Urteil des BVerwG vom 04.04.2003

Hauptsache, Rüge, Ausreise, Anhörung

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BESCHLUSS
BVerwG 1 B 173.02
OVG 9 A 4145/98.A
In der Verwaltungsstreitsache
- 2 -
hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 4. April 2003
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts
E c k e r t z - H ö f e r , die Richterin am Bundes-
verwaltungsgericht B e c k und den Richter am Bundes-
verwaltungsgericht Prof. Dr. D ö r i g
beschlossen:
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für
das Land Nordrhein-Westfalen vom 8. März 2002
wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung
und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht
zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten in der Haupt-
sache bleibt der Schlussentscheidung vorbehal-
ten.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwer-
deverfahrens folgt der vorbehaltenen Kostenent-
scheidung in der Hauptsache.
G r ü n d e :
Die Beschwerde hat mit der unter Punkt G der Beschwerdebegrün-
dung erhobenen Verfahrensrüge nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO Er-
folg. Sie beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht
nicht ohne eine weitere Aufklärung des Sachverhalts durch Be-
fragung des Klägers in der Sache hätte entscheiden dürfen
(§ 86 Abs. 1 VwGO). Darin liegt zugleich eine von der Be-
schwerde sinngemäß ebenfalls geltend gemachte Verletzung des
rechtlichen Gehörs des Klägers (Art. 103 Abs. 1 GG). Wegen
dieser Verfahrensmängel, auf denen die Entscheidung beruhen
kann, weist der Senat gemäß § 133 Abs. 6 VwGO im Interesse der
Verfahrensbeschleunigung die Sache unter Aufhebung des ange-
fochtenen Beschlusses an das Berufungsgericht zurück.
- 3 -
Das Berufungsgericht hat die Prozessbevollmächtigten des Klä-
gers in der Anhörungsmitteilung zum vereinfachten Berufungs-
verfahren nach § 130 a VwGO auf seine Rechtsprechung zum Be-
stehen einer inländischen Fluchtalternative für irakische
Asylbewerber im Nordirak auch im Falle einer assyrischen
Volkszugehörigkeit hingewiesen und sie unter Fristsetzung zur
abschließenden Angabe von Tatsachen und Beweismitteln u.a. zum
Bestehen einer inländischen Fluchtalternative aufgefordert.
Die Prozessbevollmächtigte des Klägers hat daraufhin mit
Schriftsatz vom 23. Februar 2002 der Entscheidung im verein-
fachten Berufungsverfahren widersprochen und u.a. geltend ge-
macht, dass eine inländische Fluchtalternative für den Kläger
im Nordirak auch mangels Gewährleistung des wirtschaftlichen
Existenzminimums nicht bestehe, weil er nicht aus diesem Ge-
biet, sondern aus Bagdad stamme und im Nordirak keine Verwand-
ten habe. Obwohl nach Auffassung des Berufungsgerichts die
Existenz von Verwandten im Nordirak für die Verweisung auf ei-
ne inländische Fluchtalternative und damit für die Verneinung
des Asylanspruchs des Klägers entscheidungserheblich war (BA
S. 12), hat das Berufungsgericht dieses neue Vorbringen des
Klägers nicht für beachtlich gehalten. Es ist in seiner Ent-
scheidung vielmehr von der Existenz von Verwandten im Nordirak
ausgegangen, weil der Kläger bei seiner Anhörung im Verwal-
tungsverfahren angegeben habe, sich zu Beginn der Ausreise im
Jahre 1995 vor der Weiterfahrt in die Türkei (für einige Tage)
bei Verwandten in Dohuk aufgehalten zu haben. Dies entziehe
der von der Prozessbevollmächtigten des Klägers im Berufungs-
verfahren aufgestellten bloßen Behauptung die Grundlage (BA
S. 13). Damit hat das Berufungsgericht sowohl seine Pflicht
zur Sachaufklärung als auch den Anspruch des Klägers auf Ge-
währung rechtlichen Gehörs verletzt. Es hätte auf das Vorbrin-
gen des Klägers im Schriftsatz vom 23. Februar 2002 diesen
entweder in einer mündlichen Verhandlung hierzu persönlich an-
hören oder ihm zumindest unter Hinweis auf den aus Sicht des
Gerichts bestehenden Widerspruch zu seinem früheren Vorbringen
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Gelegenheit zur weiteren schriftlichen Äußerung geben müssen.
Jedenfalls durfte es unter den gegebenen Umständen nicht - wie
geschehen - dieses Vorbringen des Klägers ohne weiteres als
unglaubhaft ansehen, zumal es schon wegen der inzwischen ver-
strichenen Zeit nicht denknotwendig in unauflöslichem Wider-
spruch zu seinen früheren Angaben über den Ablauf seiner Aus-
reise aus dem Irak stand (vgl. auch Beschluss vom 11. Juni
2002 - BVerwG 1 B 37.02 - m.w.N., AuAS 2002, 263).
Da nicht auszuschließen ist, dass das Berufungsgericht bei ei-
ner Anhörung des Klägers zu einer anderen Beurteilung der
Existenzmöglichkeiten des Klägers im Nordirak gekommen wäre,
kann die Entscheidung auf diesen Verfahrensmängeln beruhen.
Auf die von der Beschwerde weiter geltend gemachten Revisions-
zulassungsgründe kommt es deshalb nicht mehr entscheidend an.
Der Senat bemerkt gleichwohl, dass diese Rügen voraussichtlich
nicht zum Erfolg der Beschwerde geführt hätten. Die Beschwerde
hat weder dargelegt, inwiefern die Ablehnung des Beweisantrags
zur Verfolgung assyrischer Christen im Zentralirak wegen feh-
lender Entscheidungserheblichkeit im Prozessrecht keine Stütze
finden und damit das rechtliche Gehör des Klägers verletzen
soll, noch zeigt sie auf, inwiefern angesichts des Hinweises
in der Anhörungsmitteilung des Berufungsgerichts zu § 130 a
VwGO das Abstellen auf die inländische Fluchtalternative im
Nordirak für den Kläger überraschend gewesen sein soll. Die
Beschwerde verkennt bei ihren Ausführungen insbesondere, dass
das Berufungsgericht bei der Prüfung des Asylanspruchs nach
Art. 16 a GG weder durch die bestandskräftig gewordene Zuer-
kennung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG noch
durch den Beschluss über die Zulassung der Berufung inhaltlich
in irgendeiner Weise gebunden ist. Deshalb ist - von anderem
abgesehen - auch die Rüge eines Verfahrensmangels nach § 138
Nr. 5 VwGO nicht schlüssig erhoben. Die Rüge der mangelhaften
Urteilsgründe nach § 138 Nr. 6 VwGO sowie die weiteren Aufklä-
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rungsrügen in Bezug auf die Erreichbarkeit des Nordirak für
den Kläger und die Gefährdung assyrischer Christen im Nordirak
genügen ebenfalls nicht den Darlegungsanforderungen des § 133
Abs. 3 Satz 3 VwGO.
Eckertz-Höfer
Beck
Prof. Dr. Dörig