Urteil des BVerwG vom 29.06.2005

Diabetes Mellitus, Kosovo, Medikament, Behandlung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 1 B 174.04
OVG 13 LB 176/03
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. Juni 2005
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. D ö r i g und
R i c h t e r sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht B e c k
beschlossen:
Der Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsge-
richts vom 6. September 2004 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entschei-
dung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten in der Hauptsache bleibt der
Schlussentscheidung vorbehalten.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens
folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache.
G r ü n d e :
Die Beschwerde hat mit der von ihr erhobenen Verfahrensrüge nach § 132 Abs. 2
Nr. 3 VwGO Erfolg. Die Beschwerde rügt der Sache nach zu Recht, dass das Beru-
fungsgericht über den streitigen Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Abschie-
bungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (jetzt § 60 Abs. 7 AufenthG) nicht ohne
weitere Aufklärung der Frage hätte entscheiden dürfen, ob die Klägerin zur Behand-
lung ihrer Diabeteserkrankung auf das Insulinpräparat "Insuman comb 25" zwingend
angewiesen ist und ob dieses Medikament ggf. im Kosovo für sie erhältlich ist (§ 86
Abs. 1 VwGO). Ob in der Vorgehensweise des Gerichts, wie die Beschwerde meint,
auch eine Verletzung des rechtlichen Gehörs zu sehen ist, kann deshalb dahinste-
hen. Wegen des Verfahrensmangels der Verletzung der Aufklärungspflicht, auf dem
die Entscheidung beruhen kann, verweist der Senat gemäß § 133 Abs. 6 VwGO im
Interesse der Verfahrensbeschleunigung die Sache unter Aufhebung des angefoch-
tenen Beschlusses an das Berufungsgericht zurück.
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Die aus dem Kosovo stammende Klägerin leidet u.a. unstreitig an einem insulin-
pflichtigen Diabetes mellitus, der ausweislich der vorgelegten ärztlichen Atteste mit
dem Präparat "Insuman comb 25" behandelt wird. Das Verwaltungsgericht hat ihr
deshalb auf ihren Asylfolgeantrag hin wegen unzureichender Behandlungsmöglich-
keiten dieser Erkrankung im Kosovo Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1
AuslG zuerkannt. Das Berufungsgericht hat auf Antrag des Bundesbeauftragten die
Berufung gegen dieses Urteil zugelassen und der Klägerin mit Anhörungsschreiben
nach § 130 a VwGO mitgeteilt, dass es die Berufung einstimmig für begründet und
eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich halte. Die streitentscheidende Tat-
sachenfrage, ob im Kosovo die zur Behandlung eines Diabetes mellitus erforderli-
chen Medikamente, gegebenenfalls auch kostenfrei, erhältlich seien, dürfte nach der
aktuellen Auskunftslage zu bejahen sein. Die Prozessbevollmächtigten der Klägerin
haben daraufhin mit Schriftsatz vom 5. Juli 2004 geltend gemacht, der Sachverhalt
sei nicht ausreichend geklärt. Die Klägerin sei auf das Insulinpräparat "Insuman
comb 25" zwingend angewiesen und könne nicht auf andere Insulinpräparate aus-
weichen. Ein entsprechendes ärztliches Attest sei zum Nachweis beigefügt. Nach
dem aktuellen Erkenntnisstand stehe dieses Insulinpräparat im Kosovo aber gerade
nicht zur Verfügung. Das Berufungsgericht hat hierzu in seiner klageabweisenden
Entscheidung ausgeführt, es sei nicht ersichtlich, dass die Klägerin auf ein spezielles
Medikament angewiesen wäre, das im Kosovo nicht verfügbar sei. Denn entgegen
ihrer Darstellung habe der behandelnde Arzt nicht bescheinigt, dass das ihr ver-
schriebene Insulinpräparat allein geeignet wäre. Es sei daher anzunehmen, dass die
Klägerin auf ein geeignetes Alternativmedikament ausweichen könnte, wenn sich
dies wegen der Versorgungslage als erforderlich erweisen würde (BA S. 5).
Nach seinen eigenen Ausführungen war für das Berufungsgericht die Frage, ob die
Klägerin auf das ihr verschriebene spezielle Medikament zur Behandlung ihrer Dia-
beteserkrankung angewiesen ist oder auf geeignete Alternativmedikamente verwie-
sen werden kann, entscheidungserheblich. Diese medizinische Frage, für die das
Berufungsgericht selbst nicht ausreichend sachkundig war, konnte es aber nicht oh-
ne weitere Aufklärung (etwa durch Nachfrage bei dem behandelnden Arzt oder ge-
gebenenfalls auch durch Einholung eines Sachverständigengutachtens) entscheiden.
Dem Gericht hätte sich deshalb eine weitere Sachaufklärung auch ohne aus-
drücklichen Beweisantrag der Prozessbevollmächtigten der Klägerin von Amts we-
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gen aufdrängen müssen. Etwas anderes ergibt sich hier auch nicht aus dem vom
Berufungsgericht hervorgehobenen Umstand, dass auch das mit Schriftsatz vom
5. Juli 2004 eingereichte neue Attest - entgegen der Behauptung ihres Prozessbe-
vollmächtigten - nichts darüber aussagte, ob die Klägerin tatsächlich auf das Präpa-
rat "Insuman comb 25" angewiesen ist. Denn der umgekehrte Schluss, dass es für
die Klägerin geeignete Alternativmedikamente gebe, konnte aus den vorgelegten
Attesten ebenfalls nicht gezogen werden. Allerdings findet nach ständiger Recht-
sprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Pflicht der Gerichte zur Aufklärung
ihre Grenze dort, wo das Klagevorbringen keinen tatsächlichen Anlass zu weiterer
Sachaufklärung bietet (Urteil vom 22. März 1983 - BVerwG 9 C 68.81 - Buchholz
402.24 § 28 AuslG Nr. 44). Dies ist etwa bei einem unschlüssigen oder aus der Luft
gegriffenen Vorbringen des Asylbewerbers der Fall. Im Übrigen trifft den Asylbewer-
ber grundsätzlich keine Beweisführungspflicht (vgl. Urteil vom 29. Juni 1999
- BVerwG 9 C 36.98 - BVerwGE 109, 174). Dass das Vorbringen der Klägerin, sie sei
zwingend auf das Insulinpräparat "Insuman comb 25" angewiesen, unschlüssig oder
aus der Luft gegriffen wäre, hat das Berufungsgericht selbst nicht angenommen und
ist auch sonst nicht erkennbar. Dass die Klägerin nicht bereits im Berufungsverfahren
das nunmehr mit der Nichtzulassungsbeschwerde vorgelegte Attest eingereicht hat,
mit dem ihr das behauptete Angewiesensein auf dieses Medikament ausdrücklich
bescheinigt wird, entband das Gericht nicht von seiner Aufklärungspflicht, zumal es
die Klägerin hierzu nicht aufgefordert hatte.
Da nicht auszuschließen ist, dass das Berufungsgericht bei weiterer Sachaufklärung
zu einer anderen Beurteilung der der Klägerin bei einer Rückkehr in den Kosovo dro-
henden Gefahr gelangt wäre, kann die Entscheidung auf diesem Verfahrensmangel
beruhen. Auf den weiteren von der Beschwerde geltend gemachten Zulassungs-
grund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO)
kommt es danach nicht an. Der Senat bemerkt gleichwohl, dass dieser Zulassungs-
grund nicht ordnungsgemäß dargetan ist. Denn mit der Frage, "ob Angehörige der
Volksgruppe der Roma im Kosovo angesichts der pogromartigen Ausschreitungen
am 17./18. März 2004 überhaupt Zugang zu der ärztlichen Versorgung im Kosovo
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haben", wirft die Beschwerde nicht - wie erforderlich - eine Rechtsfrage, sondern eine
Tatsachenfrage auf. Derartige Fragen sind allein von den Tatsachengerichten zu
beantworten und einer Klärung im Revisionsverfahren nicht zugänglich.
Prof. Dr. Dörig Richter Beck