Urteil des BVerwG vom 08.04.2004

Rechtliches Gehör, Schutz des Familienlebens, Emrk, Schwerer Eingriff

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 199.03
VGH A 2 S 711/01
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 8. April 2004
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r ,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht B e c k und den Richter am
Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. D ö r i g
beschlossen:
Auf die Beschwerde der Klägerinnen wird das Urteil des
Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 22. Mai
2003 aufgehoben, soweit es den Anspruch auf Abschiebungs-
schutz nach § 53 Abs. 6 AuslG betrifft.
Insoweit wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Ent-
scheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Beschwerde der Klägerinnen verworfen.
Die Klägerinnen tragen die Hälfte der Kosten des Beschwerde-
verfahrens. Im Übrigen bleibt die Kostenentscheidung in der
Hauptsache der Schlussentscheidung vorbehalten.
Die Entscheidung über die restlichen Kosten des Beschwerde-
verfahrens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der
Hauptsache.
G r ü n d e :
Die Beschwerde der Klägerinnen hat insoweit Erfolg, als sie sich auf die Feststellung
des Vorliegens der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 AuslG bezieht. Die hierzu er-
hobene Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) ist begründet (2.). Soweit die
Beschwerde die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 4 AuslG
betrifft, ist sie bereits unzulässig, weil die insoweit allein geltend gemachte
grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) nicht den
Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend dargelegt ist (1.).
1. Die Beschwerde hält im Rahmen des Begehrens auf Wiederaufgreifen des Ver-
fahrens zum Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 AuslG die Frage für grundsätz-
lich bedeutsam,
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ob eine Regelung, die ohne konkrete Berücksichtigung des Kindeswohles das
Sorgerecht über Kinder ab einer gewissen Altersstufe (hier sieben Jahre für
Jungen und zehn Jahre für Mädchen) stets dem Vater - sofern dieser zur
Ausübung der Sorge tatsächlich in der Lage ist - zuspricht, von der Schwere
her einem Eingriff vergleichbar ist, der zu einer menschenunwürdigen Be-
handlung gemäß Art. 3 EMRK führt.
Die Beschwerde legt indes nicht dar, inwiefern diese vom Berufungsgericht verneinte
Frage rechtsgrundsätzlich klärungsbedürftig ist. Dass die in der Frage beschriebene,
nach den Feststellungen des Berufungsgerichts im Herkunftsland der Klägerin zu 1
(Libanon) geltende Sorgerechtsregelung für die Mutter und die Kinder eine un-
menschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe im Sinne des Art. 3 EMRK
darstellt, wird von der Beschwerde selbst nicht behauptet. Sie macht vielmehr gel-
tend, es liege ein vergleichbar schwerer Eingriff vor, weil diese Sorgerechtsregelung
Art. 8 und Art. 14 EMRK verletze. Auf europäischer Ebene sei anerkannt, dass die
Regelung des Sorgerechts nach dem Scheitern der Ehe an Art. 8 Abs. 2 EMRK zu
messen sei. Danach seien aber nur Entscheidungen, die aufgrund einer genauen
Abwägung des Kindeswohls ergingen, zu rechtfertigen. Der Verwaltungsgerichtshof
habe selbst darauf hingewiesen, dass nach dem deutschen "ordre public" das Kin-
deswohl bei der Sorgerechtsentscheidung konkret berücksichtigt werden müsse. Die
Sorgerechtsregelung verstoße auch gegen Art. 14 EMRK, weil sie eine geschlechts-
spezifische Diskriminierung darstelle.
Dieses und das weitere Vorbringen der Beschwerde genügt nicht den Anforderungen
an die Darlegung einer Grundsatzbedeutung. Die Beschwerde teilt schon nicht mit,
auf welche Entscheidungen oder Praxis zu Art. 8 EMRK "auf europäischer Ebene"
sie sich bezieht. Soweit sie damit Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte (EGMR) zur Auslegung von Art. 8 EMRK zu Sorgerechtsregelungen
in den Signatarstaaten der Konvention (Vertragsstaaten) meint, ist weder dargetan
noch sonst ersichtlich, dass die darin aufgestellten Anforderungen auch auf
Sorgerechtsregelung in Drittstaaten angewandt worden sind und zum Verbot einer
Abschiebung wegen Verletzung von Art. 8 EMRK geführt haben. Auch die Be-
schwerde selbst setzt sich nicht damit auseinander, dass der Libanon als Drittstaat
nicht den Bestimmungen der Konvention unterliegt und dass nicht jede Konventions-
verletzung durch einen Drittstaat bereits ohne weiteres eine Abschiebung des davon
betroffenen Ausländers in diesen Staat verbietet. Insoweit ist durch die vom Verwal-
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tungsgerichtshof zutreffend dargestellte Rechtsprechung der Senats (Urteil vom 24.
Mai 2000 - BVerwG 9 C 34.99 - BVerwGE 111, 223) bereits grundsätzlich geklärt,
dass die Abschiebung eines Ausländers in einen Nicht-Vertragsstaat nicht nur unzu-
lässig ist, wenn ihm dort unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne
von Art. 3 EMRK droht, sondern auch dann - aber auch nur dann - unzulässig sein
kann, wenn im Einzelfall andere in der Europäischen Konvention zum Schutze der
Menschenrechte und Grundfreiheiten verbürgte, von allen Vertragsstaaten als grund-
legend anerkannte Menschenrechtsgarantien in ihrem Kern bedroht sind. Das setzt
voraus, dass dem Ausländer in dem Nicht-Vertragsstaat Maßnahmen drohen, die
einen äußersten menschenrechtlichen Mindeststandard unterschreiten. Die Be-
schwerde hält offenbar bereits diesen Ausgangspunkt für unzutreffend, ohne dies
näher zu begründen. Sie legt infolgedessen auch nicht - wie erforderlich - dar, dass
und aus welchen Gründen sich entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts allein
aus der fraglichen Sorgerechtsregelung im Libanon generell und ohne Hinzutreten
besonderer Umstände des Einzelfalles - wie etwa einem willkürlich verhängten Ver-
bot jeglichen Umgangs - eine Unterschreitung des menschenrechtlichen Mindest-
standards im Hinblick auf den Schutz des Familienlebens in Art. 8 EMRK ergeben
sollte. Gleiches gilt für die Berufung der Beschwerde auf das Diskriminierungsverbot
des Art. 14 EMRK.
Weitere Rügen hat die Beschwerde im Rahmen des Abschiebungsschutzes nach
§ 53 Abs. 4 AuslG nicht erhoben.
2. Die von der Beschwerde erhobene Verfahrensrüge der Verletzung des Anspruchs
der Klägerinnen auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) im
Hinblick auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6
AuslG ist dagegen begründet.
Die Klägerinnen haben im Berufungsverfahren vorgetragen, der 1996 in den Libanon
abgeschobene geschiedene Ehemann der Klägerin zu 1 habe diese im März 2001 in
ihrer Wohnung aufgesucht und ihr unter Gewaltanwendung massiv gedroht, ihr die
Kinder wegzunehmen; im Mai 2001 sei er von den deutschen Behörden in ihrer
Wohnung verhaftet worden. Die Klägerin zu 1 müsse deshalb befürchten, ihr Ehe-
mann werde die Verhaftung mit ihr in Verbindung bringen und sich durch gewaltsa-
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me, dauerhafte Wegnahme der Kinder an ihr rächen. Dem wären sie, die Klägerin-
nen, im Libanon schutzlos ausgeliefert. Das Berufungsgericht hat hierzu ausgeführt,
vor dem Hintergrund, dass dem Ehemann der Klägerin zu 1 ohnehin das Sorgerecht
für die Kinder zustehe, sei eine drohende Gewalttätigkeit wenig wahrscheinlich. Auch
aus der Verhaftung des Ehemannes in der deutschen Wohnung der Klägerin zu 1
lasse sich die erforderliche konkrete und erhebliche Gefährdungssituation im Sinne
des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nicht ableiten. Es fehle insbesondere jeglicher Vortrag
dahin gehend, die Klägerin zu 1 habe den deutschen Behörden - etwa durch telefo-
nische Benachrichtigung - den Zugriff des Ehemannes in ihrer Wohnung ermöglicht
(UA S. 17 f.). Die Beschwerde rügt der Sache nach zu Recht, dass das Berufungs-
gericht das Fehlen eines entsprechenden Vortrags der Klägerinnen nicht ohne einen
vorherigen Hinweis oder eine Nachfrage bei der zur mündlichen Verhandlung er-
schienenen Klägerin zu 1 zu ihren Ungunsten hätte bewerten dürfen. Zwar folgt aus
dem Recht auf rechtliches Gehör keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des
Gerichts (vgl. BVerfGE 84, 188, 190). Auch in der Ausprägung, die dieses Recht in
§ 86 Abs. 3 VwGO gefunden hat, wird dem Gericht keine umfassende Erörterung
aller entscheidungserheblichen Gesichtspunkte abverlangt. Insbesondere muss ein
Gericht die Beteiligten grundsätzlich nicht vorab auf seine Rechtsauffassung oder die
beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffs hinweisen, weil sich die tatsächliche und
rechtliche Würdigung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung ergibt
(stRspr, vgl. etwa Beschluss vom 28. Dezember 1999 - BVerwG 9 B 467.99 - Buch-
holz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 51). Stellt das Gericht aber an den Vortrag eines
Beteiligten Anforderungen, mit denen auch ein verständiger Prozessbeteiligter auf-
grund des bisherigen Verlaufs des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte, ist es zur
Vermeidung einer Überraschungsentscheidung verpflichtet, einen entsprechenden
Hinweis zu geben. So liegt der Fall hier. Dabei kann offen bleiben, ob das Gericht,
wie von der Beschwerde behauptet, dem Prozessbevollmächtigten der Klägerinnen
in der mündlichen Verhandlung "mehrfach suggeriert" hat, dass es vom Sachvortrag
der Klägerin ausgehe und "der Sachverhalt klar" sei. Denn aufgrund der besonderen
Umstände des Falles konnte ein sachkundiger und verständiger Prozessbeteiligter
auch ohne derartige Äußerungen des Gerichts nicht damit rechnen, dass dieses bei
der Beurteilung der Gefährdung durch die Rache des Ehemannes u.a. maßgeblich
darauf abstellt, dass die Klägerinnen nicht vorgetragen haben, auf wessen Veranlas-
sung der Zugriff der deutschen Behörden auf den Ehemann in ihrer Wohnung zu-
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rückging. Hätte das Gericht auf diesen Gesichtspunkt in der mündlichen Verhandlung
hingewiesen, hätten die Klägerinnen Gelegenheit gehabt, wie von der Beschwerde
ausgeführt, ihren Vortrag zu ergänzen und unter Beweis zu stellen, dass sich die
Klägerin zu 1 angesichts der körperlichen Übergriffe ihres Ehemannes im Frühjahr
2001 unter Vermittlung des Diakonischen Werks an die Ausländerbehörde gewandt
habe. Da das Berufungsgericht seine Prognose, dass den Klägerinnen nicht mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG
durch die Rache ihres Ehemannes/Vaters in Gestalt der gewaltsamen dauerhaften
Trennung droht, u.a. auch auf den fehlenden Vortrag der Klägerin zu 1 zu diesen
Umständen gestützt hat (UA S. 17 f.), lässt sich nicht ausschließen, dass es unter
Berücksichtigung des ergänzenden, nicht von vornherein unerheblichen Vorbringens
bzw. nach weiterer Aufklärung der Umstände der Verhaftung zu einer anderen, für
die Klägerinnen günstigeren Beurteilung gekommen wäre.
Auf die von der Beschwerde weiter erhobenen Verfahrensrügen im Rahmen des Ab-
schiebungsschutzes nach § 53 Abs. 6 AuslG braucht deshalb nicht näher eingegan-
gen zu werden.
Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung verweist der Senat die Sache hinsicht-
lich der Feststellungen zu § 53 Abs. 6 AuslG nach § 133 Abs. 6 VwGO unter teilwei-
ser Aufhebung des angefochtenen Urteils an das Berufungsgericht zurück.
Die Klägerinnen tragen gemäß § 155 Abs. 1 VwGO die Hälfte der Kosten des Be-
schwerdeverfahrens, da ihre Beschwerde hinsichtlich des Abschiebungsschutzes
nach § 53 Abs. 4 AuslG erfolglos geblieben ist. Im Übrigen bleibt die Kostenent-
scheidung der Schlussentscheidung vorbehalten. Ihr folgt auch die Entscheidung
über die verbleibende Hälfte der Kosten des Beschwerdeverfahrens. Gerichtskosten
werden gemäß § 83 b Abs. 1 AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt
sich aus § 83 b Abs. 2 AsylVfG.
Eckertz-Höfer
Beck
Prof. Dr. Dörig