Urteil des BVerwG vom 03.08.2006

Politische Verfolgung, Bestrafung, Rüge, Hauptsache

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 20.06
OVG 10 A 10580/05
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 3. August 2006
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck und den Richter
am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig
beschlossen:
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz
vom 18. November 2005 wird aufgehoben, soweit es den
Kläger zu 1 betrifft.
Die Sache wird insoweit zur anderweitigen Verhandlung
und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurück-
verwiesen.
Die Kostenentscheidung in der Hauptsache bleibt der
Schlussentscheidung vorbehalten.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdever-
fahrens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der
Hauptsache.
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G r ü n d e :
Die Beschwerde des allein noch das Verfahren betreibenden Klägers zu 1 (im
Folgenden: Kläger) ist mit der Rüge eines Verstoßes gegen das rechtliche Ge-
hör (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) begründet. Im
Interesse der Verfahrensbeschleunigung wird die Sache gemäß § 133 Abs. 6
VwGO unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das Berufungsgericht
zurückverwiesen.
1. Die von der Beschwerde geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der
Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) ist nicht in einer den Anforderungen
des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden Weise dargetan. Die Frage, ob
das gegen den Kläger in der Türkei anhängige Strafverfahren wegen eines Ver-
stoßes gegen Art. 159 des türkischen Strafgesetzbuchs - tStGB - (alt) bzw.
Art. 301 tStGB (neu) „per se politische Verfolgung im Sinne des Asylrechts“ ist
(Beschwerdebegründung S. 4), hängt von der Auslegung und Anwendung die-
ser Vorschriften durch die türkischen Strafgerichte ab und ist deshalb in erster
Linie eine Frage tatsächlicher Art, die allein von den Tatsacheninstanzen zu
beantworten ist. Im Übrigen sind die rechtlichen Voraussetzungen, unter denen
die Bestrafung wegen Staatsschutzdelikten als politische Verfolgung sowohl
nach Art. 16a GG als auch nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu bewerten ist, in der
Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. BVerfGE 80, 315, 337 ff. und 81,
142, 149 ff.). Eine bestimmte weitergehende klärungsbedürftige Rechtsfrage,
die in einem Revisionsverfahren beantwortet werden könnte, zeigt die Be-
schwerde nicht auf.
2. Im Ergebnis zu Recht beanstandet die Beschwerde dagegen, dass sich dem
Berufungsurteil nicht entnehmen lässt, dass sich das Berufungsgericht mit dem
Vorbringen des Klägers in seinen Schriftsätzen vom 28. Mai und 11. August
2005 zum politischen Charakter des Strafverfahrens und der ihm drohenden
Strafe nach Art. 159 tStGB (alt) bzw. § 301 tStGB (neu) hinreichend befasst hat
(Beschwerdebegründung S. 4 f.). Unter den besonderen Umständen des vor-
liegenden Falles ist nicht erkennbar, dass das Berufungsgericht ausreichend
erwogen und nachprüfbar belegt hat, weshalb es trotz der von ihm unterstellten
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Bestrafung des Klägers nach § 159 tStGB (alt) bzw. § 301 tStGB (neu) an-
nimmt, diesem drohe insoweit nach der Praxis der türkischen Gerichte keine
asylrelevante, an ein unverfügbares Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne
des § 60 Abs. 1 AufenthG. So hat es weder näher dargelegt, weshalb die den
Staatsschutzdelikten zuzurechnende Strafvorschrift als solche und nach der
Strafverfolgungspraxis keinen Verfolgungscharakter aufweist, noch hat es Fest-
stellungen dazu getroffen, mit welcher Strafe der Kläger rechnen muss und
dass die zu erwartende Strafe keine unverhältnismäßige, (auch) an asylerhebli-
che Merkmale anknüpfende Sanktion darstellt.
3. Auf die ferner erhobene weitere Gehörsrüge (Beschwerdebegründung
S. 1 ff.) kommt es danach nicht mehr an. Der Senat bemerkt allerdings, dass
diese Rüge voraussichtlich schon deshalb keinen Erfolg gehabt hätte, weil das
Berufungsgericht in den Urteilsgründen selbst davon ausgegangen ist, dass der
Kläger mit einem Ermittlungs- und Strafverfahren nebst Verurteilung und Straf-
verbüßung rechnen muss (UA S. 12, 23), so dass der angeblich nicht berück-
sichtigte Vortrag über die Eröffnung eines Hauptverfahrens nicht entschei-
dungserheblich gewesen sein dürfte.
4. Für das erneute Berufungsverfahren weist der Senat darauf hin, dass ggf.
auch zu prüfen ist, ob die Anerkennung des Klägers zu 1 als Flüchtling nach
§ 28 Abs. 2 AsylVfG ausgeschlossen ist.
Eckertz-Höfer Beck Prof. Dr. Dörig
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