Urteil des BVerwG vom 09.05.2003

Hauptsache, Verfügung, Irak, Rüge

B
U
N
D
E
S
V
E
R
W
A
L
T
U
N
G
S
G
E
R
I
C
H
T
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 217.02 (1 PKH 35.02)
VGH 20 B 00.32502
In der Verwaltungsstreitsache
- 2 -
hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 9. Mai 2003
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts
E c k e r t z - H ö f e r , den Richter am Bundes-
verwaltungsgericht R i c h t e r und die Richterin
am Bundesverwaltungsgericht B e c k
beschlossen:
Dem Kläger wird für das Beschwerdeverfahren
Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt
Markus N., ..., als Prozessbevollmächtigter
beigeordnet.
Auf die Beschwerde der Beklagten wird der Be-
schluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs
vom 8. April 2002 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung
und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof
zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten in der Haupt-
sache bleibt der Schlussentscheidung vorbehal-
ten.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwer-
deverfahrens folgt der vorbehaltenen Kostenent-
scheidung in der Hauptsache.
G r ü n d e :
Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für den Kläger beruht
auf § 166 VwGO i.V.m. den §§ 114 f. und § 121 ZPO. Sie ist dem
Kläger nach dessen glaubhaft gemachten Einkommensverhältnissen
ohne Ratenzahlung zu gewähren.
Die Beschwerde der Beklagten ist zulässig und begründet. Die
Beklagte rügt der Sache nach zu Recht, dass das Berufungsge-
richt seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts verletzt
- 3 -
hat (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 86 Abs. 1 VwGO). Denn
das Berufungsgericht, das seine Entscheidung im Beschlussver-
fahren gemäß § 130 a VwGO am 8. April 2002 getroffen hat, hat
für seine Überzeugungsbildung den ihm mit Anschreiben des Bun-
desministeriums der Justiz vom 26. März 2002 übersandten Be-
richt des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsre-
levante Lage im Irak vom 20. März 2002 nicht herangezogen. Die
Beklagte braucht sich in diesem Zusammenhang nicht darauf ver-
weisen zu lassen, dass sie das Berufungsgericht von sich aus
auf den neuen Lagebericht hätte aufmerksam machen müssen. Bei
den regelmäßig erstellten Lageberichten des Auswärtigen Amtes,
die für die richterliche Aufklärung der maßgeblichen politi-
schen Verhältnisse in den Herkunftsstaaten von zentraler Be-
deutung sind, sind die mit Asylsachen befassten Verwaltungsge-
richte grundsätzlich gehalten, sich von Amts wegen zu verge-
wissern, ob ein neuer Lagebericht zur Verfügung steht und
asylrechtlich erhebliche Änderungen der politischen Verhält-
nisse in dem betreffenden Land beschreibt.
Die von der Beschwerde angefochtene Berufungsentscheidung kann
auch auf der Nichtheranziehung des Lageberichts beruhen. Die
Beklagte trägt zutreffend vor, dass der Bericht neue Erkennt-
nisse des UNHCR Bagdad und des IKRK über die Anwendung des
"Amnestie-Dekrets" Nr. 110 vom 28. Juni 1999 enthält, die zu
einer anderen Beurteilung der Verfolgungsgefahr wegen illega-
ler Ausreise und Asylantragstellung auch für aus Europa zu-
rückkehrende Asylbewerber, zumindest aber zu weiteren Aufklä-
rungsmaßnahmen hätten führen können. Wegen dieses Verfahrens-
fehlers verweist der Senat die Sache nach § 133 Abs. 6 VwGO im
Interesse der Verfahrensbeschleunigung - unter Aufhebung des
angefochtenen Beschlusses - an das Berufungsgericht zurück.
Auf die von der Beschwerde weiter geltend gemachten Revisions-
zulassungsgründe kommt es deshalb nicht mehr entscheidend an.
- 4 -
Der Senat bemerkt hierzu gleichwohl Folgendes: Die Rüge, das
Berufungsgericht habe gegen die Verfahrensgarantien des
§ 130 a VwGO verstoßen und gleichzeitig den Anspruch der Be-
klagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, weil es
erst etwa sechs Monate nach Ablauf der den Beteiligten gesetz-
ten Äußerungsfrist zum vereinfachten Berufungsverfahren ent-
schieden habe, ist unbegründet (vgl. hierzu z.B. Beschluss vom
16. Februar 1999 - BVerwG 9 B 1011.98 - Buchholz 310 § 130 a
VwGO Nr. 34 sowie Beschluss vom 30. Oktober 2000 - BVerwG 9 B
393.00 - a.a.O., Nr. 52 jeweils m.w.N.). Soweit die Beschwerde
ihre Verfahrensrüge in diesem Zusammenhang auf § 77 Abs. 1
AsylVfG bezieht, macht sie keine fehlerhafte Anwendung von
verwaltungsprozessualen Vorschriften im Sinne des § 132 Abs. 2
Nr. 3 VwGO geltend, sondern behauptet einen Rechtsverstoß, der
revisionsrechtlich nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem
sachlichen Recht zuzuordnen ist. Die Rüge der Beschwerde, das
Berufungsgericht sei hinsichtlich des Prognosemaßstabs der be-
achtlichen Wahrscheinlichkeit inzident von der Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts abgewichen, greift mangels eines
abweichenden Rechtssatzes in der Berufungsentscheidung
ebenfalls nicht durch. Möglicherweise berechtigt ist dagegen
der Vorwurf der Beschwerde, das Berufungsgericht habe sich
verfahrensfehlerhaft nicht mit der Auffassung des Niedersäch-
sischen Oberverwaltungsgerichts zur Frage der Sippenhaft aus-
einander gesetzt. Zwar ist ein derartiger Fehler bei der Be-
weiswürdigung regelmäßig als materiellrechtlicher Mangel und
nicht als Verfahrensmangel zu beurteilen (vgl. Beschluss vom
20. Februar 2003 - BVerwG 1 B 184.02 -). Hier könnte in der
fehlenden Erörterung der Problematik der Sippenhaft aber
zugleich ein Begründungsmangel im Sinne des § 108 Abs. 1
Satz 2 VwGO vorliegen. Angesichts der ausführlichen Auseinan-
dersetzung mit der Problematik im erstinstanzlichen Urteil
hätte es zur Darlegung der tragenden Entscheidungsgründe wohl
- 5 -
näherer Begründung durch das Berufungsgericht bedurft (vgl.
Beschluss vom 1. September 1997 - 8 B 144.97 - Buchholz 406.11
§ 128 BauGB Nr. 50).
Eckertz-Höfer Richter Beck
Sachgebiet :
BVerwGE : nein
Asylrecht
Fachpresse : ja
Rechtsquelle:
VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 3, § 86 Abs. 1
Stichworte :
Irak, Verletzung der Aufklärungspflicht, grundsätzliche
Pflicht der Tatsachengerichte zur Berücksichtigung neuer Lage-
berichte.
Leitsatz :
Bei den regelmäßig erstellten Lageberichten des Auswärtigen
Amtes, die für die richterliche Aufklärung der maßgeblichen
politischen Verhältnisse in den Herkunftsstaaten von zentraler
Bedeutung sind, sind die mit Asylsachen befassten Verwaltungs-
gerichte grundsätzlich gehalten, sich von Amts wegen zu verge-
wissern, ob ein neuer Lagebericht zur Verfügung steht und
asylrechtlich erhebliche Änderungen der politischen Verhält-
nisse in dem betreffenden Land beschreibt.
Beschluss des 1. Senats vom 9. Mai 2003 – BVerwG 1 B 217.02
I. VG Ansbach vom 27.11.2000 – Az.: VG AN 20 K 00.32259
II. VGH München vom 08.04.2002 – Az.: VGH 20 B 00.32502