Urteil des BVerwG vom 26.02.2003, 1 B 218.02
Persönliche Anhörung, Politische Verfolgung, Grundsatz der Unmittelbarkeit, Bedrohung
B U N D E S V E R W A L T U N G S G E R I C H T
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 218.02 OVG 9 A 4107/99.A
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 26. Februar 2003 durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r und die Richter am Bundesverwaltungsgericht H u n d und Prof. Dr. D ö r i g
beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin zu 2 gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. April 2002 wird verworfen.
Auf die Beschwerde der Klägerin zu 1 wird der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. April 2002 aufgehoben, soweit er die Klägerin zu 1 betrifft.
Die Sache wird insoweit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung in der Hauptsache bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Die Klägerin zu 2 trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens zur Hälfte. Im Übrigen folgt die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache.
G r ü n d e :
1. Die Beschwerde der Klägerin zu 2 ist unzulässig. Sie erfüllt nicht die Anforderungen an die Darlegung eines Zulassungsgrundes gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO.
Zwar beruft sich die Beschwerde auf einen Verfahrensmangel im
Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, der darin gesehen wird,
dass das Berufungsgericht die Angaben der Klägerin zu 1 zu ih-
rer Verfolgung durch Islamisten in Sulaimaniya im Nordirak als
unglaubhaft wertete, ohne die Klägerin zu 1 angehört und die
Sache im Rahmen der Anhörung weiter aufgeklärt zu haben. Die
Beschwerde legt aber nicht dar, dass sich bei verfahrensgerechtem Verhalten eine politische Verfolgung der Klägerin zu 2
im Sinne von Art. 16 a GG oder ein Abschiebungshindernis im
Sinne von § 51 Abs. 1 AuslG hätte ergeben können. Dies wäre
schon allein deshalb erforderlich gewesen, weil sich die zur
Begründung der Beschwerde herangezogenen Bedrohungen und Bedrohungshandlungen ausschließlich gegen die Klägerin zu 1
richteten. Insofern hätte es näherer Darlegungen dazu bedurft,
dass die vorgetragenen Bedrohungen der Klägerin zu 1 auch eine
Gefahr politischer Verfolgung für die Klägerin zu 2 begründeten.
2. Die Beschwerde der Klägerin zu 1 hat mit einer Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) Erfolg. Der angefochtene Beschluss verletzt die gerichtliche Sachaufklärungspflicht (§ 86
Abs. 1 VwGO) und den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 96 VwGO). Wegen dieser Verfahrensmängel, auf denen
die Entscheidung beruht, weist der Senat die Sache gemäß § 133
Abs. 6 VwGO im Interesse der Verfahrensbeschleunigung unter
Aufhebung des angefochtenen Beschlusses an das Berufungsgericht zurück.
Die Klägerin zu 1 hat geltend gemacht, vor ihrer Ausreise aus
dem Irak von Islamisten im Krankenhaus von Sulaimaniya aufgesucht und wegen ihrer Weigerung zur Herausgabe von Medikamenten mit dem Tode bedroht worden zu sein. Sie hat die Ernsthaftigkeit der Bedrohung dadurch zu verdeutlichen gesucht, dass
sie schilderte, ihre älteste Tochter sei in ihrer Begleitung
in zeitlichem Zusammenhang mit dem Vorfall im Krankenhaus getötet worden, indem ein Pkw sie überfuhr. Sie gehe davon aus,
dass es ein gezielter Anschlag gewesen sei und er ihrem Leben
gegolten habe. Das Berufungsgericht hat der Klägerin zu 1 ihr
Vorbringen zu diesem Vorfluchtgeschehen in dem im vereinfachten Berufungsverfahren nach § 130 a VwGO ergangenen Beschluss
nicht geglaubt und u.a. deshalb eine Rückkehrgefährdung im Gebiet der inländischen Fluchtalternative Nordirak ausgeschlossen. Die Beschwerde rügt insoweit der Sache nach zu Recht,
dass das Berufungsgericht diesen Schluss nicht hätte ziehen
dürfen, ohne sich zuvor durch persönliche Anhörung der Klägerin zu 1 ein eigenes Bild von ihrer Glaubwürdigkeit gemacht zu
haben. Ob darin zugleich - wie die Beschwerde geltend macht -
eine Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt, kann offen bleiben.
Zwar hat sich das Berufungsgericht mit seiner tatrichterlichen
Bewertung nicht in Widerspruch zu einer etwa entgegenstehenden
Würdigung der Glaubwürdigkeit der Klägerin zu 1 durch das Verwaltungsgericht gesetzt (dazu, dass dies unzulässig wäre, vgl.
Beschluss vom 28. April 2000 - BVerwG 9 B 137.00 - Buchholz
402.25 § 1 AsylVfG Nr. 235). Denn dieses hatte ohne mündliche
Verhandlung entschieden, weil es eine Verfolgungsgefahr für
die Klägerin zu 1 schon wegen ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit und Herkunft aus Sulaimaniya bejahte. Das Berufungsgericht hat die Klägerin zu 1 auch nicht lediglich unter Übernahme einer entsprechenden Würdigung des Bundesamtes für unglaubwürdig gehalten (dazu, dass dies unzulässig gewesen wäre,
vgl. Beschluss vom 10. Mai 2002 - BVerwG 1 B 392.01 - Buchholz
402.25 § 1 AsylVfG Nr. 259 = InfAuslR 2003, 28). Es hat aber
aus ihrer protokollierten Aussage vor dem Bundesamt Ungereimtheiten und Widersprüche abgeleitet, ohne die Klägerin zu 1
persönlich anzuhören. Dass dies hier ausnahmsweise verfahrensrechtlich zulässig war, lässt sich der Berufungsentscheidung
nicht entnehmen.
Von der persönlichen Anhörung der Klägerin zu 1 hätte das Berufungsgericht nach der Rechtsprechung des Senats nur absehen
dürfen, wenn es in der protokollierten Aussage der Klägerin
zu 1 solche Widersprüche, Ungereimtheiten oder Unvereinbarkeiten zwischen ihrem Vorbringen und seinen gesicherten Erkenntnissen aufgezeigt hätte, die die Wahrheit der behaupteten Tatsachen auch ohne den persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit der Klägerin zu 1 von vornherein ausschlössen (vgl.
Beschluss vom 11. Juni 2002 - BVerwG 1 B 37.02 - Buchholz
402.25 § 1 AsylVfG Nr. 260). Das ist hier jedoch nicht der
Fall. So genügt es nicht, wenn das Gericht den Vortrag der
Klägerin zu 1 zur Bedrohung durch Islamisten im Krankenhaus
von Sulaimaniya als "lebensfremd" ansieht (BA S. 9). Die Beschwerde wendet dagegen zutreffend ein, dass sie bei einer Anhörung hierzu hätte - im Einzelnen bezeichnete - Angaben machen können, die die Zweifel des Gerichts hätten ausräumen
können (Beschwerdebegründung S. 2). Auch die vom Berufungsgericht im angefochtenen Beschluss angestellten Erwägungen zur
Unglaubhaftigkeit des Vortrags zu einem Attentat auf die Klägerin zu 1 und ihre älteste Tochter (BA S. 10 f.) ergeben
nicht, dass eine persönliche Anhörung der Klägerin zu 1 entbehrlich gewesen ist. Auch hierzu beruft sich die Beschwerde
schlüssig auf erhebliches ergänzendes Vorbringen bei einer
persönlichen Anhörung (Beschwerdebegründung S. 2/3).
Der angefochtene Beschluss beruht auf dem festgestellten Verfahrensverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht bei einer persönlichen Anhörung der Klägerin zu 1
deren Vortrag zu ihrem individuellen Verfolgungsschicksal
Glauben geschenkt hätte. Dann hätte es sich mit der von ihm
offen gelassenen Frage (BA S. 9) auseinander setzen müssen, ob
die Verfolgung durch islamistische Gruppen im Nordirak eine
politische Verfolgung im Sinne von Art. 16 a GG und/oder im
Sinne von § 51 Abs. 1 AuslG darstellte und ob sie vor erneuten
Nachstellungen bei einer Rückkehr hinreichend sicher wäre.
Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass eine (erneute) Entscheidung im vereinfachten Berufungsverfahren
nach § 130 a VwGO ohne mündliche Verhandlung unzulässig ist,
weil die Kläger in erster Instanz durch Gerichtsbescheid obsiegt haben (vgl. Urteil vom 14. März 2002 - BVerwG 1 C
15.01 - BVerwGE 116, 123).
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5 C 19.11 vom 10.01.2013
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