Urteil des BVerwG vom 28.05.2015

Rechtliches Gehör, Ablauf der Frist, Rüge, Unrichtigkeit

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 22.15 (1 B 4.15)
OVG 12 B 16.13
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 28. Mai 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Prof. Dr. Kraft
beschlossen:
Die Anhörungsrüge des Klägers gegen den Beschluss des Senats
vom 25. März 2015 - BVerwG 1 B 4.15 - wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Rügeverfahrens.
G r ü n d e :
Die Anhörungsrüge nach § 152a VwGO hat jedenfalls keinen Erfolg. Aus dem
Vorbringen des Klägers ergibt sich keine Verletzung seines Anspruchs auf
rechtliches Gehör gemäß § 152a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VwGO durch den Be-
schluss vom 25. März 2015, mit dem seine Beschwerde gegen die Nichtzulas-
sung der Revision zurückgewiesen worden ist.
1. Wird die Nichtzulassung der Revision in einer Entscheidung der Vorinstanz
mit der Beschwerde angegriffen, ist der Prüfungsrahmen auf die gemäß § 133
Abs. 3 Satz 3 VwGO fristgerecht vorgetragenen Beschwerdegründe im Sinne
des § 132 Abs. 2 VwGO beschränkt (vgl. nur BVerwG, Beschlüsse vom
11. September 1990 - 1 CB 6.90 - Buchholz 300 § 185 GVG Nr. 2 und vom
20. Dezember 1991 - 1 B 160.91 - InfAuslR 1992, 39). Der Senat hat in dem
angegriffenen Beschluss alle vom Kläger angeführten (tatsächlichen und recht-
lichen) Gründe geprüft und dabei ersichtlich dessen Vorbringen zur Kenntnis
genommen und erwogen. Er hat daraus aber andere Schlüsse als der Kläger
gezogen. Weder der Überzeugungsgrundsatz noch der Anspruch auf rechtli-
ches Gehör vermitteln aber einen Anspruch darauf, dass ein Gericht dem zur
Kenntnis genommenen Vorbringen eines Beteiligten auch in der Sache folgt.
2. Der Senat war zur Wahrung ausreichenden rechtlichen Gehörs nicht gehal-
ten, dem Kläger zu der (beabsichtigten) rechtlichen Bewertung des Vorbringens
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zur Stützung der Nichtzulassungsbeschwerde eine Stellungnahme zu ermögli-
chen. Lediglich dann, wenn das Gericht bei seiner Entscheidung auf eine recht-
liche Sichtweise oder auf eine bestimmte Bewertung des Sachverhalts abstellen
will, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem
bisherigen Verfahrensverlauf unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer
Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht, gebietet es der Grundsatz des
rechtlichen Gehörs, über die allgemeine Pflicht des Gerichts, die Ausführungen
der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, soweit sie
entscheidungserheblich sind (BVerfG, Beschluss vom 17. November 1992 -
1 BvR 168/89 u.a. - BVerfGE 87, 363 <392 f.> m.w.N.; BVerwG, Urteile vom
29. November 1985 - 9 C 49.85 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 177 S. 65
m.w.N. und vom 20. November 1995 - 4 C 10.95 - Buchholz 310 § 108 VwGO
Nr. 267 S. 22) hinaus zur Vermeidung einer unzulässigen Überraschungsent-
scheidung vor der Entscheidung auf diese Gesichtspunkte hinzuweisen
(BVerwG, Urteil vom 31. Juli 2013 - 6 C 9.12 - NVwZ 2013, 1614 Rn. 38
m.w.N.). Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist allerdings nur
dann dargetan, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht diesen
Pflichten nicht nachgekommen ist. Davon kann vorliegend nach dem Stand des
Verfahrens und den in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
konkretisierten Anforderungen an die Begründung der Beschwerde gegen die
Nichtzulassung der Revision keine Rede sein.
3. Auch sonst ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Gerichte das von
ihnen entgegengenommene Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in
Erwägung gezogen haben (BVerfG, Beschluss vom 10. Juni 1975 - 2 BvR
1086/74 - BVerfGE 40, 101 <104 f.>). Dazu muss das Gericht nicht auf sämtli-
ches Tatsachenvorbringen und alle Rechtsauffassungen eingehen, die im Ver-
fahren von der einen oder anderen Seite zur Sprache gebracht worden sind
(BVerfG, Beschlüsse vom 10. Juni 1975 - 2 BvR 1086/74 - BVerfGE 40, 101
<104 f.> und vom 5. Oktober 1976 - 2 BvR 558/75 - BVerfGE 42, 364 <368>).
Nur der wesentliche Kern des Tatsachenvorbringens einer Partei, der nach der
materiellrechtlichen Auffassung des Gerichts von zentraler Bedeutung für den
Ausgang des Verfahrens ist, muss in den Gründen der Entscheidung behandelt
werden (BVerwG, Urteil vom 20. November 1995 - 4 C 10.95 - Buchholz 310
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§ 108 VwGO Nr. 267 S. 22). Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG liegt nur
dann vor, wenn auf den Einzelfall bezogene Umstände deutlich ergeben, dass
das Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis ge-
nommen oder ersichtlich nicht erwogen worden ist (BVerfG, Beschlüsse vom
1. Februar 1978 - 1 BvR 426/77 - BVerfGE 47, 182 <187 f.> und vom 19. Mai
1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 <146>) oder dass die Entscheidung
maßgebend auf Aspekte gestützt worden ist, mit denen im vorgenannten Sinne
nicht zu rechnen war. Solche Umstände sind vorliegend nicht erkennbar.
Das umfangreiche Vorbringen zur Stützung der Anhörungsrüge wiederholt und
vertieft der Sache nach das Vorbringen aus der Nichtzulassungsbeschwerde.
Dies vernachlässigt bereits im Ansatz, dass die Gründe, aus denen die Zulas-
sung einer in der Berufungsentscheidung nicht zugelassenen Revision erreicht
werden soll, nur innerhalb der Begründungsfrist des § 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO
vorgetragen werden können. Nach Ablauf der Frist können nur Ergänzungen zu
bereits hinreichend geltend gemachten Zulassungsgründen berücksichtigt, nicht
aber andere oder zusätzliche Zulassungsgründe nachgeschoben oder eine
nicht hinreichend substantiierte Begründung substanziell unterfüttert werden (s.
m.w.N. - Eyermann/Kraft, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 133 Rn. 16). Das Vorbrin-
gen, der Senat habe bestimmte Argumentationsgänge des Klägers entweder
nicht gesehen, nicht verstanden oder doch übergangen, gründet auf einer
Rechtsauffassung, die von der des Senats gerade abweicht.
4. Dem Kläger ist das rechtliche Gehör auch nicht dadurch abgeschnitten wor-
den, dass er zu dem Schriftsatz des Beklagten vom 16. Februar 2015 nicht vor
Beschlussfassung hat Stellung nehmen können (Nr. 1). Dieser Schriftsatz ist
dem Kläger mit Verfügung vom 17. Februar 2015 formlos zur Kenntnisnahme
gegeben worden. Der Kläger hat bis zu der Beschlussfassung am 25. März
2015 schon nicht zu erkennen gegeben, dass er noch eine Stellungnahme ab-
zugeben beabsichtige. Unabhängig davon enthält der Schriftsatz des Beklagten
vom 16. Februar 2015 keinen für die Entscheidung über die Nichtzulassungs-
beschwerde erheblichen neuen Tatsachenvortrag, zu dem dem Kläger hätte
Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden müssen; auch die Rechtsaus-
führungen beschränken sich auf Gesichtspunkte, die für den Kläger nicht über-
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raschend sein konnten. Die abschließende rechtliche Bewertung obliegt ohne-
hin dem Gericht. Selbstständig tragend kommt hinzu, dass der mit der Anhö-
rungsrüge vorgelegte, auf den 8. April 2015 datierende Schriftsatzentwurf zwar
der rechtlichen Bewertung des Beklagten zu den Erfolgsaussichten der Nichtzu-
lassungsbeschwerde entgegentritt, aber kein Vorbringen enthält, das eine an-
dere Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde ermöglicht hätte; dies
gilt insbesondere auch in Ansehung des Vorbringens zum Schreiben des Be-
klagten vom 7. März 2011.
5. Das Vorbringen, das Gericht habe "den Kläger auf offensichtliche Tippfehler
nicht (hingewiesen), wodurch dem Kläger nicht ermöglicht wurde, die Substanti-
iertheit seiner Beschwerde vorzubringen" (Nr. 2), geht von einer Hinweispflicht
des Gerichts aus, für die hier nichts erkennbar ist, und vernachlässigt, dass der
Beschluss vom 25. März 2015 tragend (zunächst) darauf abgestellt hat, dass
das Beschwerdevorbringen insoweit schon keine voneinander abweichenden,
divergierenden Rechtssätze erkennen lasse. Dies gilt im Übrigen auch für das
entsprechende Vorbringen der Anhörungsrüge, das weiterhin die Darlegungs-
anforderungen einer Divergenzrüge vernachlässigt.
6. Die im Rahmen der Rüge einer vermeintlichen Überraschungsentscheidung
(Nr. 3) sinngemäß erhobene Rüge einer Verletzung des gesetzlichen Richters
(Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) durch den angegriffenen Beschluss, weil die
Rechtssache nicht dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) vorgelegt
worden ist (S. 6 f.) kann nach § 152a VwGO schon nicht erhoben werden.
Selbst wenn man § 152a VwGO erweiternd auch auf andere vermeintliche Ver-
fassungsverstöße erweiterte, lässt das Vorbringen des Klägers eine Verletzung
der Vorlagepflicht nicht einmal im Ansatz erkennen; der Kläger setzt lediglich
seine Ausdeutung des Urteils des EuGH vom 18. Oktober 2012 - C-502/10 - der
des Senats gegenüber.
7. Die Rüge, dem Kläger sei "eine entscheidungserhebliche Erklärung imputiert"
worden (Nr. 4), verkennt den Sachgehalt des angegriffenen Beschlusses.
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8. Die Rüge, es seien in Bezug auf das an das Urteil des Bundesverwaltungs-
gerichts vom 11. November 2009 (- 1 C 24.08 -) anknüpfende Nichtzulassungs-
beschwerdevorbringen Schriftsätze zur Divergenzrüge unberücksichtigt geblie-
ben (Überschrift zu Nr. 5) bzw. das rechtliche Gehör dadurch verletzt worden,
dass dadurch ein ganzer Teil der Revisionszulassungsbeschwerde "übersprun-
gen" worden sei, vernachlässigt, dass zur Wahrung des rechtlichen Gehörs das
Gericht nicht auf sämtliches Tatsachenvorbringen und alle Rechtsauffassungen
eingehen muss, die im Verfahren von der einen oder anderen Seite zur Spra-
che gebracht worden sind, und der Beschluss gemäß § 133 Abs. 5 Satz 2
Halbs. 1 VwGO lediglich "kurz" begründet werden soll. Auch insoweit verkennt
die Anhörungsrüge zudem die besonderen Anforderungen, die an die Darle-
gung einer Divergenzrüge zu stellen sind.
9. Das Vorbringen zur vermeintlich unzureichenden Berücksichtigung des Be-
schwerdevortrages zu den Verfahrensfehlern der ersten (Nr. 6) und zweiten
(Nr. 7) Instanz macht der Sache nach allein die vermeintliche Fehlerhaftigkeit
der Feststellungen und Würdigungen des angegriffenen Beschlusses und damit
dessen sachliche Unrichtigkeit geltend. Auf eine Verletzung des rechtlichen
Gehörs gerade durch den erkennenden Senat weist dies nicht.
10. Das Vorbringen zur "Erschwerung des Zugangs zum Rechtsmittel bzw. zum
Europäischen Gerichtshof unter Anwendung unklarer Normen und möglicher
zweifacher Auslegung" (Nr. 8) macht ebenfalls nur die vermeintliche sachliche
Unrichtigkeit des anzugreifenden Beschlusses geltend und lässt keinen hinrei-
chenden Bezug zu den in § 152a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VwGO genannten Vo-
raussetzungen erkennen. Dass auch insoweit die rechtliche Bewertung des Se-
nats nicht mit der des Klägers übereinstimmt, belegt keine Verletzung des An-
spruchs auf rechtliches Gehör.
11. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 152a Abs. 4 Satz 3
i.V.m. § 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO [analog]).
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12. Die Kostenentscheidungen beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Dörig
Prof. Dr. Kraft
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