - worauf die Beschwerde nicht eingeht - die mangelnde Glaubwürdigkeit des
Zwillingsbruders nicht nur auf den genannten Umstand, sondern auch auf dessen
widersprüchliche Aussagen zu seinem Reisepass sowie auf den Eindruck gestützt,
den er in der mündlichen Verhandlung auf das Gericht gemacht hat (UA S. 12). Auch
die weiteren Angriffe der Beschwerde gegen die Beweiswürdigung des Berufungsge-
richts gehen fehl. Dies gilt auch für die Rüge, dass das Berufungsgericht der Aussa-
ge der Lebenspartnerin des Klägers, die über die Verhaftung nur vom Hören-Sagen
berichten konnte, nur geringe Bedeutung beigemessen hat (UA S. 12 unten) und so-
weit die behauptete dreijährige Haft des Zwillingsbruders in Zweifel gezogen wird
(vgl. Beschwerdebegründung S. 4 Mitte). Einen Mangel im Sinne von § 138 Nr. 6
VwGO zeigt die Beschwerde insoweit nicht auf. Denn es wird nachvollziehbar dar-
gelegt, warum das Gericht eine so lange Inhaftierung als der Lebenserfahrung wider-
sprechend ansieht, wenn sie nur dazu dienen konnte, Auskünfte über den Vater zu
erlangen, der - anders als der Kläger und sein Zwillingsbruder - ein hoher Funktionär
des abgelösten Regimes war (UA S. 12). Für auf die allgemeine Lebenserfahrung
gestützte Bewertungen bedarf es - entgegen der Ansicht der Beschwerde (Begrün-
dung S. 4 unten) - keiner Darlegung einer besonderen Sachkunde.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2
VwGO).
- 6 -
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden ge-
mäß § 83 b Abs. 1 AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus
§ 83 b Abs. 2 AsylVfG.
Eckertz-Höfer
Dr. Mallmann
Prof. Dr. Dörig